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„Polenaktion“ 1938

Deportation der polnischen Juden aus Nürnberg während der sogenannten „Polenaktion“, 1938

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Deportation der polnischen Juden aus Nürnberg während der sogenannten „Polenaktion“, 1938
Deportation der polnischen Juden aus Nürnberg während der sogenannten „Polenaktion“, 1938

„Wir durften nur das allernotwendigste mitnehmen und wurden unterstaendiger [sic!] Bewachung zum Bahnhof gebracht, dieses Gefuehl [sic!] zu schildern ist fast unmoeglich [sic!], aber dieser Moment verfolgt mich bis zum heutigen Tage. An diesem Tag verloren wir alles was wir gehabt haben, unser altes Leben, unser Heim und unsere Familie.“[1] So erinnerte sich der damals 15-jährige Siegfried Jaffe, dessen Eltern, Erna und Lazar, nach dem ersten Weltkrieg aus Galizien nach Deutschland gekommen waren, an die „Polenaktion“. Dieses Schicksal des in Berlin geborenen Jungen und seiner Familie wurde Ende Oktober 1938 von tausenden polnischen Juden geteilt.

Die Juden wurden jedoch schon lange vor der „Polenaktion“ zur Zielscheibe von Schikanen. Ihre Situation im Deutschen Reich hatte sich seit Hitlers Machtergreifung 1933 systematisch verschlechtert. Der Antisemitismus – auch wenn er weder in Deutschland noch in Europa ein neues Phänomen gewesen war – wurde zur staatlichen Doktrin der Nationalsozialisten.[2] Repressionen, Aufrufe zum Hass sowie die wachsende Propaganda gegen Juden und ihr Boykott im öffentlichen Leben waren alltäglich geworden. Insgesamt wurden im Dritten Reich rund zwei Tausend antisemitische Gesetze und Verordnungen gegen Vertreter des Judentums verabschiedet und eingeführt.[3]

Insbesondere die in Deutschland lebenden Juden aus Osteuropa, die man abfällig „Ostjuden“ nannte, befanden sich in der überaus prekären Lage, in der Hierarchie der „unerwünschten“ [jüdischen – Anm. d. Übers.] Bürger ganz unten zu stehen. Nach der Volkszählung im Juni 1933 lebte im Dritten Reich, das damals 65 Millionen Einwohner zählte, etwa eine halbe Million Juden, davon 100.000 ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Der weit überwiegende Teil dieser Gruppe (60.000) waren polnische Staatsbürger, weitere 20.000 waren polnischer Abstammung.[4] Die meisten Juden polnischer Herkunft waren in den Wirren der Kriegsjahre 1914 bis 1918 nach Deutschland gekommen, manche als Gefangene, als Zwangsarbeiter oder als Wirtschaftsflüchtlinge. Für andere wiederum sollte Deutschland nur eine Etappe auf dem Weg in die USA sein, doch letztlich blieben sie, weil sie die Fahrt über den Ozean aus verschiedenen Gründen nicht antreten konnten.[5]

Die ständigen Gewaltakte, die Einschränkung von Staatsbürgerrechten und die Einführung von Berufsverboten gegen Juden führten dazu, dass ihre Lebensbedingungen als gesellschaftliche Gruppe immer schlechter wurden und ihre Existenz von ständiger Angst getränkt war. Infolge dessen kam es zu einer zunehmenden jüdischen Emigration in andere Länder. Bis 1938 verließen rund 250.000 Juden das Dritte Reich.

Für die Nationalsozialisten, die ihre Absicht, Deutschland von allen jüdischen Bürgern zu „befreien“, schon 1920 auf einer NSDAP-Versammlung ausgerufen hatten, verliefen die Aktionen viel zu langsam. Als dann nach der Annexion Österreichs am 12. März 1938 weitere 200.000 Juden in Deutschland neu zu zählen waren, trug die polnische Regierung ganz unerwartet zur Einleitung der nächsten Schritte, vor allem zur Durchführung der sogenannten „Polenaktion“, bei. Aus Furcht vor einer Welle verarmter jüdischer Zuwanderer, die in Polen Zuflucht vor den antisemitischen Repressionen der Nationalisten suchen könnten, verabschiede der polnische Sejm am 31. März 1938 das Gesetz über die Entziehung der Staatsbürgerschaft (Ustawa o pozbawieniu obywatelstwa)[6]. Aufgrund dieses Gesetzes konnte einem polnischen Staatsbürger, der sich im Ausland befand, die polnische Staatsbürgerschaft aberkannt werden, „sofern er sich länger als fünf Jahre nach Gründung des Polnischen Staats im Ausland aufgehalten hat“ oder „die Verbindung zum polnischen Staat verloren hat“[7]. Darüber hinaus wurde beschlossen, dass sich die Ausbürgerung eines Ehemanns auf seine Ehefrau und die eines Vaters auf seine Kinder bis zum 18 Lebensjahr erstreckte, „sofern sich diese Personen im Ausland aufhalten und sofern sie im Ausbürgerungsurteil hinsichtlich der Entziehung der Staatsbürgerschat nicht ausgeschlossen wurden.“[8]

