Józef Piłsudski in deutschen Gefängnissen
Danzig, 23. – 29. Juli 1917
Józef Piłsudski und sein Stabschef, Oberst Kazimierz Sosnkowski, wurden am Morgen des 22. Juli 1917 in Warschau verhaftet. Damals waren die Beziehungen Polens zu Deutschland schon seit geraumer Zeit schlecht. Kaum zwei Wochen vor der Verhaftung war es zu der sogenannten „Eidkrise“ und zur Internierung der Soldaten der ersten und dritten Brigade der polnischen Legionen gekommen. Generalgouverneur Hans von Beseler teilte dem Provisorischen Staatsrat (Tymczasowa Rada Stanu) seinerzeit die Gründe für die Verhaftung Piłsudskis mit: Die von ihm angeführte Polnische Militärorganisation (Polska Organizacja Wojskowa, „POW“) hatte ihre Haltung geändert, wovon die deutsche Führung erfuhr, und wurde so zu einer großen Gefahr für den Frieden im Land und für die militärische Sicherheit der verbündeten Truppen, die jenseits der feindlichen Linien kämpften. Nach dem Ausbruch der Februar-Revolution in Russland setzte sich in Deutschland die Auffassung durch, dass es nicht mehr opportun sei, ein polnisches Heer zu bilden. Die Ostfront hatte ihr Bedrohungspotential verloren. Die rasche Beendigung des Krieges mit Russland schien sehr greifbar zu sein, sodass die weitere Unterstützung Polens keine Vorteile mehr versprach.
„Dieser Situation erfordert schnelles Handeln,“ stellte Beseler fest „die sofortige Unschädlichmachung beider Personen (Piłsudski und Sosnkowski). (…) Angesichts dieser Situation ist die Internierung dieser Personen als wirksame Anordnung zu betrachten.“[*]
Zugleich wurde damit begonnen, die Mitglieder der POW zu verhaften, was die Aktivitäten der Organisation für einige Monate lähmte.
Piłsudski und Sosnkowski wurden zunächst zum Wiener Bahnhof (Dworzec Wiedeński) in Warschau eskortiert und durchgängig bewacht. Der spätere Marschall Polens trug eine Uniform der polnischen Legion, Sosnkowski war in Zivil. Beide wurden in einem Zugabteil der zweiten Klasse untergebracht. Ziel der Überführung war die Stadt Danzig, die aus unbekannten Gründen auf einem Umweg über Posen angesteuert wurde. Nach einem kurzen Halt in der Hauptstadt Großpolens setzte sich die Reise fort. In Danzig trafen die Gefangenen in der Nacht des 23. Juli ein und wurden dort in das Untersuchungs- und Strafgefängnis (das Königliche Gerichtsgefängnis zu Danzig) an der Schiesstange 12 (heute: ul. Kurkowa) überführt.
Der damals diensthabende polnische Gefängniswärter, Jan Bastian, erinnerte sich, dass
„der Herr Marschall höflich, aber schweigsam war“, und dass die Deutschen ihn wie einen „General“ behandelten.
[*] Ins Deutsche rückübersetzt, da der Originalwortlaut nicht aufzufinden war.
Die Gefangenen durften ihre Kleidung behalten und wurden in getrennten Zellen im dritten Stock inhaftiert. Piłsudski bekam eine komfortable Einzelzelle mit einem Fenster und einem Eisenbett. Der zweite Häftling bezog eine Zelle mit weniger Komfort.
„Typisch für dieses Gebäude“, so erinnerte sich General Sosnkowski, „war ein starker Widerhall, hervorgerufen durch die Konstruktion des Bauwerks als auch durch das Baumaterial, vermutlich alles Ziegelsteine, Beton und Eisen, sodass die Schritte unseres kleinen Zuges in der Stille der Nacht absolut entsetzlich klangen.“ (…) „ Meine Zelle“, ergänzte er, „maß circa fünf Schritte in der Länge und drei Schritte in der Breite und da ich nicht annehme, dass der Architekt der ehrbaren Institution, seine gestalterische Phantasie in der Einschätzung ihrer historischen Rolle besonders bemühte, stelle ich mithin fest, dass die Beschreibung meiner Zelle wohl ein treues Abbild der Zelle des Kommandanten sein wird.“
Die Haftbedingungen sind in Anbetracht der Stellung und der Offiziersränge der Inhaftierten als ehrenhaft und adäquat zu bezeichnen. Piłsudski wurde mit Presseerzeugnissen und Büchern versorgt. Die Mahlzeiten der beiden Häftlinge kamen aus dem Restaurant des Vanselow-Hotels am Heumarkt 3 (heute: Targ Sienny). Der Kommandant durfte sogar Wein zum Essen bestellen.
