Andrzej Nowacki. Erkundung des Quadrats
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Einstieg
Ein weißes Quadrat scheint über der schwarzen, ebenfalls quadratischen Grundfläche zu schweben. Darüber, angehalten in ihrer Bewegung, drei Linien in Schwarz, die nicht genau parallel vom linken Rand nach oben rechts steigen. Drei greifbare Linien, dargestellt reliefartig durch die Körperlichkeit der Holzleisten. Es ist, als sehnten sie sich nach einer Begegnung, die nie stattfinden kann, da es jenseits des Quadrats nichts mehr gibt. Sie beunruhigen und wirken doch harmonisch, sie schweigen schwarz in der weißen Umgebung.
Das Jahr 1987, Westberlin, eine der ersten Ausstellungen von Andrzej Nowacki. Indes hat sich seine Kunst wesentlich verändert, doch der Weg von jenen Anfängen bis zu heutigen Werken lässt sich nachvollziehen. Die Entwicklung verlief nicht einfach linear, einzelne Phasen greifen ineinander, wechseln ab, inspirieren sich in gewissem Sinne gegenseitig. Wiederzuerkennen sind aber einige konstante, unverkennbare Merkmale: emotionsgeladene Expressivität kontrapunktiert durch strenge, abstrakte Sprache der Geometrie sowie die bevorzugte Form: das Relief, ein dreidimensionales, räumliches Bild. Im Quadrat.
Lebenswege 1
Der Geburtsort ist scheinbar unbedeutend: eine kleine Provinzstadt im polnischen Süden. Es fiele schwer zu entdecken, in wie weit sie die weiteren Lebenswege bestimmte. Die Gegend gehörte einst zum legendären, untergegangenen Galizien, einem Landstrich der K.-und-K.-Monarchie, mit ihrer unverwechselbaren, multikulturellen Geschichte, deren alter Mythos bis heute in der nun polnischen Region zu spüren ist. Aber jeder Provinz wohnt auch eine Zentrifugalkraft inne, die in die weite Welt herauszuschleudern vermag.
Wichtig war die Nähe von Krakau, einem Kultur- und Kunstzentrum, einem Ort, der zu einer Öffnung und kultureller Sensibilität beitrug. Dort verkehrte der künftige Künstler hauptsächlich im Kreis von Studenten der Akademie und Künstlern. In den 1970er Jahren kamen erste Auslandsreisen: nach Schweden, Deutschland und Österreich, mit denen weitere Studienjahre einhergingen.
Annäherungen an die aktive Kunsttätigkeit verliefen stufenweise und hingen zweifellos mit Menschen zusammen, denen er begegnete, wie der verkannte polnische Künstler Marian Kruczek (Abb. 01) mit seiner exzentrischen, kreativen Persönlichkeit oder der großer Geometriker Henryk Stażewski (Abb. 02). Ende der 1970er Jahre gelangte Nowacki nach Westdeutschland und ließ sich schließlich in Westberlin nieder. Bis die Zeit der künstlerischen Initiation kam, arbeitete er eine Weile als Experte und Berater in Sachen Kunst. Mitte der 1980er begann er zu malen, kurz darauf entstanden seine ersten Reliefs, 1987 kam die Debütausstellung.