Die deutsche Seite protestierte daraufhin sofort auf diplomatischem Weg in Polen gegen dieses Gesetz. Doch die Einführung der neuen Bestimmungen erfolgte zögerlich. Der Beschluss der polnischen Regierung, die Pässe im Ausland lebender Polen mit einem Konsularstempel versehen lassen zu müssen, wurde erst ein halbes Jahr später, am 9. Oktober 1938, erlassen. Außerdem wurden die Konsuln angewiesen, die Pässe der Personen einzubehalten, denen die Staatsbürgerschaft entzogen werden sollte. Pässe ohne Stempel eines Konsulats liefen automatisch am 30. Oktober ab.[9] Die Deutschen fürchteten damals, dass sie Juden alsbald nirgendwohin mehr abschieben könnten, zumal damals auch andere Staaten ihre Grenzen für Juden schlossen.

 

[1] K. Dressel, N. Wegt, An diesem Tag verloren wir alles, was wir gehabt haben, in: Ausgewiesen! Berlin, 28.10.1938. Die Geschichte der „Polenaktion“, herausgegeben von Alina Bothe und Gertrud Pickhan, Berlin 2018, S.185.

[2] Michael Wildt, „Volksgemeinschaft“ als Selbstermächtigung. Soziale Praxis und Gewalt, in: Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen, Berlin 2010.

[3] Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, auf: LeMo Lebendiges Museum Online, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ausgrenzung-und-verfolgung.html

[4] Miriam Rürup, Wie aus Deutschen Juden wurden, in: Ausgewiesen!..., S. 53.

[5] Gertrud Pickhan, Generalprobe für die Deportation, auf: Tagesspiegel.de, 24.10.2013.

[7] Ustawa o pozbawieniu obywatelstwa [Gesetz über die Entziehung der Staatsbürgerschaft] vom 31. März 1938, Artikel 1b.

[8] Ebenda, Artikel 3.1.

[9] Jerzy Tomaszewski, Przystanek Zbąszyń, in: Izabela Skórzyńska, Wojciech Olejniczak (Red.), Do zobaczenia za rok w Jerozolimie. Deportacje polskich Żydów w 1938 roku z Niemiec do Zbąszynia, (zweisprachige Ausgabe: polnisch-englisch), Fundacja TRES, Zbąszyń - Poznań 2012, S. 73.

Eine Antwort auf das polnische Vorgehen erfolgte am 26. Oktober, als Heinrich Himmler, der Chef der deutschen Polizei und Reichsführer SS, den Befehl erließ, alle Juden polnischer Herkunft aus dem Dritten Reich auszuweisen. Die Aktion wurde sehr umfassend vorbereitet, indem Kräfte der SS, der Gestapo, der Deutschen Bahn und diplomatisches Personal konzertiert eingesetzt wurden. Die Koordinierung der „Polenaktion“ lag in den Händen der Landesministerien des Inneren und wurde von der deutschen Presse propagandistisch unterstützt, die unter anderem darüber berichtete, dass der polnische Staat die Juden „aufgefordert“ hätte, in ihre Heimat zurückzukehren. In diesem Sinne schrieb auch die in Essen erschienene „Rheinisch-Westfälische Zeitung“: „Ein großer Teil der Juden ist nach 1918 nach Deutschland gekommen; viele Juden aus Polen und Ostgalizien waren auch nach Essen gekommen. Da diese Juden noch immer polnische Staatsbürger waren, so blieb dem polnischen Staat schließlich nichts anderes überig [sic!], als sie jetzt zur Rückkehr aufzufordern und andernfalls ihnen anzudrohen, daß sie sonst die polnische Staatsbürgerschaft unweigerlich verlieren würden.“[10]