Bei alledem war es kein Zufall, dass Piłsudski und Sosnkowski in die frontnahe Stadt Danzig verbracht wurden. Die Gerichte der Stadt arbeiteten schnell, waren sehr streng und verhängten oft Todesurteile. In einem Prozess hätte das Urteil also sehr ungünstig für die Inhaftierten lauten können. Tatsächlich wurde versucht, Piłsudski wegen Urkundenfälschung anzuklagen. Indessen erfuhr der Pole Alojzy Rapior, Sekretär und beeidigter Übersetzer beim Kriegsgericht in Danzig, von der Sache (siehe: http://www.swzygmunt.knc.pl/MARTYROLOGIUM/POLISHRELIGIOUS/vPOLISH/HTMs/POLISHRELIGIOUSmartyr2263.htm). Er rief in Abwesenheit seines Vorgesetzten in Warschau an, um die POW und andere Stellen über die Überführung der Inhaftierten zu informieren. Insofern ist möglich, dass die Interventionen, die nach diesem Telefonat erfolgten, den Entschluss befördert haben, die beiden Festgenommenen in ein anderes Gefängnis in Deutschland zu verlegen.
Piłsudskis Zelle im Danziger Gefängnis gibt es immer noch. Die von der Initiative „Nasz Gdańsk“ (Unser Danzig) angeregte Gedenktafel wurde am 11. November 2009 am Gefängnistor in der ul. 3 Maja (Straße des 3. Mai) enthüllt. Die Zelle selbst ist der Öffentlichkeit jedoch nicht zugänglich. Man kann sie allerdings virtuell besichtigen (siehe: https://trojmiasto.tv/Cela-Pilsudskiego-326.html).
Berlin-Spandau, 30. Juli – 6. August 1917
Nach ihrem kurzen Aufenthalt in Danzig wurden Piłsudski und Sosnkowski einzeln nach Berlin verbrach, wobei sich ihre Wege nun für über ein Jahr trennten. Sie kamen in das Strafgefängnis in der Wilhelmstrasse in Spandau bei Berlin, heute ein Stadtteil der deutschen Hauptstadt. Das Gefängnis entstand in den Jahren von 1877 bis 1881. Im Ersten Weltkrieg wurden hier rund 400 Insassen gefangen gehalten, die von Militärgerichten verurteilt worden waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat hier der Naziverbrecher Rudolf Hess seine Strafe verbüßt. Nach seinem Tod im Jahre 1987 wurde das Gebäude abgerissen.
Die Haftbedingungen in diesem Gefängnis waren erheblich schlechter und das Reglement wesentlich rigoroser als in Danzig. Verköstigungen aus der Stadt waren nicht erlaubt. Morgens setzte man den Häftlingen dünnen Kaffee und eine Scheibe Schwarzbrot vor, mittags eine miserable Suppe und abends wiederholte sich das morgendliche Menü. Deutschland setzten damals Verpflegungsprobleme zu. Der „Steckrübenwinter” war erst wenige Monate zuvor zu Ende gegangen. Vor diesem Hintergrund gab es jedenfalls keinen triftigen Grund, die polnischen Häftlinge trotz ihrer hohen Ränge in besonderer Weise mit Proviant zu versorgen. Sie durften auch keine Bücher und keine Tagespresse lesen, was in dem monotonen Dasein eine empfindliche Schikane war. Das Licht wurde (aus Sparsamkeit!) schon um 19.30 Uhr ausgeschaltet, geweckt wurde um 5.00 Uhr. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal, in den Zellen hausten überall Wanzen. Zum Glück war auch der Aufenthalt in Spandau kurz.
Der Gefängnismitarbeiter Oskar Kempe erinnerte sich an Piłsudski, indem er nach Jahren sagte:
„Ein vornehmer Herr war er! Hochmütig, sprach wenig, hat nie irgendetwas verlangt, hat sich nie über irgendetwas beklagt, er kam nur von Zeit zu Zeit in das Büro des Oskar Kempe, wegen Zigaretten, von denen ich nicht mehr weiß, wer sie ihm schickte.“[*]
[*] Ins Deutsche rückübersetzt, da der Originalwortlaut nicht aufzufinden war.