Raum 1: Geometrie: tanzend und kontemplativ
Anfangs schuf er unter dem Eindruck von Bildern des polnischen Meisters der geometrischen Kunst, Henryk Stażewski. Heute erzählt er darüber: „Die Faszination, die ich damals erlebte, lässt sich kaum ausdrücken. Entscheidend war die Atmosphäre von Harmonie, Ruhe und Ordnung, nicht nur in diesem Menschen, sondern vor allem in seinen Bildern. Spürbar war der Inhalt von Stażewskis Malerei: Einführung von Ordnung in das Chaos. […] Und für mich, der ich nach einer inneren Ordnung in meinem Leben suchte, hatten diese geometrisch gestalteten Bilder eine besondere Bedeutung, waren wie eine Art Refugium. Hinzu kam es, dass die geordnete Bildfläche unglaublich viel Energie bündelte. Hier lag der Ursprung der Inspiration für mein eigenes Schaffen.”[1]
Alles beginnt mit dem Quadrat. Diese perfekte geometrische Form verkörpert zum einen Harmonie und Ausgewogenheit, zum anderen bietet sie einen begrenzten, scheinbar ruhigen und sicheren Schauplatz für allerlei malerisches Geschehen. Doch die festen Grenzen schließen nicht ein, sondern locken eher an, sie zu durchbrechen, über sie hinauszugelangen, ohne dabei die harmonische Ordnung zu zerstören. In diesem Sinne experimentiert Andrzej Nowacki in seiner ersten Schaffensperiode. Die einfachsten geometrischen Figuren, aus Holzplatten ausgeschnitten, bebauen in gewisser Freiheit die quadratische Grundfläche: eine Vielfalt von kleineren und größeren Quadraten und Kreisen, die manchmal halbiert oder gebrochen erscheinen, von Linien, die das Bild zerschneiden oder sich als leere Rahmen verselbstständigen. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen diesen scheinbar bewegten Figuren bestimmen die innere Dynamik der Bilder, verstärkt durch immer freizügigeren Einsatz von Farben. Der Künstler verwendet dabei Acrylfarben, die er selbst mischt, so dass eine einzigartige Palette entsteht. Die Welt seiner damaligen Quadrate wird von einem Zusammenspiel von Formen und Farben geprägt, wobei beide Elemente gleichberechtigt sind und manchmal ihre Rollen wechseln: die Farbe wird zur Form, die Form zur Farbe. (Abb. 03, 04, 05, 06)
1992 schrieb der Kunsthistoriker und Kurator Hubertus Gaßner im Katalog zur Nowackis ersten Ausstellung in Krakau: „Das Zusammenwirken von Gebundenheit und Freiheit, Stabilität und Labilität, Ruhe und Schwankungen verleiht […] den Reliefs von Andrzej Nowacki den Grundtenor kontemplativer Gespanntheit. Von Leisten in rechte Winkel gefasst, liegt das pulsierende Herz im Inneren dennoch nicht in Ketten. Der Herzschlag bringt die Quadrate zum Tanzen. Sein Sinn: die Beseelung des Geometrischen, zur rückwirkenden Klärung des unübersichtlichen Seelenlebens. Um Ordnung ins Chaos der Seele zu bringen, führt der Künstler ein heilsames Chaos ein in die streng geordnete Geometrie der Quadrate. Ein auch therapeutischer Schaffensakt. Sein Tanzboden: das Quadrat, die ausgeglichenste aller Formen. Dann, im Schaffensvorgang, gerät das zunächst entspannt in sich ruhende Feld in Bewegung. Doch nicht die Formen tanzen im Rahmen, der Rahmen selbst setzt sich in Bewegung, fächert sich auf, vervielfältigt sich gleichsam wie Nachbilder im Auge bei Bewegungseindrücken.“[2]
Die Variationen jener Formen-und-Farben-Spiele scheinen sich ins Unendliche zu entwickeln. Sie wirken sehr emotionsgeladen, expressiv, und jedes Relief scheint seine eigene Geschichte zu verkörpern. Fast jede Arbeit dieser Phase wird mit einem poetischen Titel versehen, als wollte der Künstler sich noch einmal ausdrücklich von den kühlen Prinzipien der Geometriesprache distanzieren, über sie hinausgehen und die lyrischen Inhalte des Bildes zutage fördern.
[1] Andrzej Nowacki im Gespräch mit der Autorin, Berlin, Juli 2018.
[2] Hubertus Gaßner, Auf Stelzen tanzend, in: Ausstellungskatalog, Andrzej Nowacki, Kraków 1992.
Raum 2: Lyrik der Farben
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zeichnet sich allmählich eine wesentliche Veränderung im Inneren des Reliefs ab. Die Vielfalt der tanzenden Figuren auf der quadratischen Bildfläche wird reduzierter, der pulsierende Rhythmus ruhiger, die Farben wirken oft samtweich und gedämpft. Mit der Zeit weicht die diagonale Ausrichtung einer senkrecht angelegten Ordnung, als richteten sich die Reliefs innerlich auf. Das Geschehen konzentriert sich nach und nach um die vertikale Mittelachse – ein neues und wichtiges Element des Bildaufbaus. Parallel gebündelt durchziehen senkrechte, seltener waagerechte, Linien das Quadrat. Von den geometrischen Formen bleibt lediglich das verkleinerte, zuweilen geradezu miniaturisierte Quadrat (seltener ein Kreis), als wäre es zu einem dezenten Punkt, ja zu einem Farbtupfer zusammengeschrumpft. (Abb. 07, 08, 09, 10, 11) Die Bilder werden auch nicht mehr betitelt; als eine Art Signatur bekommen sie das jeweilige Datum. Sie seien wie Blätter aus einem Tagebuch, die die momentane emotionale Lage und den Verdichtungsgrad der Energie festhalten, meint der Künstler. So verfährt er konsequent bis heute.