Himmlers Befehl wurde sofort ausgeführt. Die ersten Festnahmen erfolgten schon am 27. Oktober, vor allem im Westen des Landes, doch die meisten Aktionen fanden am 28. und 29. Oktober statt. Die Verhaftungen erfolgten fast überall nach demselben Drehbuch: die meisten Wohnungen wurden in den frühen Morgenstunden betreten, wobei den völlig überraschten Menschen die Aufforderung ausgehändigt wurde, das Reichsgebiet innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. „Diese Frist wurde uns nicht gegeben und [wir] mußten den Beamten folgen, sobald wir angezogen waren und kaum Zeit mehr übrig blieb Kleidung und Wäsche etc. mitzunehmen. Nur dürftig bekleidet und mit nur ein paar Mark habe ich Deutschland verlassen müssen.“[11] So beschrieb der Berliner Geiger Mendel Max Karp die Umstände seiner Ausweisung in einem Brief an seinen Bruder, den er kurz nach dem Eintreffen im Lager Zbąszyń (Bentschen) verfasste. Sein detaillierter Bericht gehört zu den frühesten Zeugnissen dieser Zeit. Die Mehrheit der Deportierten hat ihre dramatischen Erlebnisse, sofern sie den Holocaust überhaupt überlebten, erst Jahrzehnte später weitergegeben.

In Berlin wurden vor allem Männer über 15 Jahren ausgewiesen, während die Deportationen in anderen Teilen Deutschlands ganze jüdische Familien samt Kindern, älterer und kranker Familienmitglieder betrafen. Max Karp schrieb: „Nachdem die Sammelaktion in Berlin durchgeführt war, wurden wir in halb geschlossenen oder etwas verdeckten Lastautos und unter Bewachung von der Polizeikaserne nach einem Güterbahnhof in Treptow nahe Neukölln gebracht. Vor der Kaserne und in den angrenzenden Straßen spielten sich ergreifende Szenen der in Berlin zurückgebliebenen Frauen, Mütter & Kinder ab.[12]

Nicht weniger aufwühlende Szenen enthält der Bericht von Ottilie Schoenewald aus Bochum, der Gattin des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, die dem Vorstand des Jüdischen Frauenbundes angehörte: „Die Autokolonne fuhr zu allen jüdischen Metzgern, kaufte alle vorhandenen koscheren Würste auf, dann zu den Bäckern, die versprachen, am Morgen ein paar hundert frische Brötchen zu reservieren. (...) Der mir bekannte Wachhabende bedeutete mir, wir sollten unsere Speisung am Bahnhof vornehmen, (...)... Am Bahnhof war schon eine wimmelnde Masse aufgeregter, weinender, schreiender Frauen und Kinder versammelt, und immer neue Lastautos fuhren an und ‚schütteltenʻ förmlich ihre Elendlast auf den Vorplatz. (...) Als wir dann, gegen 10.30 Uhr, ‚alle an den Bahnsteigʻ hörten, hat uns eine echte Massenhysterie erfasst. Alle hetzten, drängten, obwohl schließlich niemand hier auf diesen Moment gewartet hatte. Mütter schrien ihre Kinder an, die sie an der Hand hatten oder die sie an ihren Rockzipfeln hielten. Die Kinder schrien nach ihren Müttern. Hier und da kam es vor, dass jemand über die zurückgelassenen Gegenstände eines anderen entschied.[13]

Ebenso ergreifend sind die Erinnerungen, die Ottilie Rimpel aus Stuttgart aufgezeichnet und an ihren Sohn weitergegeben hat. „Wir waren damals eine Gruppe von Menschen, in einem erbärmlichen Zustand – völlig orientierungslos, ohne Gepäck - nur mit den Kleidern, die wir trugen. Genau die Menschensorte, von der Hitler einst in seiner Rede auf dem Stuttgarter Marktplatz sprach. Er sagte: ‚Wir werden all die schäbigen polnischen Blutsauger mitsamt ihren Läusen hier rausschmeißen, ohne Kleider und ohne einen Pfennig in der Tasche.ʻ Ich bedauere, dass wir ihm damals nicht zugehört haben und dass wir sein Buch ‚Mein Kampfʻ nicht gelesen und uns nicht zu Herzen genommen haben. Dieser abscheuliche Mann hat alles bewusst geschrieben und gesagt. Die Leute nannten es Propaganda. Das aber war die bittere Wahrheit, wie wir uns später überzeugten.[14]

[11] Weblog auf der Internetseite des Jüdischen Museums Berlin: https://www.jmberlin.de/blog/2018/10/karp-ueber-polenaktion/ 

[14] Die Erinnerungen von Ottilie Rimpel stammen aus dem Buch: Wojciech Olejniczak, Izabela Skórzyńska (Red.), Do zobaczenia za rok w Jerozolimie..., S. 145-146.