Wesel, 6. – 23. August 1917
Am 6. August wurden Piłsudski und Sosnkowski, erneut jeder für sich, in die Festung Wesel am Niederrhein an die Grenze zu Holland verlegt. Dabei handelte es sich um eine der größten Verteidigungsanlagen im Rheinland, die um die Wende des 17. zum 18. Jahrhundert errichtet wurde. Sie wird heute als Kulturzentrum genutzt. Die Haftbedingungen waren hier besser. Der Kommandant der Festung legte sogar Protest zu Gunsten von Piłsudski ein, weil er die Meinung vertrat, dass die Internierung von Personen, gegen die keine Ermittlungen geführt werden bzw. die zu keiner Haftstrafe verurteilt wurden, nicht rechtens sei. Jahre später bat Piłsudski den deutschen Außenminister Gustav Stresemann in einem Gespräch in Genf, diesen kommandierenden Offizier der Festung und des Gefängnisses von ihm zu grüßen.
Kurz bevor die beiden Polen in der Festung Wesel einsaßen, machte Oberstleutnant Nothe, der Stabschef beim Warschauer Generalgouverneur, eine Mitteilung über die Gründe der Internierung. Er schrieb:
„(…) der Grund ihrer Verhaftung und Internierung ist, dass sich die von Piłsudski mit Sosnkowskis Hilfe geleitete geheime Militärorganisation (POW), die ultranationalistische Tendenzen zeigte, den Umständen entsprechend auch gegen die Besatzungsmacht richtete. Dies stellte eine große Gefahr für den Frieden und die militärische Sicherheit im Generalgouvernement dar, sodass Piłsudski unschädlich gemacht werden musste. Außerdem ist Piłsudski eine der wichtigsten politischen Persönlichkeiten in Polen,“ so Nothe, „der von der Bevölkerung wegen seiner Taten als Gründer und Anführer der Legionen als Nationalheld betrachtet wird.“[*]
Obwohl beiden Männern keine Vorwürfe eines Straftatbestands gemacht wurden, befahl Nothe, Piłsudski eingehend zu observieren. Er warnte, dieser sei ein mutiger Mensch, dem auch zuzutrauen sein zu flüchten. Sein ihm blind ergebener Adlatus Sosnkowski sei ebenso zu beobachtet.
Piłsudski war etwas mehr als zwei Wochen in Wesel. Seine vorzeitige Überführung nach Magdeburg sollen protestierende Polen bewirkt haben, die dort gearbeitet und seine Freilassung gefordert haben.
[*] Ins Deutsche rückübersetzt, da der Originalwortlaut nicht aufzufinden war.
Magdeburg, 23. August 1917 – 08. November 1918
Am 23. August 1917 wurde Piłsudski nach Magdeburg verlegt und dort in einem einstöckigen Holzhäuschen mit einem kleinen Garten untergebracht. Das Haus wurde nach der Zerstörung der Festung auf Beschluss der Stadt nach Polen übergeben, wo man es im Park am Belvedere in Warschau neu aufgebaut hat. Obwohl es den Krieg also überstand, verfiel es dort später zunehmend.
Die Aufenthaltsbedingungen waren hier viel besser als in der Spandauer Festung. Piłsudski bezog die erste Etage, in der ihm zwei Räume zur Verfügung standen. Rasch legte er sich einen geordneten Tagesablauf zu, auch wenn er nicht viele Möglichkeiten hatte, seine Zeit aktiv zu gestalten. Seinen Alltag beschrieb er nicht ohne Ironie in einem Brief an seine Familie wie folgt:
„Ich stehe um 7.30 Uhr auf, um 8.00 Uhr frühstücke ich, um 9.00 Uhr gehe ich in den Garten spazieren. Ich bin an keine Zeiten gebunden und bestimme meine Zeit an der frischen Luft selbst. Gewöhnlich bin ich zwei bis zweieinhalb Stunden draußen, sodass ich nach elf Uhr wieder in meiner Zelle bin, wo ich bis mittags Zeitung und Bücher lese. Von letzteren habe ich nicht sehr viele. Um 12.30 Uhr gibt es Mittagessen, ein relativ üppiges, üppiger jedenfalls als das, was ich in Warschau bekam. Nach dem Mittagsessen folgt die angenehmste Zeit: ich trinke meinen eigenen Tee, den ich mir brühe, dies ist der wärmste Augenblick in dem Zimmer [es war Dezember und die Zelle erwärmte sich nur kurz, danach kehrte die durchdringende Kälte wieder zurück], also gerate ich ins Träumen. Bei einer Zigarette und einem guten Tee schweifen die Gedanken bald und weit ab. Da ein solcher Zustand, hielte er eine längere Zeit an, ungesund ist, gehe ich zu dem ernsthafterem Teil des Tages über: zu den Schachstudien, die mich einige Stunden in Anspruch nehmen. In der Dämmerung gehe ich im Zimmer auf und ab und wenn das elektrische Licht angeht, höre ich mit dem Schach auf, um zu lesen und zu schreiben. Um halb sieben kommt das Abendebrot, nicht mal ein schlechtes. Danach arbeite ich nicht mehr, um die Augen zu schonen, sondern lege mit verschiedenen Intentionen unzählige Patiencen. Diese edle Beschäftigung unterbreche ich häufiger, um mir im Zimmer die Beine zu vertreten. Um zehn Uhr abends gehe ich zu Bett. Ich schlafe leicht ein und so beende ich meinen arbeitsreichen Tag.“