Im Katalog zur zweiten Krakauer Ausstellung 2002 heißt es: „Nowacki vertraut auf Intuition. Er fühlt sich frei, was paradoxerweise mit der fast radikalen Reduzierung von Formen und Farben einhergeht. Nun ändert sich auch die Rolle der Holzleisten, die auf die Bildfläche gelegt werden. Sie grenzen die Farbfelder voneinander nicht mehr ab, sondern werden – vor dem monochromen Hintergrund situiert und unabhängig geworden – allmählich zum wichtigsten Element der Bildkomposition.“[3] Im nächsten Katalog, ein Jahr später, lesen wir: „Bei aller Beschränkung des Formenrepertoires auf zwei Grundelemente, das Quadrat und die vertikale gerade Linie, erzeugt die Verbindung der beiden aus ihnen gebildeten konträren Symmetrieformen eine bildimmanente Spannung und Bewegtheit, die sich dem Betrachter über die Empfindung seiner eigenen Körpersymmetrie und körperlichen Bewegungswahrnehmung erschließt. Vor allem die 2001 entstandenen Reliefs mit optisch ausgeprägter, ja dominierender Mittelachse folgen der bilateralen Symmetrie des menschlichen Körperbaus. Indem sie diese Symmetrieachse dem Quadrat einbeschreiben, erzeugen sie auf abstrakte Weise denselben Eindruck wie Leonardo da Vincis berühmte Proportionsskizze des menschlichen Körpers, den er einem punktsymmetrisch angelegten Kreis und Quadrat eingezeichnet hat.“[4]
[3] Bożena Kowalska, Andrzeja Nowackiego geometria sterowana emocją, in: Ausstellungskatalog, Andrzej Nowacki, Po drugiej stronie kwadratu, Międzynarodowe Centrum Kultury, Kraków 2002.
[4] Hubertus Gaßner, Rhythmus und Resonanz, in: Ausstellungskatalog, Andrzej Nowacki, Im Quadrat. Die inneren Klänge einer geometrischen Welt, Rochow Museum, Reckahn 2003, S. 10.
Raum 3: Streifenbilder
Langsam verdichten sich die vertikalen Linien, gewinnen mehr und mehr Raum, bis schließlich die Grundfläche, befreit von der früheren Dynamik von Farben und Formen, restlos von senkrechten Geraden eingenommen wird. Durch höhere und niedrigere Holzleisten und deren Intervallen dargestellt bilden sie ausschließlich durch ihre Farbigkeit eine strahlende Aura. Die Zahl der Farben ist begrenzt, sie wiederholen sich in bestimmten, vom Künstler festgelegten Rhythmen. Von keinem Rahmen, ja nicht einmal durch einen Hintergrund begrenzt, wird die Relieffläche selbst zum Bild. Eine Symmetrieachse gibt es auch nicht, auch wenn es sich um eine vorläufige Abwesenheit handelt. (Abb. 12, 13, 13a, 14, 15, 16, 17, 18, 19)
Natürlich erinnern diese Bilder an eine bestimmte Periode im Schaffen der britischen Malerin Bridget Riley, und der Künstler bestreitet auch diese Inspirationsquelle nicht. Das erste Jahrzehnt der 2000er Jahre zeigt aber deutlich seine eigene Entwicklung und seinen individuellen Weg. Dazu Hubertus Gaßner: „Die jetzt entstehenden Streifenbilder haben sich ganz von den Kompositionsprinzipen der geometrischen Abstraktion gelöst, wie sie z.B. von den Polen Strzemiński und Stażewski vertreten wurde. Sie wechseln in die reiche Tradition gestreifter Bilder und Reliefs über, die unter anderem durch Raphael Soto, François Morellet und Bridget Riley, durch Agnes Martin, Frank Stella und Jean Scully seit den 1950er Jahren gebildet wurde. Gemeinsam mit den Streifenbildern dieser Künstler haben die letzten Reliefs von Nowacki die Beschränkung der Komposition auf einfachste Elemente und Formen zugunsten einer Aufwertung der Farbigkeit. Die Farbe als Ausdrucksträger von Gefühlen und Emotionen hat nun die Oberhand über die vormals komplexen und dominanten Kompositionen aus Quadraten und Linien gewonnen.“[5]