Die „Polenaktion“ war die erste Massendeportation von Juden aus dem Dritten Reich. Sie wurde völlig offen durchgeführt, so dass sie der deutschen Bevölkerung nicht entging. Antisemitische Stimmungen in der Gesellschaft waren damals schon so weit verbreitet, dass die Verhaftungen von stillschweigender Zustimmung und manchmal auch offen geäußerter Begeisterung begleitet wurden. Mendel Max Karp erinnert sich so: „Ein Auto nach dem anderen verließ mit uns den Kasernenhof, eine lange Kette dieser Monsterwagen schlängelte sich über den ‚Alex‘ (Alexanderplatz – Anm. der Autorin) weiter durch die Stadt unter ungeheurem Sirenenlärm der Autos, der wohl absichtlich gemacht wurde, um die Bevölkerung Berlins auf unsern zwangsweisen Abtransport aufmerksam zu machen. Die Menschen stauten sich in den Straßen, sie sollten Zeugen sein der ›historischen‹ Austreibung von Juden aus Deutschland.“[15]

Schließlich wurde die „Polenaktion“ im Hinblick darauf, ob die staatlichen Organe in der Durchführung von Deportationen funktionierten, zur logistischen Generalprobe für die Nationalsozialisten. Und obwohl enorme Kräfte mobilisiert worden waren, lief nicht überall alles nach Plan. So auch in Leipzig, wo zu dieser Zeit über drei Tausend Juden polnischer Herkunft lebten. Sie stellten ein Drittel aller jüdischen Einwohner der Stadt dar. Der Generalkonsul Polens in Leipzig, Feliks Chiczewski (1889-1972), hatte schon länger die immer schlechter werdende Lage der Juden in Deutschland wahrgenommen. Kaum zwei Tage vor der „Polenaktion“ hat Chiczewski daraufhin dem polnischen Botschafter in Berlin, Józef Lipski, einen Bericht gesandt, indem er die Verschärfung der Politik gegen die Anhänger jüdischen Glaubens als einen „Krieg, den die nationalsozialistische Partei gegen die Juden erklärt hat und der mit ihrer totalen Vernichtung enden muss[16] bezeichnet.

Als dann die Nachricht von den ersten Verhaftungen in anderen Städten des Reichs Leipzig erreichte, versuchte der Diplomat, mit der Polizei und den lokalen Behörden darüber zu verhandeln, dass Frauen, Kinder und Kranke von der Deportation auszunehmen seien. Der Polizeipräsident stimmte dem zunächst zu, allerdings unter der Bedingung, dass die auszuweisenden Juden darlegen konnten, Deutschland ohnehin verlassen zu wollen. Als die Verhandlungen dann aber ins Stocken gerieten, forderte Chiczewski alle polnischen Juden auf, im Konsulat zu erscheinen. Wer ein Telefon besaß, informierte seine Familien, Freunde und Bekannte, so dass in kürzester Zeit rund 1.300 Personen in die Villa des Konsulats an der Wächterstraße 32 kamen.[17] In einem Bericht aus diesen Tagen steht zu lesen: „Der gesamte große Garten, alle Eingänge, die Treppen, der Warteraum, die Kellerräume sowie ein Teil der Privaträume des Konsuls und das Wachhäuschen waren voller Flüchtlinge.[18]

Durch die Aufnahme der Juden auf dem Gelände des Konsulats garantierte Chiczewski ihnen exterritorialen Schutz. Außerdem stellte er ihnen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus Pässe aus. Die Gestapo, deren Sitz sich in der gleichen Straße befand, wagte es nicht, auf dem gesamten Gelände des Konsulats zu intervenieren, da es als unverletzlich gilt. Die am 29. Oktober von Chiczewski geretteten Juden verließen die Villa in der Wächterstraße daraufhin und kehrten in ihre Häuser zurück, wobei viele von ihnen kurz darauf tatsächlich aus Deutschland ausgewandert sind. Die, denen es nicht gelang, ins Konsulat zu flüchten, wurden von der Polizei festgenommen und zum Hauptbahnhof gebracht. Von dort aus wurden sie in vier Zügen nach Beuthen (heute Bytom) abtransportiert, wo sie über die Grenze nach Polen verjagt wurden.

In kaum zwei Tagen wurden über 17.000 Juden aus dem Dritten Reich abgeschoben. Die Zahlen der Deportierten aus einzelnen Städten sind nur als Schätzungen überliefert: aus Berlin 1.500 Personen, aus Hamburg 1.000, darunter auch Frauen und Kinder, aus Dortmund und Köln 600, aus Essen 420, aus Düsseldorf 361, aus Gelsenkirchen 70.[19] Trotz alledem war die „Polenaktion“ noch bis vor kurzem nur wenigen Leuten bekannt, obwohl sich unter den Ausgewiesenen auch Menschen befanden, die damals schon oder in ihrem späteren Leben sehr erfolgreich waren.

