Kollektive Vergessenheit oder Raum als Ausdruck des Bewusstseins des Künstlers? Karol Broniatowskis Skulptur fotografisch dokumentiert von Marian Stefanowski
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Karol Broniatowski verlieh seiner Arbeit keine epischen Züge, die für solche Projekte so charakteristisch sind, und er hat sie auch nicht als dekorative Kunst inszeniert, sondern er wählte einen asketischen, reduktionistischen Stil. Aus der räumlichen Struktur des stummen Zeugen der Ereignisse, einem 20 Meter langen rohen Betonblock, der dort vorgefunden wurde, wo einst die Deportierten die Bahnrampe erreichten, hob er scharfe, dreidimensionale Silhouetten von Menschen heraus, die auf die andere Seite schreiten. Oder sind es vielleicht Schatten? Oder gar nur Spuren von Schatten? Auf jeden Fall sind es Menschen, denen ihre Sichtbarkeit genommen ist.
Mit dem Mahnmal der Deportierten schuf der Bildhauer eine Metapher für die Offenbarung der destruktiven Kraft der Geschichte, in dem er einen Negativabdruck wählte und die Untertreibung als Form der Wiederherstellung der aus der Erinnerung verdrängten Orte einkalkulierte. Die Fertigstellung des Mahnmals fand 1991 statt. Seit dieser Zeit fügt sich das Monument in das Stadtbild der Metropole ein, als eine dem Betrachter überlassene Nachricht: Leere bleibt Leere. Um ein neues Weltbild zu schaffen, bedarf es einer Anstrengung.
In den 90er Jahren wurde die Kunst von Skulpturen und Installationen dominiert. Piotr Rypson erklärt dieses Phänomen mit dem Bedürfnis kritischer Künstler nach der Erfahrung des „realen” Raums. Wenn wir also die Kunst als Tiegel betrachten, in dem sich alles vermischt und alles verschmilzt, in dem der Versuch, die Intimität von der öffentlichen Meinung sowie das Wissen von der Sensibilität zu trennen, aussichtlos ist, sollte die deklarierte Realität als anzustrebendes Bewusstsein des Künstlers für den sozialen Raum verstanden werden. Broniatowski hat den Raum, in den er sein Kunstwerk setzte, das auf der visuellen Ebene nichts von der vergangenen Wirklichkeit enthält und dadurch suggestiv vom Schicksal der Menschen berichtet, als Möglichkeit zu einem Dialog betrachtet, der gesellschaftliche Prozesse einleiten kann. Denkmäler bzw. Gedenkstätten sind zweifellos eine Form öffentlicher Kunst, deren edukative Aufgabe nicht überschätzt werden kann. Solche Beispiele überleben bis in die heutige Zeit, in der moderne Techniken visueller Persuasion zu einer Verdichtung aller Arten von Überlieferungen führen und die Kunst immer weniger sichtbar oder, wen man so will, mehr in das Leben eingebunden ist. Nur ein paar Schritte weiter von dem letzten Weg zur Rampe, den Broniatowski in Szene gesetzt hat, wurde ein von der Nachlassverwalterin der Deutschen Reichsbahn gestiftetes Mahnmal für die deportierten Juden Berlins, besser bekannt als Gleis 17, errichtet. Die Autoren Nicholas Hirsch, Wolfgang Lorch und Andrea Wande haben ihr Projekt auf dem ehemaligen Verladegleis umgesetzt, indem sie auf 186 gusseisernen Bahnschwellen die Daten, Bestimmungsorte und die Opferzahlen der jeweiligen Transporte eingravieren ließen.
Toblers erstes Gesetz der Geographie besagt, dass alles miteinander verbunden ist, doch Dinge, die nahe beieinander sind, hängen mehr zusammen als Dinge, die weiter auseinanderliegen. Dabei sollte getreu dem Motto „weniger heißt mehr“ zwischen dem physischen Raum und der Architektur eines Kunstwerks eine gesunde Balance bestehen; die Wahrnehmung des Außerachtgelassenen ist wichtig, nur möglicherweise „ist das Wichtigste für das bloße Auge unsichtbar.”[3]
Die fotografische Dokumentation ist eine wichtige Ergänzung des bildhauerischen Schaffens von Karol Broniatowski. Marian Stefanowski gehört zu den Fotografen, für die der Inhalt eines Bilds in Anbetracht seiner metaphorischen Botschaft unter bestimmten Voraussetzungen zweitrangig ist. Die fotografische Dokumentation des Mahnmals für die deportierten Juden Berlins, deren didaktische „Poetik“ einer Reportage gleicht, bekräftigt den künstlerischen Gestus des Künstlers.
