Andrzej Nowacki. Erkundung des Quadrats
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Raum 3: Streifenbilder
Langsam verdichten sich die vertikalen Linien, gewinnen mehr und mehr Raum, bis schließlich die Grundfläche, befreit von der früheren Dynamik von Farben und Formen, restlos von senkrechten Geraden eingenommen wird. Durch höhere und niedrigere Holzleisten und deren Intervallen dargestellt bilden sie ausschließlich durch ihre Farbigkeit eine strahlende Aura. Die Zahl der Farben ist begrenzt, sie wiederholen sich in bestimmten, vom Künstler festgelegten Rhythmen. Von keinem Rahmen, ja nicht einmal durch einen Hintergrund begrenzt, wird die Relieffläche selbst zum Bild. Eine Symmetrieachse gibt es auch nicht, auch wenn es sich um eine vorläufige Abwesenheit handelt. (Abb. 12, 13, 13a, 14, 15, 16, 17, 18, 19)
Natürlich erinnern diese Bilder an eine bestimmte Periode im Schaffen der britischen Malerin Bridget Riley, und der Künstler bestreitet auch diese Inspirationsquelle nicht. Das erste Jahrzehnt der 2000er Jahre zeigt aber deutlich seine eigene Entwicklung und seinen individuellen Weg. Dazu Hubertus Gaßner: „Die jetzt entstehenden Streifenbilder haben sich ganz von den Kompositionsprinzipen der geometrischen Abstraktion gelöst, wie sie z.B. von den Polen Strzemiński und Stażewski vertreten wurde. Sie wechseln in die reiche Tradition gestreifter Bilder und Reliefs über, die unter anderem durch Raphael Soto, François Morellet und Bridget Riley, durch Agnes Martin, Frank Stella und Jean Scully seit den 1950er Jahren gebildet wurde. Gemeinsam mit den Streifenbildern dieser Künstler haben die letzten Reliefs von Nowacki die Beschränkung der Komposition auf einfachste Elemente und Formen zugunsten einer Aufwertung der Farbigkeit. Die Farbe als Ausdrucksträger von Gefühlen und Emotionen hat nun die Oberhand über die vormals komplexen und dominanten Kompositionen aus Quadraten und Linien gewonnen.“[5]
Die Farben in Nowackis Quadraten sind eigensinnig, launisch, zuweilen trotzig. So wie der große Meister der Farbkompositionen, Josef Albers, einmal sagte: „Die Farbe folgt genau wie der Mensch zwei verschiedenen Verhaltensweisen: zunächst die Selbstverwirklichung, dann die Herstellung der Beziehungen zu anderen.“ Beteiligen sie sich an einem Zusammenspiel, dann leben sie in Kontrasten und Harmonien, in Streit und Einvernehmen. Sie verlieren ihre Eigenständigkeit, verweben sich in das farbige Liniengefüge. Der Künstler selbst meint: „Der Grundwert meines künstlerischen Schaffens ist die Farbe. Sie ergänzt, ja ersetzt das Licht. Im Dialog mit dem Betrachter bildet sie Wörter einer unbewussten Sprache und wird zur Energiequelle.“
Ein wesentliches Merkmal dieser Reliefs ist ihre sinnliche, greifbare, räumliche Beschaffenheit, die durch das hölzerne Gefüge entsteht. Als erstes wird die leere Fläche der quadratischen Faserplatte vertikal von dünnen Holzlatten überzogen, so dass ein Gerüst entsteht. Das rohe Holz ist hell, warm, noch vom Geruch und Gedächtnis des lebenden Baums durchtränkt. Alles beginnt also mit der Auseinandersetzung mit der Materie, die es so zu bändigen gilt, dass sie zu einem empfindsamen Träger der Kunst wird. Zuweilen kommt eine neue Dynamik in das parallel gestreifte Feld des Reliefs: Die Holzleisten verlaufen bogenartig oder werden im Zick-Zack-Rhythmus gebrochen, auf mehreren Ebenen deuten sie verborgene geometrische Formen an. Das Gerüst beeinflusst von Anfang an den künftigen Dialog der Farben und gestaltet die imaginär vertiefte Räumlichkeit mit.
In der komplexen Struktur zeigt sich eine Ahnung der Form, wie eine Chiffre in der Sprache der linienartigen Holzleisten. Ohne Farben klingen die Rhythmen noch hölzern, die Umrisse der Figuren bleiben vage und verschwommen, die horizontalen Streifenverläufe verlieren sich in der senkrechten Ordnung. Erst die Farben werden all die Funktionen von Schrägen, von diagonalen Linien, von höheren und niedrigeren Latten sowie all ihre bestimmten oder nur erahnten Aufgaben im Ganzen des Bildes deuten. Die vertikale Ordnung ist vorherrschend, und man weiß noch nicht, ob sie für das Geerdet-Sein steht oder umgekehrt die Überwindung der Schwerkraft verheißt. Vielleicht beides.
Nicht zuletzt deswegen hat diese erste Etappe im Werden eines Reliefs eine grundlegende Bedeutung, auch wenn die mit ihr zusammenhängenden Handlungen eher an Handwerk als Kunst denken lassen. Doch gerade das erdverhaftet und sinnlich anmutende Ergebnis jener Vorarbeit wird die Beschaffenheit des künftigen Bildes für immer prägen. Das Handwerk lässt sich also aus dem Schaffensprozess nicht wegdenken, im Gegenteil: Bereits am Anfang ist es konstitutiv für die Einzigartigkeit Nowackis Reliefbilder und unterscheidet sie eindeutig von Arbeiten anderer Künstler dieses Genres.
[5] Ebenda, S. 12.