[16] S. Held, Leipziger Geschichte(n): Generalkonsul Chiczewski warf einen Rettungsanker aus, in: Online-Ausgabe der Leipziger Volkszeitung vom 26.10.2013.

[17] A. Lustiger, Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit, Wallstein Verlag GmbH, Göttingen 2011, S. 72.

[18] Zitiert nach: J. Tomaszewski, The Expulsion of Jewish Polish Citizens, Acta Poloniae Historica 76, 1997, S. 106.

Zu ihnen gehörte sicher auch der damals 18-jährige Gerhard Klein (1920-1999), ein Jungstar im Film und auf der Bühne, der unter anderem mit der Rolle des Professors in „Emil und die Detektive“ bekannt wurde – einer Theaterfassung des zu dieser Zeit beliebten Romans gleichen Namens von Erich Kästner. Klein trat unter anderem auf den Bühnen des Berliner Theaters, des Jüdischen Theaters und des Kindertheaters des Kulturbundes auf. Außerdem spielte er eine tragende Rolle in „Dann schon lieber Lebertran“ (1931), einem Film von Max Ophüls, bevor seine Karriere unterbrochen wurde als die Nationalsozialisten an die Macht kamen und Schauspieler jüdischer Herkunft mit einem Spielverbot belegten. Gerhard Klein wurde wie sein Bruder in Berlin geboren. Beide hatten nichts mit Polen zu tun und sprachen noch nicht einmal Polnisch. Die polnische Staatsbürgerschaft hatten sie durch ihren Vater, der aus der Nähe von Oświęcim (Auschwitz) stammte. Nichts desto trotz mussten sie Deutschland verlassen und sich in ein fremdes Land begeben.

Die polnische Staatsbürgerschaft und ihre deutsche Identität waren für viele Vertriebene charakteristisch, so auch für Marcel Reich-Ranicki, der Deutschland im Zuge der „Polenaktion“ mit 18 Jahren verlassen musste. Der spätere „Literaturpapst“ wurde 1920 in Włocławek geboren. Er sagte von sich selbst, er sei „ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude“. Polen verließ er im Alter von neun Jahren, als seine Familie, die unter Existenzproblemen litt, nach Berlin zog. Die Machtergreifung durch die Nazis war für Ranicki, wie für die anderen Juden auch, mit immer härteren Einschränkungen ihrer Rechte verbunden. Zwar wurde er 1938 noch zum Abitur noch zugelassen, doch sein Antrag auf Zulassung zum Studium an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität (nach dem Krieg „Humboldt-Universität“) wurde auf Grund seiner jüdischen Herkunft abgelehnt.

Einige Monate später klopfte die Polizei am 28. Oktober, kurz vor sieben Uhr morgens, an der Tür zu dem winzigen Zimmer in der Spichernstraße 16, im Berliner Stadtteil Wilmersdorf. Dem 18-jährigen Ranicki wurde die Anordnung mit der Auflage ausgehändigt, Deutschland innerhalb von 14 Tagen zu verlassen, doch sie wurde sofort ausgeführt. „Daß ich alles, was ich in dem kleinen Zimmer besaß, zurücklassen mußte, versteht sich von selbst. Nur fünf Mark durfte ich mitnehmen und eine Aktentasche. Aber ich wußte nicht recht, was ich in ihr unterbringen sollte. Ich steckte in der Eile nur ein Reservetaschentuch ein und vor allem etwas zu lesen.“[20]

Anfangs vermutete Ranicki noch, dass jemand ihn denunziert hatte – so unrealistisch erschien ihm die grundlose Festnahme. Dann erfuhr er, dass der einzige „Grund“ in seiner polnischen Herkunft lag. In seiner Jahrzehnte später erschienenen Autobiographie „Mein Leben“ beschreibt der berühmte Literaturkritiker seine Leidensgenossen wie folgt: „Es waren Juden und nur Männer, alle älter als ich, der Achtzehnjährige. Sie sprachen tadellos Deutsch und kein Wort Polnisch. Sie waren in Deutschland geboren oder als ganz kleine Kinder hergekommen und hier zur Schule gegangen. Doch hatten sie allesamt, das erfuhr ich bald, aus irgendwelchen Gründen einen polnischen Paß – ebenso wie ich.“[21]

