Henryk Nazarczuk: Polnische Kriegsgräber in Deutschland. Eine Topographie des Todes

Deutschlandkarte mit der Topographie des Todes
Deutschlandkarte mit der Topographie des Todes (per Hand aufgeklebte Punkte im Zeitraum ca. 1985-2017)

Kehren wir zur Chronologie zurück: Wir haben nachgerüstet, einen neuen Computer und einen Fotokopierer gekauft und als wir diese fast schon professionelle Ausstattung hatten, setzte meine Frau noch einen drauf und schaffte eine leistungsfähige Digitalkamera an, womit sie zu verstehen gab, dass sie meine patriotische Beschäftigung akzeptiert. Sie hat es jedoch nicht nur akzeptiert, sondern auch engagiert mitgeholfen. Nach ein paar Jahren kannte sie sich in der Topographie des Todes polnischer Frauen, Männer und Kinder bestens aus.

Nun könnte man meinen, dass wir nach Jahren des Umgangs mit diesem Thema uns an es „gewöhnt hätten”. So war es aber nicht. Wir stießen ständig auf Fakten und Unterlagen, die uns schockierten: Morde an neu geborenen Kindern der Zwangsarbeiterinnen (Braunschweig), Tötungen durch übermenschliche Arbeit in den Konzentrationslagern, Verbrechen im Rahmen des T-4-Programms (Euthanasie) in Hadamar und an zig weiteren Orten, brutale Morde in speziellen Straflagern, sinnloses und brutales Töten der Konzentrationslagerhäftlinge durch ”Todesmärsche” in den letzten Kriegstagen, Karawanen, die zu Hunderten durch das Reichsgebiet zogen, tausende Massengräber, hunderte Leichen der in einer Scheune in Gardelegen bei lebendigem Leibe verbrannten Menschen und zigtausende Tote in den Straßengräben und am Wegesrand. Was uns entsetzte, war das ungeheuerliche Ausmaß dieser Verbrechen.

Es gab Momente, in denen wir überlegt haben, ob wir das Alles wissen wollten, und dies umso mehr, als in den deutschen Behörden, die darüber zu entscheiden hatten, ob mir Auskünfte erteilt werden oder nicht, immer noch die erste Kriegsgeneration anzutreffen war. Die Reaktionen auf den Friedhöfen waren verschieden: Sie reichten von einer „Gehstockattacke“ einer älteren Frau in Moringen, die schrie „unsere fielen in Russland“, bis hin zu Interesse und Gesprächsbereitschaft.

Auf dem größten Kriegsfriedhof Deutschlands in Halbe (Brandenburg), erblickte ich, nach dem ich alles notiert und ein paar Fotos gemacht hatte, an meinem Auto eine Gruppe junger Leute. Sie waren nicht mehr aus der DDR und noch nicht aus der BRD, aber bereits „westlich” äußerst kurzgeschoren (es war ein Sommertag), mit bekanntem Schuhwerk, bierselig und fragten: „Was machst Du hier so spät”. Nach einer fast einstündigen Erzählung über die Kämpfe im April 1945 („Kessel von Halbe”) und über die Existenz eines Lagers des sowjetischen NKWD nach dem Krieg, zeigte ich ihnen die Fotos und meine Notizen. Es stellte sich heraus, dass sie nichts davon wussten, wer nur ein paar hundert Meter von ihrem Lieblingstreffpunkt an der örtlichen Theke entfernt ruhte. Meine Absage auf ihre Einladung zu einem gemeinsamen Schluck nahmen sie verständnisvoll an: „ok, wenn er noch fahren muss”.

Mediathek
  • Deutschlandkarte mit der Topographie des Todes

    Per Hand eingeklebte Punkte im Zeitraum ca. 1985-2017
  • Henryk Nazarczuk

    Vor seiner Deutschlandkarte mit den Eintragungen der polnischen Kriegsgräber
  • Das erste von Tausenden Gräbern, die er dokumentierte

    Keine Angabe zum Ort
  • Lagerfriedhof in Husum-Schwesing

    KZ-Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme
  • Namenlose Grabstätte für polnische, russische und ukrainische Kinder in Hannover

    Gedenkort auf dem Friedhof Hannover-Seelhorst.
  • Gedenkort auf dem Friedhof Hannover-Seelhorst

    Sicht von der gegenüberliegenden Seite
  • Autoatlas mit Eintragungen der Gräber von Henryk Nazarczuk

    Mit Markierungen aus dem Zeitraum ca. 1985-2017
  • Materialsammlung zum Atlas der Gräber von Henryk Nazarczuk

    Handschriftliche Notizen, kopierte Quellen und Karten. Deutsch und Polnisch.
  • Henryk Nazarczuk - Video besuchter Friedhöfe

    Entstehungszeitraum unbekannt. Veröffentlicht auf Porta Polonicum mit der Genehmigung von Henryk Nazarczuk
  • Henryk Nazarczuk, 2016

    Henryk Nazarczuk in Hannover, 2016