1918 wurde dem Gefangenen Ausgang in die Stadt gewährt, um in Begleitung eines Wachmannes einen Arzt aufzusuchen. Piłsudski litt an Herzschmerzen und Rheuma. In seinen Briefen beklagte er sich auch über seine schlechte psychische Verfassung, eine Folge des Nichtstuns und der Isolation. Mitglieder seiner Familie konnten ihn nicht besuchen, da ihnen die Behörden die Reisegenehmigung verwehrten. In der Internierung erfuhr Piłsudski von der Geburt seiner Tochter Wanda, allerdings erst nach einiger Zeit, da ihm das Telegramm bewusst vorenthalten wurde. Der Mutter des Kindes, seiner späteren Ehefrau Aleksandra Szczerbińska, schrieb er oft. Nach seiner Entlassung stellte sich dann heraus, dass sie nur einige dieser Briefe erhalten hatte. Ihre Lebensumstände waren im Übrigen schwer. Sie arbeitete in der Verwaltung eines Betriebs, der Gemüse trocknete, und hatte dort schon wenige Tage nach der Geburt wieder zur Arbeit zu erscheinen:
„Davon zu träumen, die Arbeit aufgeben zu können, fiel äußerst schwer; das Essen war miserabel: Suppe, Graupen und ganz erbärmliches Brot, das man kaum schlucken konnte. Ich aß in Kantinen, weil das Kochen zu Hause mangels Brennstoff ausgeschlossen war. Butter und andere Fette gab es kaum. In den Läden gab es auch kein Mehl.“
In Magdeburg ereilte Piłsudski die traurige Nachricht vom Tod seines Bruders Bronisław in Paris, der viel auf Reisen war, als Ethnologe den Fernen Osten erforschte und früher in der Verbannung lebte. Damals begann er damit, seine Erinnerungen an die Zeit als Legionär aufzuzeichnen. Die Erstausgabe von „Moje pierwsze boje“ (Meine ersten Kämpfe) erschien 1925. Ende August 1918, als die deutschen Behörden beschlossen, Kazimierz Sosnkowski aus dem Magdeburger Militärgefängnis in die Festung zu verlegen, ging Piłsudskis quälende Einsamkeit zu Ende. Die beiden Männer verbrachten nun ihre Zeit mit Schach, Diskussionen und Spaziergängen außerhalb der Festungsmauern.
Sosnkowski erinnerte sich: „Nach dem Mittag gingen wir unseren Beschäftigungen nach: Der Kommandant schrieb damals an seinen Erinnerungen von den Schlachtfeldern der Zeiten der Legion. (…) Ich muss jedoch gestehen, dass wir öfter dem Schachspiel frönten. Dabei sorgte unsere gemeinsame Leidenschaft für die noble Unterhaltung bisweilen für leichte Misstöne zwischen uns.“
Die Haft glich nun eher einer Internierung mit Annehmlichkeiten. Sehr oft wurden Ausgänge in die Stadt unternommen, die für Besuche im Dom, im Museum, in Parks und zur Besichtigung anderer Sehenswürdigkeiten genutzt wurden.
Außerdem gestattete man Piłsudski auch, Essen in der Stadt zu bestellen. Der erste Lieferant war das Hotel-Restaurant im Magdeburger Hof (Alte Ulrichstrasse 4), später kam es aus dem Bierrestaurant Patzenhofer in der Bärstrasse 1. Die erhaltenen Belege aus dieser Zeit legen den Grund für den Wechsel der Küche nahe: die überhöhten Preise im Magdeburger Hof, dem der polnische Häftling für Gemüsesuppe mit Fleischeinlage und ein Abendbrot monatlich rund 700 Mark zahlte, während es im Patzenhofer nur 350 Mark waren. Die deutsche Regierung wandte für seine Verpflegung monatlich 250 Mark auf. Den Rest übernahm das Generalgouvernement Warschau, das dreimal Zuschüsse von 1.000 Mark gewährte. Weitere Gelder flossen Piłsudski von polnischen Parteifreunden zu, sodass er insgesamt über zehn Tausend Mark verfügte. Der Restbetrag von 1.445 Mark wurde ihm später trotz der Revolution vom deutschen Staat ausbezahlt.