Dank der Memoiren von Marcel Reich-Ranicki ist eine der detailliertesten Schilderungen der Judentransporte erhalten geblieben: „Wohin der Zug fuhr, sagte man uns nicht, doch bald war klar, daß die Fahrt in Richtung Osten ging, also zur polnischen Grenze. Wir froren, denn die Waggons waren nicht geheizt, aber jeder hatte einen Sitzplatz. Verglichen mit späteren Transporten waren es noch menschliche, ja nahezu luxuriöse Bedingungen. (…) An der deutschen Grenze mußten wir aus den Waggons stiegen und uns in Kolonnen aufstellen. Es war vollkommen dunkel, man hörte laute Kommandos, zahlreiche Schüsse, gellende Schreie. Dann kam ein Zug an. Es war ein kurzer polnischer Zug, in den uns die deutschen Polizisten brutal hineinjagten. In den Waggons war es drängend voll. Sofort wurden die Türen kräftig zugeschlagen und plombiert, der Zug fuhr ab.[22]

Die Züge mit den Vertriebenen aus Deutschland liefen in Beuthen (Bytom), Konitz (Chojnice) und Kreuz (Krzyż) ein. Für die meisten deportierten Juden ging die Fahrt zur Endstation in Zbąszyń weiter, dem kleinen Städtchen, das nach der Wiederentstehung des polnischen Staates direkt an der Grenze zu Deutschland lag. Die ersten Züge kamen noch über die Grenze, da die Polen vollkommen überrumpelt waren: die aufkommende Ausweisungswelle wurde weder dem Grenzschutz noch den Behörden der grenznahen Ortschaften angezeigt. Als jedoch immer mehr Züge kamen, weigerte sich die polnische Seite zunächst, sie nach Polen einzulassen, so dass sie einige Kilometer vor der Grenze, im sogenannten Niemandsland, halten mussten. Von dort aus wurden die Juden durch Wälder und Sümpfe Richtung Polen gejagt – begleitet von Drohungen und unter Beschuss der Nazis. „Wir wussten weder wohin uns dieser Weg führt, noch wie unser weiteres Schicksal aussieht. Stunden später erblickten wir in der Ferne einen weiß-roten Schlagbaum quer über dem Weg und als wir näher kamen – eine polnische Fahne. In der Nähe der Grenze gab es Sümpfe und schlammige Feuchtgebiete auf beiden Seiten des Wegs. Das war das ‚Niemandsland‘ zwischen Deutschland und Polen. Plötzlich begannen die Deutschen auf die lange Judenkolonne – Männer, Frauen und Kinder – zu schießen. Wir flüchteten in die Feuchtgebiete. Mein Vater zog mich herunter und drückte meinen Kopf tief in den Schlamm. In dem Augenblick dachte ich, mein geliebter Vater würde mich ertränken! Schließlich hörten die Schüsse auf. Schlammverklebt krochen wir langsam aus den Sümpfen heraus, durchwateten den Fluss und erreichten das polnische Staatsgebiet. Sechs polnische Grenzbeamte – mehr waren es nicht, die den bewaffneten deutschen Soldaten gegenüberstanden.“[23] So berichtete der damals 9-jährige Willi Najman, den die deutsche Polizei aus einer Hamburger Schule holte und anschließend mit seiner ganzen Familie deportierte, seinen Weg nach Zbąszyń.

 

[20] Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, DVA, Stuttgart 1999, 4. Auflage, S. 157.

[21] Ebenda, S. 158.

[22] M. Reich-Ranicki, Mein Leben..., S. 159.

[23] Do zobaczenia za rok w Jerozolimie..., S. 162.

Wie viele Juden diese Transporte und die Flucht über das Niemandsland nach Polen mit ihrem Leben bezahlt haben, ist unbekannt. Als die Regierung in Warschau den Deportierten schließlich verstattete, nach Polen einzuwandern, hatten es viele von ihnen bereits über die Grenze geschafft. Innerhalb von zwei Tagen trafen in Zbąszyń, einem Ort mit gut über 4.000 Einwohnern, zwischen acht bis neuneinhalb tausend Personen ein, die über die Hälfte der aus Deutschland abgeschobenen Juden polnischer Herkunft ausgemacht haben. Zbąszyń wurde von einem Tag auf den anderen zu einem gigantischen Flüchtlingslager. So vielen Menschen in Not ein Dach über dem Kopf zu bieten, war schier unmöglich. Einige kam im Bahnhofsgebäude, in der Mühle oder in den ehemaligen Kasernen unter, andere mussten unter freiem Himmel kampieren. Mit der Zeit ging man dazu über, Juden auch in Privatwohnungen einzuquartieren.