Die Farben in Nowackis Quadraten sind eigensinnig, launisch, zuweilen trotzig. So wie der große Meister der Farbkompositionen, Josef Albers, einmal sagte: „Die Farbe folgt genau wie der Mensch zwei verschiedenen Verhaltensweisen: zunächst die Selbstverwirklichung, dann die Herstellung der Beziehungen zu anderen.“ Beteiligen sie sich an einem Zusammenspiel, dann leben sie in Kontrasten und Harmonien, in Streit und Einvernehmen. Sie verlieren ihre Eigenständigkeit, verweben sich in das farbige Liniengefüge. Der Künstler selbst meint: „Der Grundwert meines künstlerischen Schaffens ist die Farbe. Sie ergänzt, ja ersetzt das Licht. Im Dialog mit dem Betrachter bildet sie Wörter einer unbewussten Sprache und wird zur Energiequelle.“
Ein wesentliches Merkmal dieser Reliefs ist ihre sinnliche, greifbare, räumliche Beschaffenheit, die durch das hölzerne Gefüge entsteht. Als erstes wird die leere Fläche der quadratischen Faserplatte vertikal von dünnen Holzlatten überzogen, so dass ein Gerüst entsteht. Das rohe Holz ist hell, warm, noch vom Geruch und Gedächtnis des lebenden Baums durchtränkt. Alles beginnt also mit der Auseinandersetzung mit der Materie, die es so zu bändigen gilt, dass sie zu einem empfindsamen Träger der Kunst wird. Zuweilen kommt eine neue Dynamik in das parallel gestreifte Feld des Reliefs: Die Holzleisten verlaufen bogenartig oder werden im Zick-Zack-Rhythmus gebrochen, auf mehreren Ebenen deuten sie verborgene geometrische Formen an. Das Gerüst beeinflusst von Anfang an den künftigen Dialog der Farben und gestaltet die imaginär vertiefte Räumlichkeit mit.
In der komplexen Struktur zeigt sich eine Ahnung der Form, wie eine Chiffre in der Sprache der linienartigen Holzleisten. Ohne Farben klingen die Rhythmen noch hölzern, die Umrisse der Figuren bleiben vage und verschwommen, die horizontalen Streifenverläufe verlieren sich in der senkrechten Ordnung. Erst die Farben werden all die Funktionen von Schrägen, von diagonalen Linien, von höheren und niedrigeren Latten sowie all ihre bestimmten oder nur erahnten Aufgaben im Ganzen des Bildes deuten. Die vertikale Ordnung ist vorherrschend, und man weiß noch nicht, ob sie für das Geerdet-Sein steht oder umgekehrt die Überwindung der Schwerkraft verheißt. Vielleicht beides.
Nicht zuletzt deswegen hat diese erste Etappe im Werden eines Reliefs eine grundlegende Bedeutung, auch wenn die mit ihr zusammenhängenden Handlungen eher an Handwerk als Kunst denken lassen. Doch gerade das erdverhaftet und sinnlich anmutende Ergebnis jener Vorarbeit wird die Beschaffenheit des künftigen Bildes für immer prägen. Das Handwerk lässt sich also aus dem Schaffensprozess nicht wegdenken, im Gegenteil: Bereits am Anfang ist es konstitutiv für die Einzigartigkeit Nowackis Reliefbilder und unterscheidet sie eindeutig von Arbeiten anderer Künstler dieses Genres.
[5] Ebenda, S. 12.