Die Entlassung aus dem Gefängnis
Der Aufenthalt in Magdeburg war für Piłsudski belastend und beschwerlich, politisch aber ein Erfolg. Der hinter Festungsmauern isolierten Anführer galt als Opfer deutscher Verfolgung und wurde so nach und nach zu einem Symbol des Kampfes gegen die Besatzer. Zudem blieb es Piłsudski erspart, für eine der beiden Konfliktparteien in Polen zu votieren. Er war an den politischen Auseinandersetzungen nicht beteiligt und musste sich weder zu dem von den Besatzungsmächten im September 1917 gebildeten Regentschaftsrat (Rada Regencyjna), dem höchsten Organ im Königreich Polen, noch zur Polnischen Wehrmacht (Polska Siła Zbrojna) bekenne. Er wandte sich zwar nach seiner Verhaftung mit dem Gesuch an den Rat, sich um seine Entlassung zu bemühen, betonte jedoch, dass es sich um eine rein private Angelegenheit handele. Die Entlassung sollte aus familiären Gründen erfolgen.
Indessen organisierten seine Mitarbeiter in Polen viele Demonstrationen für ihn, sodass er immer populärer wurde, und zwar nicht nur als Anführer einer Partei, sondern als Anführer des ganzen polnischen Volkes. Er genoss den Ruf, ein kompromissloser Kämpfer für die Unabhängigkeit zu sein und seine Chancen, das höchste Amt im Staat zu erklimmen, nahmen nach seiner Rückkehr aus Magdeburg nach Warschau deutlich zu.
Die Umstände der Freilassung von Piłsudski und Sosnkowski sind gut bekannt. Daher gehe ich im Folgenden nur noch einmal auf die wichtigsten Fakten ein. In Anbetracht der katastrophalen Situation Deutschlands in der Phase des Kriegs erinnerte man sich in Berlin wieder an Piłsudski. Reichskanzler Prinz Max von Baden sandte Harry von Kessler, einen Offizier der preußischen Kavallerie, aus, den Piłsudski bereits im Spätherbst 1915 bei Koszyszcze in Wolhynien getroffen hatte. Kessler stellte den Häftlingen ein Lebensmittelpaket zu. Der eigentliche Grund seines Besuchs galt jedoch dem Austausch von Erinnerungen aus den Schützengräben. Der Bote aus Berlin überbrachte ein Schreiben von General Hoffmann, dem Chef des Generalstabs an der Ostfront, in dem Piłsudski für die Zusicherung, nicht gegen Deutschland zu agitieren, die Freilassung angeboten wurde. Er wies diese Offerte zurück, da er wusste, dass die Zeit jetzt für ihn arbeitete.
Trotz Piłsudskis Weigerung sich zu fügen, erging zu Beginn der Revolution, die vom 7. auf den 8. November in Berlin ausgebrochenen war, der Beschluss, ihn und Sosnkowski aus dem Gefängnis zu entlassen. Am 8. November zeigte sich Graf Kessler erneut in der Haft, um die beiden Gefangenen abzuholen und so schnell wie möglich nach Berlin zu bringen.
Unterdessen wütete auch in Magdeburg schon die Revolution. Die Kommunikation mit anderen Teilen Deutschlands drohte abzureißen. Eile war geboten. Die beiden Polen hatten nur Zeit, das Nötigste mitzunehmen. Ihr restliches Hab und Gut sollte ihnen später nachgeschickt werden (das Manuskript des Buches „Meine ersten Kämpfe" erreichte Piłsudski erst 1924). Die nun befreiten Häftlinge und Graf Kessler wurden von Major Paul van Gülpen, dem damaligen Chef des Transports, mit einem Kraftfahrzeug abgeholt. In seinem 1936 publizierten Bericht über dieses Ereignis verschwieg van Gülpen die Rolle Kesslers mutmaßlich, weil dieser im Dritten Reich nach seinem Gang ins Exil im Jahr 1933 nicht mehr gelitten war oder weil er seine Verdienste in dieser Episode mit der Führungsikone des Nachbarlandes hervorheben wollte.
In die Festung kam niemand ohne Weiteres hinein, sodass sich eine resolute und mutige Mitarbeiterin als sehr hilfreich erwies, die van Gülpen bei sich hatte.
