Paderewski in Breslau
Błocki lebte und arbeitete in Lemberg und verbrachte nur seine beiden letzten Lebensjahre wegen seiner Tuberkulose-Erkrankung in Zakopane.[37] Das Konterfei eines gut aussehenden Mannes mit dem charismatischen Äußeren, das sicher Ignacy J. Paderewski darstellt, schuf er noch in Lemberg. Das in Pastell gemalte Bildnis (Ausmaße: 52,5 x 63 cm) ist eins der spannendsten Porträts des Künstlers. Es zeigt das Brustbild des Maestros en face. Das voll konzentrierte Gesicht, die geschlossenen Augen und das wuschelige Haar rufen die Atmosphäre auf, die seine Konzerte prägte und die sein Schüler, der Pianist Henryk Sztompka, so überzeugend beschrieb: „Jedes Konzert von Paderewski wurde durch seine außergewöhnliche Varsammeltheit, durch die Atmosphäre, durch die Wirkung seiner enormen Individualität, die unwiderstehliche Suggestion und seine unangefochtene Beherrschung der Masse zu einem kollektiven Gottesdienst, zu einem Mysterium.”[38] Man hat den Eindruck, dass es Błocki wunderbar gelungen ist, die Stimmung dieses Mysteriums einzufangen und durch die geschmackvolle kühle Farbgebung auch noch zu unterstreichen.
Neben der Signatur in der unteren rechten Ecke steht das Jahr 1912. Im Mai dieses Jahres wurde in Lemberg der 250. Jahrestag der Gründung der Lemberger Universität feierlich begangen. Zu den mit dem Ehrendoktor der Philosophie ausgezeichneten Persönlichkeiten zählte auch Ignacy J. Paderewski.[39] Einen Besuch des Pianisten in der Hauptstadt Galiziens meldet die damalige Presse jedoch nicht.[40] Demnach hat der Künstler die Auszeichnung der Lemberger Alma Mater höchstwahrscheinlich nicht persönlich entgegengenommen, wobei er vermutlich deshalb nicht zu diesen Feierlichkeiten angereist ist, da er erst kurz zuvor von seiner strapazenreichen Tournee durch Süd-Afrika zurückkehrt war.[41] Demnach könnte Błocki den Maestro zwei Jahre früher, also im Oktober 1910, getroffen haben, als er in Lemberg bei den Chopin-Festlichkeiten zugegen war, allerdings ohne damals ein Konzert gegeben zu haben.[42] Daraus wäre zu schließen, dass der Künstler sein Paderewski-Porträt nach dem Bild des Pianisten malte, das er in Erinnerung behielt, und sich dabei darauf konzentrierte, die Stimmung einzufangen, in der der Maestro seine musikalische Kunst zum Besten gab. Dafür spricht auch ein Detail des Bildnisses, nämlich der Schnurrbart des Virtuosen, der auf Błockis Porträt länger ausfällt, als ihn Paderewski üblicherweise trug. Das hier besprochene Porträt aus Błockis Hand gelangte 1945 mit den aus den ehemaligen polnischen Gebieten im Osten des Landes ausgesiedelten Polen nach Niederschlesien. Dabei handelt es sich mutmaßlich um das einzige Bildnis des Pianisten, das in Pastell gehalten ist.
An dieser Stelle ist noch an eine weniger bekannte Darstellung des Maestros zu erinnern, eine Porträtstudie von Charles Giron (1850-1914)[43], die 1911, also zur selben Zeit wie Błockis Arbeit, entstand und die sich heute in den Beständen des Musée des Beaux-Arts in Lausanne befindet. Eine Abbildung der Studie findet sich in der Paderewski-Biographie des schweizerischen Diplomaten und Musikkenners Werner Fuchss.[44]
[37] „Goniec Krakowski”, Nr. 180, vom 4.07.1920.
[38] H. Szompka, Pamięci Mistrza, [in:] Ignacy Jan Paderewski – artysta, społecznik, polityk – w opiniach jemu współczesnych. Antologia tekstów historycznych i literackich dla uczczenia 150. rocznicy urodzin wielkiego Polaka, hg. von M. M. Drozdowski und X. Pilch- Nowakowska, Warszawa 2012, S. 126.
[39] „Kurjer Lwowski”, Nr. 243, vom 29.05.1912.
[40] Die Zeitung „Gazeta Lwowska” enthielt damals die Rubrik „Przyjechali do Lwowa” [Zu Besuch in Lemberg], in der die Visiten wichtiger Persönlichkeiten in Lemberg mit größter Sorgfalt aufgeführt wurden. Da in einigen Nummern Ende Mai 1912 der Name Ignacy J. Paderewski nicht zu finden war, wurde der Schluss gezogen, dass dieser bei den Feierlichkeiten zum Gründungstag der Lemberger Universität nicht gekommen war.
[41] M. Perkowska, op. cit., S. 130.
[42] I. J. Paderewski, op. cit. Bd. 2, S. 223.
[43] Allgemeines Künstler Lexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Vőlker, Bd. 55, München, Leipzig 2007, S. 280-281.
[44] W. Fuchss, Paderewski. Une vie, une œuvre, o. Ortsangabe, 1999.