Henryk Nazarczuk: Polnische Kriegsgräber in Deutschland. Eine Topographie des Todes
Eine Dokumentation polnischer Kriegsgräber aus den Jahren 1939 bis 1952 auf deutschem Gebiet in den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland
Für Małgorzata
Damit das Wissen über das Verbrechen nicht mit dem Tod der Verbrecher stirbt.
1945 kehrten meine Eltern mit ihrer „Kriegstrophäe” aus der Zwangsarbeit im Deutschen Reich zurück. Vater Aleksander mit der wunderschönen Maria und mit mir in ihrem Bauch, dem möglicherweise bei einem der Bombenteppiche bei Dresden gezeugten Sohn. Geboren wurde ich dann im kalten Herbst 1945 im verkleinerten Land meiner Ahnen. Mama war es weder vergönnt, nach Hause zurückzukehren noch ihre Familie wiederzufinden, die seit dem 17. September 1939 als verschollen galt, irgendwo östlich von Stanisław[1] (seit 1945 in der Sowjetunion liegend, heute in der Ukraine). Die größte Errungenschaft meiner Eltern war daher, den Krieg überlebt zu haben.
Nach Jahren, als ich gerade über den Tischrand lugen konnte, lauschte ich ungewollt den Gesprächen und Erinnerungen meiner Eltern und ihrer Freunde, die das Schicksal verschonte und sie lebend zurückkommen ließ: darunter andere Zwangsarbeiter und ein ehemaliger Kriegsgefangener, der sonntags zu Besuch erschien, gekleidet in einer Soldatenjacke von 1939 und mit einer Konfederatka[2] auf dem Kopf, an der ein Adler aus Metall angebracht war. Später wurden diese Treffen seltener und die Themen der Gespräche andere. Der Anteil der Kriegsmotive sank umgekehrt proportional zu meinem fortschreitenden Alter. Irgendwann fing ich dann an, Fragen zu stellen (ich fand ein Foto der Eltern von ihrem Aufenthalt als Zwangsarbeiter), doch Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre wurden Fragesteller meist mit den Worten abgewimmelt: „Ach, was soll’s denn, das ist schon Geschichte”, oder es wurde eine Familienanekdote erzählt, im Sinne von „Könnt ihr euch erinnern, wie Tante Maryśka alle Schuhe des Bauers blank gewienert hat...”
Schließlich kamen unruhige, interessante und ereignisreiche Jahre auf. Der Kniefall des Kanzlers Willy Brandt in Warschau. Die mir zu Ohren gekommene Nachricht von geplanten Entschädigungen für die Zwangsarbeiter (die Eltern). „Der Trimmpfad[3] für die streikenden Arbeiter” 1976 in Radom. Der Zweite Weltkrieg kam nur noch im Kino und im Fernsehen vor. Immer häufiger und immer genauer (im zweiten Umlauf)[4] erfuhren wir von den Kriegsverbrechen nach dem 17. September 1939 im Osten.
Ich heiratete. Das Schicksal beschenkte uns mit zwei Kindern. Heißer Sommer 1980 und „Solidarność”.
[1] Deutsch Stanislau, heute Iwano-Frankiwsk.
[2] Traditionelle nationale Kopfbedeckung mit einem viereckigen „Deckel“. Im Polnischen auch rogatywka genannt.
[3] Sarkastische Bezeichnung für eine Peinigung in der Volksrepublik Polen, die Oppositionelle erfuhren; entspricht dem deutschen Spießrutenlauf.
[4] Polnisch „drugi obieg“. Eine Bezeichnung für Publikationen, die jenseits des offiziellen Verlagswesens (im Untergrund) erschienen.