Unterdessen nahm Polen mit Deutschland Verhandlungen darüber auf, die abgeschobenen Juden zurück ins Dritte Reich zu schicken und sie für ihren Besitz zu entschädigen bzw. ihnen zu erlauben, ihn nach Polen überführen zu dürfen. Im Januar 1939 kam es schließlich zu einem Abkommen, das den Angehörigen der Deportierten, die sich noch in Deutschland befanden, das Recht auf Familienzusammenführung vermittelte. Diejenigen, die ihr Eigentum hatten zurücklassen müssen, durften noch einmal für einen Monat nach Deutschland zurück, um ihre Angelegenheiten zu regeln. Dafür mussten sie das Kapital, das ihnen aus der Abwicklung ihrer Habseligkeiten entstand, auf eingefrorenen Bankkonten in Deutschland hinterlegen.[24] Der Ausbruch des zweiten Weltkriegs hatte dann zur Folge, dass sie nie mehr über ihre Guthaben verfügen konnten.

Wer konnte, oder eher, wer über ausreichende Mittel verfügte, verließ Zbąszyń so schnell wie möglich und machte sich weiter nach Polen auf oder wanderte in andere Länder aus. In den ersten Tagen verließen etwa zweitausend Menschen die Stadt, darunter Marcel Reich-Ranicki, der zu seiner Familie nach Warschau ging. Denen, die an Ort und Stelle blieben, versuchten sowohl Polen als auch die nach Zbąszyń entsandten Mitarbeiter jüdischer Wohlfahrtsorganisationen zu helfen, sie in einigermaßen akzeptablen Verhältnisse zu bringen. Decken wurden gesammelt sowie Getränke und warmes Essen ausgegeben und als bereits am ersten Tag das Brot ausging, setzte der Bürgermeister von Zbąszyń einen Festpreis für Brot fest, um so der Spekulation mit dem knappen Gut und daraus resultierenden Preissteigerungen vorzubeugen.

Obwohl das Verhältnis zur jüdischen Gemeinschaft im damaligen Polen unterkühlt gewesen ist, eilte die Bevölkerung den Deportierten zur Hilfe: „Das plötzliche Erscheinen einer so großen Anzahl von hungrigen, frierenden und offensichtlich verängstigten Menschen hat bei den Einwohnern ganz natürliche menschliche Hilfereaktion ausgelöst.“[25] So Wojciech Olejniczak, Vorsitzender der Stiftung TRES, die unter anderem die Erinnerung an die damaligen Geschehnisse in Zbąszyń bewahrt. Die Dankbarkeit gegenüber der einheimischen Bevölkerung für ihre menschliche Solidarität findet sich in den vielen späteren Schilderungen der Deportierten wieder, die unter anderem von der amerikanischen USC Shoah Foundation und der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem archiviert werden. Der Historiker Jerzy Tomaszewski, der sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigt, räumt ein: „Die Einwohner von Zbąszyń haben damals die Ehre der Polen gerettet.[26]

Die Hilfe für die Juden, die in der Kleinstadt in Großpolen gestrandet waren, wurde hauptsächlich von jüdischen Wohltätigkeitsorganisationen finanziert. Außerdem wurden Sammlungen organisiert, an denen sich die Einwohner von Zbąszyń aktiv beteiligten. Die schwierigste Aufgabe neben der rechtzeitigen Schaffung von Unterkünften vor dem herannahenden Winterausbruch bestand darin, die Verpflegung der Flüchtlinge zu gewährleisten. Zwar waren in den Sammelunterkünften Feldküchen eingerichtet worden, aber um eine Mahlzeit zu bekommen, musste man in langen Schlangen ausharren und nicht jeder hatte warme Kleidung.[27]

Die Ankömmlinge aus Deutschland wurden auch von psychischen Problemen geplagt. Die dramatischen Ereignisse, die Trennung von ihren Familien, der Verlust ihrer Habe und die oft fehlenden Kenntnisse der polnischen Sprache erzeugten Ängste und Einsamkeit. Vor diesem Hintergrund entstanden in Zbąszyń kleine Einrichtungen des täglichen Bedarfs, Friseurläden, Nähstuben und Schuhwerkstätten, zu denen sich Handwerker, ein eigenes Postamt und ein Sanitätsdienst gesellten. Dies alles zu dem Zweck, möglichst viele Deportierte in ein „normales“ Leben einzubeziehen, um sie vor Untätigkeit und Apathie zu bewahren. Die Lagerbedingungen hat Isaak Giterman, der polnische Direktor der internationalen Hilfsorganisation Joint Distribution Committee, die den vertriebenen Juden vor Ort Hilfe leistete, in einem Bericht wie folgt beschrieben: „Wenigstens haben jetzt alle Menschen einen Strohsack, um darauf zu schlafen. Die Kinder und die Kranken bekommen jeden Tag Milch, es gibt genug Wäsche für jeden und einige erhalten Kleidung. Nach der anfänglichen Verzweiflung gibt es nun Diskussionsabende der zionistischen Jugend und Polnischunterricht. … Am bewegendsten war eine Bitte der Kinder, dass sich alle unter 16-Jährigen in einem Raum zum Spielen treffen dürften.“[28]

 

[24] J. Tomaszewski, Przystanek Zbąszyń, in: Do zobaczenia za rok w Jerozolimie..., S. 76.