Raum 4: Pulsierende Energiefelder
Abermals wird die Symmetrie eingeführt: Es ist die physisch existente oder lediglich erahnte vertikale Mittelachse oder ein ordnendes Zentrum. Obwohl die vertikalen Rhythmen dominieren, schränken sie nicht ein, sie bleiben nur das ordnende Prinzip. Wenn zuvor alle Linien und alle Zwischenräume monochromatisch auf ihren ganzen Längen waren, werden sie nun farblich geteilt oder schattiert, so dass bei der Betrachtung schimmernde Formen hervortreten und die Bilder nicht wie geometrisch geordnete Kompositionen wirken, sondern wie leuchtende und pulsierende Energiefelder. Es ist die symmetrische Ordnung, die in Verbindung mit der Wiederholbarkeit der Rhythmen einen verblüffenden Effekt zutage fördert, als wäre die Komposition lediglich Ausschnitt eines unendlichen Ganzen, das sich jenseits der Bildränder weiterentwickelt. Die Vielzahl der Schichten birgt jene dritte, räumliche Dimension, an deren Rändern eine Tiefe hervorzuschimmern scheint. Die Schwerkraft der illusorischen Formen bedarf keiner Überwindung mehr, schwerelos schweben sie im Raum, dessen Krümmung nun sichtbar wird. Unwillkürlich tauchen wir ein in die Transzendenz. (Abb. 20, 21, 22, 23)
Besonders ausdrucksvolle Kraft entwickeln die Reliefs von radikal reduzierter Farbigkeit, in denen lediglich Variationen von Schwarz und Weiß zusammenspielen. (Abb. 24, 25, 26, 27, 28) So besteht die mehrdimensionale Fläche der Komposition 24.08.15 (Abb. 24) aus symmetrisch geteilten Quadraten, die sich in einer raffinierten Ordnung überlappen und langsam um ihre vertikalen Achsen drehen. An der Oberfläche der Wahrnehmung erscheinen pulsierende Flecke, Kreise oder gar Kugeln, die Energie von höchster Dichte sammeln. Dort, wo sich die Interferenz der Energiewellen vollzieht, taucht für einen Augenblick das vibrierende Zentrum des Universums auf, um einen Moment später in Galaxien dunkler und heller Knoten zu zerfallen.
Einen noch anderen Raum öffnen die großdimensionale mehrteiligen Kompositionen (Abb. 29, 30, 31, 32), wie das Relief 15.01.17 (Abb. 30): Ein klarer, vielschichtiger Zusammenklang von vier Quadraten, die einander durchdringen und auf der Fläche rotieren, wodurch ein lilafarbener Schein entsteht – wie eine Ankündigung des Sakralen. Die farbige Zusammenstellung der Quadrate (goldenes Grün und tiefes, reines Rot) erzeugt eine nahezu greifbare Tiefe und täuscht vor, dass das Bild sich öffnet. Es ist, als beträte man das Innere einer gotischen Kathedrale mit hörbarem Echo der Schritte und einem zum Himmelsgewölbe aufgeschlagenen Blick. Der monumentale Raum schüchtert ein und wirkt erhebend zugleich, vergegenwärtigt die Grenzen des Daseins und hebt sie doch in der Dimension der Unendlichkeit auf.
Es kommt vor, dass die Reliefs sich unwillkürlich zu Paaren verbinden, ohne dass der Künstler ein Diptychon beabsichtigt hätte. (Abb. 33) Spürbar ist ihr tiefes Verhältnis zueinander, ihr Dialog oder eher intimes Gespräch. Eine Art kosmischer Aura bringt sie als zwei eigenständige Wesen zusammen, die von innen her leuchten und mit lyrischer Energie gesättigt sind. Die Flächenaufteilung beider Reliefs bewirkt, dass sie in der Mitte horizontal aufbrechen und einen Eingang in die Tiefe einer anderen Dimension auftun. Der Raum vibriert, zieht ein und kündet die Transzendenz auf der anderen Seite der Quadrate an.
Um einzelne Farbsituationen verfolgen und konkrete visuelle Auswirkungen der Reliefs analysieren zu können, bedarf es eines dynamischen Sehens. Die Voraussetzung dafür ist Bewegung: Man kreist um das Bild, nähert sich ihm und geht auf Distanz, ändert Blickwinkel und Perspektive, lässt das äußere Licht wirken, konzentriert sich auf Details und betrachtet das Ganze, man erliegt der Illusion des Raumes und versucht ihre Quellen innerhalb der Farbenwelt zu erkunden. Erst aus einer gewissen Distanz gesehen erwacht das Relief zum Leben. Und nun kommt das wesentlichste Moment für dessen Wahrnehmung, das heißt die Erfahrung seines Daseins als ein lebendiges pulsierendes Ganzes. Sie kann musikalisch assoziiert werden: Man hört in die Intensität der Farbstimmen hinein, nimmt die Vielfalt von dissonanten Akzenten und kontrapunktischen Formen auf, folgt den farblichen Zusammenklängen und der melodischen Linie. Wie die Musik nicht statisch, sondern zeitbezogen ist, so entwickelt sich auch die Wahrnehmung des Reliefs dynamisch in der Zeit, wobei der Betrachter selbst den zeitlichen Faktor einbringt.
