Józef Piłsudski in deutschen Gefängnissen
Im Zentrum der Revolution
Am nächsten Tag, also in den Morgenstunden des 9. Novembers, beschlossen die Polen, in die Stadt zu gehen. Piłsudski hatte keinen Degen, wollte aber, da er uniformiert war, nicht ohne Waffe auf die Straße gehen. Graf Kessler kam ihm zur Hilfe. Die Lösung des Problems nahm einige Stunden in Anspruch. Weil alle Waffendepots geschlossen waren, überließ er ihm sein eigenes Bajonett. Sosnkowski stellte dazu fest: „Das Bajonett war auch in den Legionen ein gewöhnliches Seitengewehr, welches im Felde getragen wurde". Piłsudski und Sosnkowski flanierten im Zentrum der deutschen Hauptstadt: von der Friedrichstraße ging es zur Leipziger Straße, danach zum Pariser Platz und zur Unter den Linden, der renommierten Hauptverkehrsachse der Stadt. Da sie die Einladung zu einem späten Frühstück angenommen haben, kehrten sie im Restaurant Hiller Unter den Linden ein. Es war an der Zeit, zum Geschäftlichen überzugehen, was die deutsche Seite wohl auch wollte, da sie dort bereits von den Vertretern des deutschen Außenministeriums erwartet wurden. Sosnkowski hat dieses Treffen als "Gastmahl der Pestkranken" bezeichnet:
„(…) Das Frühstück wurde in einem kleinen Extrasaal gedeckt,“ erinnerte er sich, „der sich nicht an der Straße, sondern im hinteren Bereich des Lokals befand. Ein Spalier von Lakaien in tadellosen Fracks, ein prachtvoll gedeckter Tisch, die schneeweiße Tischdecke, Blumen, das strahlende Silber, das leuchtende Kristallglas und die üppigen Vergoldungen des altdeutschen Stils waren überflutet vom elektrischen Licht, das von den Kronleuchtern fiel. Die Außenjalousien an den Saalfenstern waren blickdicht geschlossen. Prinz Hatzfeld, Graf Kessler, van Gülpen und ich waren in Zivil, nur der Kommandant hatte seine bescheidene, abgegriffene Uniform an, die sich als grauer Fleck seltsam von dem Gesamtbild abhob.“
Beim Essen versuchten die Deutschen erneut, eine Erklärung von Piłsudski zu erwirken, mit der er sich verpflichten sollte, nichts gegen Deutschland zu unternehmen, doch er lehnte erneut explizit ab. Angesichts der aktuellen politischen Situation war den Deutschen bewusst, dass sie weder über ein Druckmittel noch über Anreize verfügten. Allerdings war die Gewährleistung von Ordnung in den Gebieten wichtig, durch die sich die deutschen Truppen, die rasch aus dem Osten abgezogen werden sollten, zurückzuziehen hatten. Weiter miteinander zu sprechen, war damit sinnlos geworden, zumal die Anwesenden bereits Rufe von der Straße vernahmen. Die Revolution in Berlin war voll im Gange. Die Teilnehmer dieses Frühstücks verließen das Restaurant Hiller in Eile und ohne eine Deklaration der Polen. Die Revolution und die Abdankung des deutschen Kaisers Wilhelm II. beschleunigten die weiteren Schritte. Graf Kessler appellierte an seine Vorgesetzten, Piłsudskis sofortige Ausreise aus der Stadt zu veranlassen:
„(…) Es war klar, dass es höchste Zeit war, Piłsudski aus Berlin zu bringen (die Maikäferkaserne war schon gestürmt)“, schrieb Graf Kessler in der „Frankfurter Zeitung“ vom 7. Oktober 1928. „Also ging ich mit [Hermann] Hatzfeld in das Kriegsministerium, um einen Sonderzug zu fordern. Empfangen wurden wir von einem Major des Generalstabs, der, wie zu besten Kriegstagen, zerstreut und voller Ironie war: Für ihn war Piłsudski immer noch ein ganz gewöhnlicher ‚Schurke‘ (…)“.[*]
[*] Ins Deutsche rückübersetzt, da der Originalwortlaut nicht aufzufinden war.