[25] Gespräch der Autorin mit Wojciech Olejniczak.

[26] Do zobaczenia w Jerozolimie..., S. 82.

[27] Ebenda, S. 80.

Die polnischen Behörden sperrten die Stadt sehr bald ab und untersagten den Deportierten, sie zu verlassen. Im Lager selbst kursierten Listen, auf denen man sich für eine Ausreise nach Palästina, in andere europäische Länder oder in die USA eintragen konnte, wobei dies vielen Menschen nicht gelang. Ein Teil der Kinder wurde dank der sogenannten „Kindertransporte“ gerettet, die nach den Ereignissen der „Kristallnacht“ aus Großbritannien betrieben wurden und die Ausreise von Kindern und Jugendlichen im Alter von vier Monaten bis zu 17 Jahren ermöglichten. Insgesamt nahmen die Briten etwa 10.000 Kinder aus Polen, Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei auf. Die jungen Flüchtlinge kamen Gastfamilien oder in Heimen unter. Beim Abschied vor der Abreise mit dem Kindertransport haben viele von ihnen ihre Eltern zum letzten Mal gesehen. Im Holocaust kamen die meisten der im Zuge der „Polenaktion“ abgeschobenen Juden ums Leben.

Unter den Deportierten in Zbąszyń waren auch die Eltern und Geschwister von Herschel (Hermann) Grynszpan, die als polnische Staatsbürger aus Hannover abgeholt wurden, obwohl sie seit 27 Jahren in Deutschland lebten. Am 3. November 1938 erhielt der polizeilich gesuchte 17-Jährige, der sich zu dieser Zeit illegal in Paris befand, eine Postkarte seiner Schwester Berta, die ihn über die Ausweisung der Familie aus Deutschland informierte und um finanzielle Hilfe bat. Am nächsten Tag las Herschel in einer Pariser Zeitung einen ausführlichen Bericht über die hoffnungslose Lage der Deportierten in Polen und beschloss daraufhin, aus Protest gegen die antisemitische Politik der Nazis einen Racheakt zu begehen. Grynszpan kaufte am 7. November einen Revolver und tauchte vormittags in der deutschen Botschaft in Paris auf. Unter dem Vorwand, wichtige Dokumente zu übergeben, wurde er von Botschaftssekretär Ernst von Rath empfangen. In dessen Büro gab Grynszpan fünf Schüsse auf den Diplomaten ab, von denen zwei zu schweren Bauchverletzungen führten. Der Attentäter wurde noch im Haus gefasst. Ernst von Rath verstarb trotz Behandlung durch Hitlers Leibarzt zwei Tage später. Die Nationalsozialisten nutzten diesen Vorfall als Vorwand für die „Kristallnacht“, die vom 9. auf den 10. November in ganz Deutschland stattgefunden hat. Bei diesen Pogromen kamen etwa 400 Juden ums Leben. Mehrere hundert wurden noch in den folgenden Tagen ermordet. Die Nazis steckten damals 1.400 Synagogen und Gebetsräume, tausende jüdische Geschäfte, Wohnungen und Grabstätten in Brand gesetzt oder zerstörten sie. Am 10. November wurden 30.000 Juden verhaftet und in Konzentrationslager verbracht.

Die Ereignisse der „Kristallnacht“ führten letztlich dazu, dass die „Polenaktion“ von der Welt fast vergessen wurde. Zwar war die Weltöffentlichkeit über die erste koordinierte Massendeportation der Juden erschüttert und die Nachricht schaffte es auf die Titelseiten der meisten europäischen Tagesblätter, doch dieser Status Quo währte nicht mal zwei Wochen. Das Ausmaß der Novemberpogrome stellte alles, was bis dahin geschah, in den Schatten. In Polen erinnert die Stiftung TRES bereits seit mehreren Jahren an die „Polenaktion“ und die beispiellose Hilfe der Polen für die aus Deutschland vertriebenen Juden. Am 80. Jahrestag der Ereignisse wurde Zbąszyń zum ersten Mal von Nachkommen der Deportierten besucht.

 

Monika Stefanek, Februar 2019

 

Über die „Polenaktion“ im Internet: www.zbaszyn1938.pl