„Die Straßen waren voll von einer aufgebrachten Menge“, erinnerte sich van Gülpen. „Die Stenotypistin, die versuchte, das Fahrzeug über die Strombrücke zur Zitadelle zu leiten, brachte ein paar Lappen am Auto an und schrie, als hätte man ihr die Haut abgezogen: Auf Seite, auf Seite! Wir fahren zur Zitadelle, um politische Gefangene zu befreien!“[*]
Die Genehmigung für die Autofahrt von Magdeburg nach Berlin (wegen der Revolution war keine Reise mit dem Zug möglich) erhielt van Gülpen von der Militärbehörde, nachdem er sich akribisch vorbereitet hatte. Er hatte Ersatzräder und Feuerwaffen in seinem Audi dabei, wobei sich vor allem die Ersatzräder bewähren sollten. Die Reisenden mussten oft anhalten und die „Kriegsräder“ wegen ihrer schlechten Qualität wechseln. Van Gülpen erinnerte sich wie folgt:
„Während dieser Fahrt hatte Piłsudski die Gelegenheit, den Glanz und das Elend eines Automobilisten kennenzulernen. Luftreifen gab es damals nur als Surrogate im Land. Es war, wie man sagte, ein Brei aus faulen Kartoffeln, den man in die auf den Felgen montierten Reifen füllte. Solange sie nicht heiß wurden, fuhr es sich sehr angenehm, sobald aber die Geschwindigkeit 40 km/h überschritt, quoll der Brei durch die Hitze, was die Reifen zum Platzen brachte. Das Auto kam sofort zum stehen und auf den letzten zwanzig Metern lagen stinkende Kartoffelpuffer herum. Wenn so ein Unglücksfall mitten in einem Ort geschah, liefen aus allen Richtungen Hunde herbei, warfen sich auf die Küchlein, um nach einer Weile jaulend und mit verbrannten Mäulern davonzulaufen.“[*]
Unterwegs haben die Reisenden morgens in dem kleinen Städtchen Genthin Rast gemacht. In Berlin kamen sie am Abend des 8. November an und hielten kurz bei van Gülpens Wohnung in der Reichstrasse 9. Er bewirtete sie mit Kognak und sie trugen sich in sein Gästebuch ein. Die Ordnung der vornehmen vorrevolutionären Welt, in der die Offiziere, auch unter Feinden, zunächst Gentleman waren, galt hier noch. Danach bezogen die ehemaligen Häftlinge ein Appartement im ersten Stock des luxuriösen Hotels Continental in der Neustädtische Kirchstraße.
[*] Ins Deutsche rückübersetzt, da der Originalwortlaut nicht aufzufinden war.
[*] Ins Deutsche rückübersetzt, da der Originalwortlaut nicht aufzufinden war.
Im Zentrum der Revolution
Am nächsten Tag, also in den Morgenstunden des 9. Novembers, beschlossen die Polen, in die Stadt zu gehen. Piłsudski hatte keinen Degen, wollte aber, da er uniformiert war, nicht ohne Waffe auf die Straße gehen. Graf Kessler kam ihm zur Hilfe. Die Lösung des Problems nahm einige Stunden in Anspruch. Weil alle Waffendepots geschlossen waren, überließ er ihm sein eigenes Bajonett. Sosnkowski stellte dazu fest: „Das Bajonett war auch in den Legionen ein gewöhnliches Seitengewehr, welches im Felde getragen wurde". Piłsudski und Sosnkowski flanierten im Zentrum der deutschen Hauptstadt: von der Friedrichstraße ging es zur Leipziger Straße, danach zum Pariser Platz und zur Unter den Linden, der renommierten Hauptverkehrsachse der Stadt. Da sie die Einladung zu einem späten Frühstück angenommen haben, kehrten sie im Restaurant Hiller Unter den Linden ein. Es war an der Zeit, zum Geschäftlichen überzugehen, was die deutsche Seite wohl auch wollte, da sie dort bereits von den Vertretern des deutschen Außenministeriums erwartet wurden. Sosnkowski hat dieses Treffen als "Gastmahl der Pestkranken" bezeichnet:
