Henryk Nazarczuk: Polnische Kriegsgräber in Deutschland. Eine Topographie des Todes
Meine Dokumentation entstand in dem Moment, als ich den ersten, auf Polnisch verfassten Zettel mit den Angaben zu den „anderen” Gräbern notierte, also im Frühjahr 1986, auf dem jüdischen Friedhof einer deutschen Stadt an der Weser, in Holzminden.
Bis zu dem Tag, an dem der Kontakt zur „Porta Polonica” entstand, habe ich in 30 Jahren ehrenamtlicher Tätigkeit, getragen von dem Verständnis und später auch von der Hilfe der Familie (vor allem meiner Frau), mühsam, da nur in meiner privat verfügbaren Zeit, ein ganzes Archiv aufgebaut. Auf der Landkarte Deutschlands, auf die ich bunte Punkte aufgeklebt habe, die auf den Status eines Grabes hinweisen, befinden sich heute rund sieben tausend Markierungen, von denen über vier tausend sichere (verifizierte und dokumentierte) Orte sind, in denen sich polnische Kriegsgräber aus dem Zweiten Weltkrieg befinden oder befanden. Die übrigen Punkte weisen auf Informationen über Lager oder Ereignisse hin, etwa auf Exekutionsorte oder auf Orte, an denen Menschen während der „Todesmärsche” getötet wurden. Hier sind noch nähere Angaben einzuholen.
Außerdem sind ein paar tausend Fotos Teil der Dokumentation, die anfangs noch analog und später dann digital angefertigt wurden, sowie ein paar hundert (ich hab sie nicht gezählt) klassisch, also in Papierform vorliegende Namenslisten polnischer Kriegsopfer, die ich von Behörden erhalten bzw. in Behörden am Kopierer „erstanden” habe und die sich meist auf Orte in Niedersachsen beziehen, also auf das Bundesland, in dem ich wohne. Einige Dutzend dieser Listen, vor allem die umfangreichen Verzeichnisse der Opfer in den Konzentrationslagern, sind bereits digital zugänglich. Die Dokumentation beinhaltet darüber hinaus unzählige Dokumente in Kopie und weitere Unterlagen mit Informationen, die ich von Ämtern oder von Privatpersonen erhielt sowie Notizen, Lageskizzen und Ausschnitte aus Zeitungen und anderen Publikationen. Und noch etwas: In den 30 Jahren, in denen ich nach Informationen wie ein Durstiger in der Wüste in wissenschaftlichen Publikationen nach Hinweisen auf dieses Thema suchte, habe ich festgestellt, dass solche Quellen sogar in Deutschland, geschweige denn in Polen, Mangelware sind. Dennoch konnte eine relativ große Quellenbibliothek mit über 250 Titeln entstehen.
Nun, genug in eigener Sache! Eine Dokumentation, die jedermann im Internet aufrufen und deren Informationen er frei verwenden kann, bedarf keiner Werbung, getreu dem alten Spruch der Polen: „Koń, jaki jest, każdy widzi“ (Das Pferd, wie es ist, sieht doch jeder).[8]
Bislang habe ich nie auf mein Alter geachtet. Heute stelle ich jedoch fest, dass ich wohl „in die Jahre” gekommen bin, die Gesundheit ist nicht mehr die beste und die Welt hat wieder mal einen Zahn zugelegt, auch in Polen, wo die Dokumentation in den „verdienten Ruhestand” gehen sollte. Noch vor geraumer Zeit hegte ich diesbezüglich keinen Zweifel. Doch nach den schlechten Erfahrungen, die ich mit der älteren Papierdokumentation in Polen gemacht habe, die vermutlich irgendwo im Nirgendwo liegt oder in einem unbekannten Keller verstaubt (nach dem Tod von Andrzej Przewoźnik gelang es mir nicht, diesen Ort ausfindig zu machen), suche ich nach einem alternativen Aufbewahrungsort. Die Zusicherung, dass ich damals und jetzt ein „Patriot” sei, hat dieser älteren Papierdokumentation jedenfalls keinen ruhigen Aufbewahrungsort garantiert. Die polnischen Organisationen in Deutschland zeigen mit wenigen Ausnahmen (Hamburg und aus Pflichtgefühl Hannover sowie zu Beginn meiner Tätigkeit auch München) kein besonderes Interesse an ihr.
[8] Dieser Spruch stammt von dem polnischen Priester Benedykt Chmielowski (1700-1763), dem Verfasser der ersten polnischen Enzyklopädie. Er bedeutet so viel wie: Etwas ist so klar, dass man darüber nicht reden muss.