Es ist eine lebendige Begegnung und poetische Interaktion. Die Bilder bloß anzuschauen, scheint unmöglich, sie werden ‚erfahren‘. Eine große Synthese von Wahrnehmungen kommt zuwege, die über das Visuelle hinausgeht, die nicht nur die Sinne, nicht nur die Emotionen und den Intellekt erfasst, sondern auch in eine subtile, schwer beschreibbare Sphäre hineinreicht. Zugleich ist es eine Einladung, einen geheimnisvollen, pulsierenden Raum zu betreten. Die intensive Ausstrahlung der Reliefs Andrzej Nowackis lässt eine unsichtbare Grenze passieren. Vielleicht ist das die Grenze der Erkenntnis, vielleicht hat aber der Maler Jerzy Nowosielski recht, wenn er von der Berührung einer Wirklichkeit „nicht nach unserem Maß“ spricht. Besonders eindrücklich wies darauf Hubertus Gaßner während einer Ausstellungseröffnung hin: „Ohne die Ikonenmalerei wäre die Abstraktion nicht entstanden. Denn die Ikone bildet die Wirklichkeit nicht ab, sondern ist spirituelle Materie. In der orthodoxen Kirche werden die Ikonen herumgetragen und behandelt als materielle, körperliche Objekte. So die Bilder von Andrzej Nowacki auch. Und der Unterschied ist, dass die Ikonen von den Gläubigen geküsst werden, indes ich Sie bitten würde, die Bilder von Nowacki weder anzufassen noch zu küssen. Aber Sie dürfen natürlich vor ihnen niederknien.“[6]
[6] Hubertus Gaßner, Einführung während der Eröffnung der Ausstellung: Andrzej Nowacki, Reliefs. An der Schwelle der Unendlichkeit, Staatliche Kunstgalerie Sopot, Sopot, 23. April 2017.
Raum 5: Quadrat auf Papier
Neben den Reliefs widmet sich Andrzej Nowacki seit Ende der 1990er Jahre einer besonderen Form der momentanen Aufzeichnung: Es sind umfangreiche (von einem Duzend bis zig Blätter) Zyklen von Arbeiten in Pastell und Kohle auf Papier, die er während einiger Stunden schafft. Sie halten einen ungewöhnlichen Energiefluss fest, wobei der Künstler als eine Art Vermittler agiert. Diese papierenen Quadrate vertiefen einen anderen Schaffensbereich. Es fehlt die für die Reliefs so charakteristische markante Farbigkeit der linierten Fläche, sie wird durch eine unerwartete Plastizität des Papiers ersetzt. Die sorgfältigen Linien der Reliefs verschwinden, doch die wankenden Vierecke büßen ihre erkennbare Identität nicht ein, bleiben wie das Thema einer kühnen Improvisation, das in vielen unterschiedlichen und doch erkennbaren Variationen wiederkehrt. Makellos setzt die unfehlbare Intuition Akzente und Kontraste in Schwarz, Weiß und Rot.
Auch hier ist die leidenschaftliche Erkundung der Materie spürbar, derer sich der Künstler bedient, in der er existiert und sich ausdrückt; es ist ebenfalls die Leidenschaft, an die Grenzen der eigenen Ausdruckskraft zu gelangen, die in einem spontanen Schaffensakt, unmittelbarer als in den Reliefs, freigesetzt wird. Diese kleinen Arbeiten spiegeln einen eigensinnigen, außerintellektuellen Erkenntnisprozess wider, der immer wieder von neuem am Begegnungsort von Bildfläche und zeichnender Hand einsetzt. Alles innerhalb des beständigen Quadrats, das einerseits die Grenzen des Experiments absteckt, andererseits die unbeschränkten Möglichkeiten von Suche und Entdeckung ordnet, vergegenwärtigt und aufzeigt. (Abb. 34–41)
Lebenswege 2
Um die Jahrtausendwende lernte Andrzej Nowacki zwei Menschen kennen, die er bis heute als wichtige Bezugspersonen, ja Mentoren und nicht zuletzt als vertraute Freunde bezeichnet: Bożena Kowalska, die unbestritten bedeutendste Kunstkritikerin im Bereich geometrischer Kunst in Polen (Abb. 42) und Heinz Teufel, den berühmten deutschen Galeristen und feinen Kenner der europäischen konkreten Kunst (Abb. 43). Die über viele Jahre hindurch geführten Diskussionen und Auseinandersetzungen mit den beiden profilierten Betrachtern seines Schaffens gaben ihm die Möglichkeit, das künstlerische Bewusstsein zu erweitern und die Kontexte der Gegenwart zu vertiefen. Dank Bożena Kowalska fand er Anschluss an die polnischen Geometrikern (Jerzy Kałucki, Koji Kamoji, Stanisław Fijałkowski, Zbigniew Dłubak, Jerzy Grabowski), beteiligte sich an vielen Workshops und Ausstellungen. Heinz Teufel ermöglichte ihm wiederum Präsenz in den Kreisen von Sammlern und Künstlern in Deutschland (Horst Bartnig, Manfred Mohr, Andreas Brandt, also die zweite Generation der konkreten Kunst in Deutschland). (Abb. 44, 45) Die Freundschaft mit dem Galeristen bot auch die Gelegenheit, mit Werken großer Künstler wie Max Bill, Bridget Riley, Paul Lohse oder Antonio Calderara in Berührung zu kommen – eine Inspirationsquelle, zugleich aber auch eine Art Spiegel für eigene Werke.
Zum Werdegang des Künstlers gehören natürlich die Ausstellungen, so in Berlin, u.a. in der heute nicht mehr existenten Galerie Avantgarde, zusammen mit dem polnischen Plakatkünstler Jan Lenica, mit dem er befreundet war (Abb. 46). Aber auch in Polen, um nur zwei wichtige Schauen in Krakau (1992, 2001) zu erwähnen, in Stettin (1996, 2004) oder Posen. Dann kamen Japan, USA, Deutschland, Schweden – lang ist die Liste der Ausstellungen. Jede bedeutete eine Herausforderung, fast jede war eine Art Abschluss.
Zu erwähnen sind auch die weiten Auslandsreisen: in die USA und nach Japan. Sie bedeuteten neue Erfahrungen und die Konfrontation mit einem anderen Blick auf seine Reliefs. Höchst interessant war die Begegnung mit dem japanischen Publikum, das die „reinen“ Streifenbilder mit gespannter Aufmerksamkeit wahrnahm. Man muss um die Tradition der japanischen gestreiften Stoffe für Kimonos wissen, um den Grund dieses besonderen Interesses verstehen zu können. „Was die geometrischen Muster angeht, nichts gibt das Beziehungshafte so gut wieder wie die parallelen Linien. Indem sie in Richtung Unendlichkeit ziehen und nie zusammentreffen, bedeuten sie die reinste visuelle Objektivierung des Beziehungshaften. [...] Die vertikalen Streifen haben die Leichtigkeit eines Sprühregens oder der Weidenzweige, die alleine durch die Schwerkraft zur Erde neigen“, schrieb ein japanischer Philosoph[7]. Daher war die Rezeption der Reliefbilder in Osaka etwas Einmaliges und Besonderes.
Positiv für den Künstler verliefen auch seine USA-Reisen. Dort begegnete er vielen interessierten Galeristen und Sammlern, er arbeitete und stellte aus. Nun, abgesehen von den mittlerweile unzähligen Privatsammlungen in der ganzen Welt, gehören seine Bilder zu den Beständen etlicher Museen für Gegenwartskunst: in Miami, aber auch in Radom, Chełm, Stettin sowie in Stuttgart oder Ostrava.
Von den vielen Ausstellungen, die Andrzej Nowacki organisierte oder an denen er beteiligt war, soll eine hervorgehoben werden: Es war die Exposition in Sopot, wo Nowacki Reliefs zusammen mit den abstrakten Bildern von Wojciech Fangor präsentiert wurden. Im Ausstellungskatalog schreibt Marta Smolińska: „Die Arbeiten beider Künstler stellen ‚die Dichte‘ der Bildgrenzen in Frage und treten desto intensiver in den Dialog mit dem umgebenden Raum, […] und in Falle einer so seltenen Begegnung auch mit sich selbst. Das unvermeidliche Resultat jener besonderen, perspektivreichen Wechselwirkung sind Emotionen, die in den Gemütern und der Phantasie der Betrachter hervorrufen werden.”[8] Ähnlich wichtig waren auch andere Ausstellungen, so in Bratislava (2015) oder Stuttgart (2017), wo seine Reliefs neben Bilder von großen Meister hingen, etwa von Max Bill, Bridget Riley, Josef Albers, und sich in dem besonderen Dialog von neuem behaupten mussten.
Seit 1984 arbeitet Andrzej Nowacki vorwiegend in Berlin. Eine vorläufige Änderung stellte sich in den Jahren 2015–2016 ein, als er zusätzlich in ein Atelier in Tschechen einzog. Ostrava ist die Heimatstadt von Jan Svetlik, Industrieller, aber auch Kunstliebhaber und Sammler, der dem Künstler renovierte Räume auf dem Gebiet der ehemaligen Vitkovicer Hütte zur Verfügung stellte. (Abb. 47) Hier experimentierte der Künstler mit der reduzierten Farbigkeit der Reliefs in Schwarz und Weiß, hier begann er auch an großformatigen und mehrteiligen Werken zu arbeiten: an Bildern, in denen sich zwei, drei, vier, sechs oder gar neun Elemente zu einem neuartigen Ganzen zusammensetzen.
Ein Höhepunkt der neuesten Schaffensperiode war die großartige Ausstellung, die „An der Schwelle der Unendlichkeit“ hieß und 2017 in Sopot gezeigt wurde. In der Staatlichen Kunstgalerie präsentierte der Künstler über 30 Reliefs, darunter einige mehrteilige, und einen Zyklus von Pastellen auf Papier. Der Raum füllte sich mit vibrierender, leuchtender Energie, die Kontemplation anregte. „Der Rhythmus der Dichtung, der Rhythmus der Malerei, darin ist die Persönlichkeit des Künstlers präsent, aber nicht indem sie etwas über sich erzählt, sondern indem sie durch die Vibration und das Pulsieren wie das Herzklopfen wirkt“, sprach Hubertus Gaßner. (Abb. 48–52).
2018 bezog Andrzej Nowacki ein neues, großes Atelier in Berlin, in dem er bereits viele neue Reliefs, auch die großdimensionalen schuf. Der Raum und die Zeit scheinen ihn zu fördern. (Abb. 29) Doch die Erkundung des Quadrats ist noch nicht abgeschlossen. Der Künstler sucht ständig nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, die der inneren Vorstellung dessen entsprächen, „was gesehen werden kann“ (Riley).
[7] Shūzō Kuki, Struktura iki, übers. von Henryk Lipszyc [aus d. Poln. von d. Autorin], Kraków 2017.
[8] Marta Smolińska, Tętno barwnej wibracji, czyli uwagi o tym, jak prace Fangora i Nowackiego wzajemnie mierzą sobie puls, in: Ausstellungskatalog „Widzieć jasno w zachwyceniu”. Fangor – Nowacki, Staatliche Kunstgalerie Sopot, Sopot 2011.
Zum Abschluss
Die Ursprünge des Schaffens von Andrzej Nowacki könnten im osteuropäischen Konstruktivismus verortet werden, und seine künstlerische Beeinflussung – in der westeuropäischen geometrischen Kunst der Zeit zwischen den Kriegen, in der späteren konkreten Kunst oder gar in der Op-Art. Und dennoch: Aller Versuche zum Trotz leistet dieses Werk Widerstand und lässt sich durch etablierte Kunstrichtungen oder -strömungen nicht endgültig erklären. Was die Einzigartigkeit dieser Kunst ausmacht, sind die intuitive Vorgehensweise sowie die Überzeugung des Künstlers, die Geometrie vermag es, Emotionen auszudrücken und auf Emotionen zu wirken. Entscheidend ist aber sein Umgang mit Farben, mit dem Licht und somit mit der in seinen Werken freigesetzten Energie, die sich in das Transzendente umzuwandeln weißt.
Ewa Czerwiakowski, Dezember 2018