„(…) Das Frühstück wurde in einem kleinen Extrasaal gedeckt,“ erinnerte er sich, „der sich nicht an der Straße, sondern im hinteren Bereich des Lokals befand. Ein Spalier von Lakaien in tadellosen Fracks, ein prachtvoll gedeckter Tisch, die schneeweiße Tischdecke, Blumen, das strahlende Silber, das leuchtende Kristallglas und die üppigen Vergoldungen des altdeutschen Stils waren überflutet vom elektrischen Licht, das von den Kronleuchtern fiel. Die Außenjalousien an den Saalfenstern waren blickdicht geschlossen. Prinz Hatzfeld, Graf Kessler, van Gülpen und ich waren in Zivil, nur der Kommandant hatte seine bescheidene, abgegriffene Uniform an, die sich als grauer Fleck seltsam von dem Gesamtbild abhob.“
Beim Essen versuchten die Deutschen erneut, eine Erklärung von Piłsudski zu erwirken, mit der er sich verpflichten sollte, nichts gegen Deutschland zu unternehmen, doch er lehnte erneut explizit ab. Angesichts der aktuellen politischen Situation war den Deutschen bewusst, dass sie weder über ein Druckmittel noch über Anreize verfügten. Allerdings war die Gewährleistung von Ordnung in den Gebieten wichtig, durch die sich die deutschen Truppen, die rasch aus dem Osten abgezogen werden sollten, zurückzuziehen hatten. Weiter miteinander zu sprechen, war damit sinnlos geworden, zumal die Anwesenden bereits Rufe von der Straße vernahmen. Die Revolution in Berlin war voll im Gange. Die Teilnehmer dieses Frühstücks verließen das Restaurant Hiller in Eile und ohne eine Deklaration der Polen. Die Revolution und die Abdankung des deutschen Kaisers Wilhelm II. beschleunigten die weiteren Schritte. Graf Kessler appellierte an seine Vorgesetzten, Piłsudskis sofortige Ausreise aus der Stadt zu veranlassen:
„(…) Es war klar, dass es höchste Zeit war, Piłsudski aus Berlin zu bringen (die Maikäferkaserne war schon gestürmt)“, schrieb Graf Kessler in der „Frankfurter Zeitung“ vom 7. Oktober 1928. „Also ging ich mit [Hermann] Hatzfeld in das Kriegsministerium, um einen Sonderzug zu fordern. Empfangen wurden wir von einem Major des Generalstabs, der, wie zu besten Kriegstagen, zerstreut und voller Ironie war: Für ihn war Piłsudski immer noch ein ganz gewöhnlicher ‚Schurke‘ (…)“.[*]
[*] Ins Deutsche rückübersetzt, da der Originalwortlaut nicht aufzufinden war.
Die Rückkehr nach Warschau
Piłsudski und Sosnkowski verließen Berlin am Abend des 9. November mit einem kurzen Zug aus nur einem Waggon vom Bahnhof Friedrichstrasse, der sich in der Nähe des Hotels Continental befand, wobei sie nur von Paul van Gülpen begleitet wurden. Manche Quellen geben hier fälschlicherweise an, dass Graf Kessler ebenfalls zugegen gewesen sei. Der aber verabschiedete die Polen im Hotel und blieb noch einige Tage in der deutschen Hauptstadt. Auf der Fahrt entspann sich zwischen Piłsudski und van Gülpen eine Unterredung über das Verhältnis zu Deutschland und die deutsch-polnischen Beziehungen (Piłsudski sprach gut Deutsch, soll aber einen starken polnischen Akzent gehabt haben).
„Die lange Fahrt nach Warschau und die Lage, in der wir uns befanden, gaben mir die Gelegenheit, ein Gespräch über aktuelle Themen zu führen, das offener sein konnte als unter normalen Umständen. In den Gesprächen konnte ich mich davon überzeugen, dass Piłsudski im Grunde genommen uns gegenüber freundschaftlich gesonnen und auch zutiefst davon überzeugt war. Mehrfach sagte er, er habe gerne gemeinsam mit den Deutschen gekämpft, da wir immer treue Nachbarn und Waffenbrüder waren, auf die man sich verlassen konnte. Warum sollten also jetzt zwei neue Nationen nicht mit einer friedfertigen Politik beginnen können? Beide sind abhängig voneinander und können sich mit guten Willen verständigen.“[*]
In Thorn wurden die Reisenden abermals von der deutschen Revolution eingeholt. Der Soldaten- und Arbeiterrat hatte bereits das Kommando über den Bahnhof übernommen. Der Zug wurde angehalten. Die Rollen wechselten. Jetzt musste Piłsudski van Gülpens Schutz übernehmen.