Die moralischen Dilemmata lassen sich auf verschiedene Art und Weise lösen, da jedes Kunstwerk, das auf emotionale Stereotype verzichtet, ein suggestives Informationsmodul in sich trägt. Die fotografische Reportage hat sich schon lange dahingehend weiterentwickelt, dass ihr ursprünglicher Anspruch, lediglich Dokument und Informationsquelle zu sein, verloren gegangen ist. Den dokumentarischen Fotografien von Marian Stefanowski fehlt es nicht an Deutlichkeit.
Indem der Fotograf den Fokus des Betrachters auf die komplizierten, neuen und individuellen Wahrnehmungswelten lenkt, zwingt er ihn zu voller Aufmerksamkeit. Es reicht, sich das Bild genau anzuschauen und es zu analysieren, um festzustellen, dass die Fotografie, die Wirklichkeit wiedergibt, unser Sehen auf bestimmte Weise verändert. Wir wissen nicht, ob sich der Bildhauer mit seinem Betonmonument auf die Klagemauer, auf ihren Schrei nach Gerechtigkeit bezog. Oder vielleicht auf die Finsternis des Schicksals, die Apocalipsis cum figuris? Allerdings ermächtigt die Art und Weise, in der das Monument fotografiert wurde, den Betrachter dazu, die Welt auch so zu betrachten, wie der Künstler es ihm vorschlägt. Ist der Fotograf in diesem Fall ein „Diagnostiker“ oder nur ein aufmerksamer Dokumentar? In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts bedienten sich die konzeptuellen „Metro Pictures“-Fotografen in Amerika ihres Mediums zur gesellschaftlichen und politischen Kritik: Sie stellten die avantgardistischen Strategien eines originären Kunstwerks durch Fotografieren und „Refotografieren“ in Frage. Im Falle des Künstlerpaars Broniatowski und Stefanowski haben wir es mit einem Gegenphänomen zu tun: mit der Bestätigung und der Illustration der Idee. Serien aus dutzenden Bildern, die sich zu einer filmischen Erzählung entwickeln, die zugleich hermetisch und in all ihren Fragmenten zugänglich ist, ist für den Dokumentarfotografen eine ebenso interessante Ausdrucksform wie die klassische Fotografie. Indem er sich für diesen Ansatz entschied, betrat er mutig das (verminte) Gebiet des Journalismus: die Bildserien ließen eine simultane Vision, ein komplexes Problembild, sowie zugleich, eine metaphorische Übermittlung der Inhalte zu, ohne in Sensationshascherei zu verfallen. Die fotografischen Arbeiten von Stefanowski erfüllen damit die notwendigen Nutzfunktionen, behaupten sich jedoch immer wieder als reflektierende, nachdenkliche und distanzierte künstlerische Fotografien.
In Zeiten gespaltener Identitäten ist die Fähigkeit des Menschen zur Synthese und zum analytischen Denken, das von stereotypen Interpretationen der Vergangenheit befreit, von größter Bedeutung. Wenn sich die Träume von einem gemeinsamen Europa in Alpträume verwandeln, sollten sowohl die Kunst als auch der Journalismus viel für die Verbreitung unbequemer historischer Wahrheiten tun.
Die Konsequenzen des Holocaust tragen wir alle.
Magda Potorska, September 2019
Literatur:
Eine zusätzliche Anregung beim Verfassen des Textes stellte für mich die Lektüre der regelmäßig erscheinenden Artikel in der Wochenzeitschrift „Tygodnik Powszechny” dar, insbesondere der Grundsatzartikel von Professor Jan Błoński unter dem Titel „Biedni Polacy patrzą na getto” [Arme Polen schauen auf das Ghetto] (Tygodnik Powszechny 2/1987).
Wertvolle Hinweise und Informationen verdanke ich den Publikationen des Aktiven Museums.
[3] Wir haben das Jahr 2019 und mittlerweile hat Berlin ihre „Hausaufgaben gemacht”. Weltbekannte Künstler haben viele wundervolle Gedenkstätten erschaffen. Die lange und turbulente Geschichte ihrer Entstehung hat aber auch ihre… Gegenwart. Interessant wäre zum Beispiel die Rolle der Deutschen Bahn im Hinblick auf die Wanderausstellung „Zug der Erinnerung “ zu beleuchten. Dies würde jedoch den Rahmen dieses Textes sprengen.