In den Morgenstunden des 10. November fuhr der Zug in den Wiener Bahnhof in Warschau ein. Nur eine kleine Gruppe begrüßte die Ankömmlinge, darunter Fürst Zdzisław Lubomirski und ein Paar Funktionäre der POW. Nach dem Frühstück mussten schnell ein paar Utensilien eingekauft werden, da die beiden Rückkehrer nicht einmal Wechselwäsche besaßen. Nach einer kurzen Verschnaufpause wandte sich Piłsudski an die versammelte Menschenmenge, die schon von seiner Ankunft erfahren hatte. Seine Rede war weder lang noch mitreißend, verschaffte ihm jedoch die Gelegenheit, seinen Landsleuten seinen Kampfeswillen und sein Ethos zu verkünden:
„Bürger! Warschau begrüßt mich zum dritten Mal. Ich glaube daran, dass wir uns viele Male unter glücklicheren Umständen sehen werden. Ich habe immer schon und werde weiterhin meiner Heimat und dem polnischen Volk mit meinem Leben und meinem Blut dienen. Ich grüße euch nur kurz, da ich erkältet bin. Ich habe Hals- und Brustschmerzen.“
[*] Ins Deutsche rückübersetzt, da der Originalwortlaut nicht aufzufinden war.
Aleksandra Szczerbińska und seine Tochter Wanda konnte er erst am Nachmittag sehen. Danach überstürzten sich die Ereignisse. Am 11. November übernahm Józef Piłsudski vom Regentschaftsrat das Oberkommando des polnischen Militärs. Am nächsten Tag gab er eine Erklärung darüber ab, dass der Rat ihn gebeten habe, eine nationale Regierung zu bilden.
Van Gülpen blieb zwei Tage in Warschau und wohnte dort in einem Privatquartier. Vor seiner Abreise nach Berlin erhielt er vom Piłsudski ein Foto mit persönlicher Widmung. Auf der Rückreise stand ihm ein eigenes Abteil zur Verfügung, das nur „für die Regierung“ reserviert war. Graf Kessler wurde kurze Zeit später zum deutschen Gesandten in Polen ernannt. Er hielt sich vom 20. November bis zum 15. Dezember 1918 in Warschau auf, wobei unter anderem die Lösung aller Probleme im Zusammenhang mit der Rückführung deutscher Truppen in sein Ressort fiel.
Einige Monate später, im März 1919, gab Józef Piłsudski der französischen Zeitung „Le Petit Parisien“ ein Interview und ließ keinen Zweifel daran, was er über den deutschen Diplomaten Graf Kessler und dessen Anteil an seiner Befreiung aus dem Gefängnis dachte. Für Piłsudski war sie, nicht ohne Grund, einfach eine Facette in einem politischen Spiel:
„Ich kannte ihn persönlich und hatte während des Kriegs als Anführer der Legionen mit ihm zu tun“, sagte Piłsudski. „Er wusste, die Revolution wird mich befreien. Er wollte den Eindruck wecken, mich befreit zu haben, und stellte sich zweifellos auch vor, dass er mir damit in den Augen der Koalition schaden würde, während die beiden Jahre im deutschen Gefängnis in Vergessenheit geraten würden.“
Krzysztof Ruchniewicz, Juni 2018
Die Zitate stammen aus:
P. van Gülpen, Moje Spotkanie z Piłsudskim(Meine Begegnung mit Piłsudski), in: „Niepodległość”, Bd. 14 (Juli–Dezember 1936), S. 441–447;
Interview aus „Le Petit Parisien“ (16.03.1919), in: Józef Piłsudski, Pisma zbiorowe (Gesammelte Schriften), Bd. 5, Warschau 1937, S. 66;
Wacław Lipiński, Uwolnienie Józefa Piłsudskiego z Magdeburga według relacji hr. Harry Kesslera (Die Befreiung Józef Piłsudskis aus Magdeburg nach dem Bericht von Harry Graf Kessler), in: „Niepodległość”, Bd. 18 (November–Dezember 1938), S. 462–469;
M. J. Wielopolska, Więzienne drogi Komendanta. Gdańsk-Szpandawa-Wesel-Magdeburg (Haftwege des Kommandanten. Danzig-Spandau-Wesel-Magdeburg), Krakau 1939;
Aleksandra Piłsudska, Wspomnienia (Erinnerungen), London 1960;
Wacław Jędrzejewicz, Kronika życia Józefa Piłsudskiego 1867–1935(Die Lebenschronik Józef Piłsudskis 1867–1935), Bd. 1: 1867–1920, London 1977.
Ausstellung:
Die Ausstellung im „Ravelin 2“ zeigt die Geschichte der Festung und der Zitadelle Magdeburg. Ausgestellt wird ebenfalls ein Miniatur-Nachbau des Holzhauses, in welchem Piłsudski inhaftiert war.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 5. Juni 2018 in Warschau: