Henryk Nazarczuk: Polnische Kriegsgräber in Deutschland. Eine Topographie des Todes

Deutschlandkarte mit der Topographie des Todes
Deutschlandkarte mit der Topographie des Todes (per Hand aufgeklebte Punkte im Zeitraum ca. 1985-2017)

Eine Dokumentation polnischer Kriegsgräber aus den Jahren 1939 bis 1952 auf deutschem Gebiet in den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland
 

Für Małgorzata

Damit das Wissen über das Verbrechen nicht mit dem Tod der Verbrecher stirbt.

 

1945 kehrten meine Eltern mit ihrer „Kriegstrophäe” aus der Zwangsarbeit im Deutschen Reich zurück. Vater Aleksander mit der wunderschönen Maria und mit mir in ihrem Bauch, dem möglicherweise bei einem der Bombenteppiche bei Dresden gezeugten Sohn. Geboren wurde ich dann im kalten Herbst 1945 im verkleinerten Land meiner Ahnen. Mama war es weder vergönnt, nach Hause zurückzukehren noch ihre Familie wiederzufinden, die seit dem 17. September 1939 als verschollen galt, irgendwo östlich von Stanisław[1] (seit 1945 in der Sowjetunion liegend, heute in der Ukraine). Die größte Errungenschaft meiner Eltern war daher, den Krieg überlebt zu haben.

Nach Jahren, als ich gerade über den Tischrand lugen konnte, lauschte ich ungewollt den Gesprächen und Erinnerungen meiner Eltern und ihrer Freunde, die das Schicksal verschonte und sie lebend zurückkommen ließ: darunter andere Zwangsarbeiter und ein ehemaliger Kriegsgefangener, der sonntags zu Besuch erschien, gekleidet in einer Soldatenjacke von 1939 und mit einer Konfederatka[2] auf dem Kopf, an der ein Adler aus Metall angebracht war. Später wurden diese Treffen seltener und die Themen der Gespräche andere. Der Anteil der Kriegsmotive sank umgekehrt proportional zu meinem fortschreitenden Alter. Irgendwann fing ich dann an, Fragen zu stellen (ich fand ein Foto der Eltern von ihrem Aufenthalt als Zwangsarbeiter), doch Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre wurden Fragesteller meist mit den Worten abgewimmelt: „Ach, was soll’s denn, das ist schon Geschichte”, oder es wurde eine Familienanekdote erzählt, im Sinne von „Könnt ihr euch erinnern, wie Tante Maryśka alle Schuhe des Bauers blank gewienert hat...”

Schließlich kamen unruhige, interessante und ereignisreiche Jahre auf. Der Kniefall des Kanzlers Willy Brandt in Warschau. Die mir zu Ohren gekommene Nachricht von geplanten Entschädigungen für die Zwangsarbeiter (die Eltern). „Der Trimmpfad[3] für die streikenden Arbeiter” 1976 in Radom. Der Zweite Weltkrieg kam nur noch im Kino und im Fernsehen vor. Immer häufiger und immer genauer (im zweiten Umlauf)[4] erfuhren wir von den Kriegsverbrechen nach dem 17. September 1939 im Osten.

Ich heiratete. Das Schicksal beschenkte uns mit zwei Kindern. Heißer Sommer 1980 und „Solidarność”.

 

[1] Deutsch Stanislau, heute Iwano-Frankiwsk.

[2] Traditionelle nationale Kopfbedeckung mit einem viereckigen „Deckel“. Im Polnischen auch rogatywka genannt.

[3] Sarkastische Bezeichnung für eine Peinigung in der Volksrepublik Polen, die Oppositionelle erfuhren; entspricht dem deutschen Spießrutenlauf.

[4] Polnisch „drugi obieg“. Eine Bezeichnung für Publikationen, die jenseits des offiziellen Verlagswesens (im Untergrund) erschienen.

13.12.1981 - Gefängnis. Begründung zum Internierungsbeschluss Nr. 4/81: ”…würde die Sicherheit des Landes und die öffentliche Ordnung dadurch gefährden, dass er mit der Organisation gesellschaftlicher Unruhen befasst ist”. Anschuldigungen, Drohungen oder beides zugleich waren an der Tagesordnung und schließlich fand ich mich im Land der Leute wieder, von denen mir meine Eltern und ihre Freunde aus der Zeit, die sie durch dasselbe Schicksal im Dritten Reich miteinander verband, erzählten.

1986, als ich bereits Angestellter einer Restaurierungsfirma für Steine in Hannover war (es war die Zeit, in der viele „unbekannte” Täter historische jüdische Friedhöfe verwüsteten und zerstörten), arbeitete ich mit meinen Kollegen in Holzminden an der Weser zusammen. Am Rande des Schlachtfeldes, dem der jüdische Friedhof damals glich (zig umgestürzte und teilweise zerstörte Grabsteine), fast von Pflanzen überwachsen, stand ein Grabstein, größerer und anders als die anderen, in Form einer roten Sandsteinplatte, in die folgende deutsche Inschrift eingemeißelt war:

„Als Opfer des Krieges wurden hier in den Jahren 1942-1945 vier russische Soldaten sowie 17 polnische Staatsangehörige zur letzten Ruhe bestattet.”

Auf einem Blatt Papier zeichnete ich eine Lageskizze der Erinnerungsstätte und schrieb die Inschrift ab. Am nächsten Tag machte ich ein paar Fotos und ging zur Friedhofsverwaltung (der jüdische Friedhof ist ein Teil des christlichen Friedhofs) auf „Erkundungsmission”. Dort erfuhr ich, dass sich an einer anderen Stelle des Friedhofs weitere Gräber von „Zwangsarbeitern” befinden.

Es sind offenbar nicht alle aus dem Krieg zurückgekehrt!

Was ich damals noch nicht wusste: Die Fotos, die Skizze und die abgeschriebenen Namen bildeten den Auftakt meiner ehrenamtlichen Dokumentation. Die Zahl der Zettel nahm zu, denn ich war öfter mal dienstlich in ganz Norddeutschland unterwegs und schrieb immer neue. Meine Frau Małgorzata, die es liebte, alles „in Reih und Glied” zu bringen, schenkte mir den ersten Notizblock, was so viel bedeuten konnte wie, dass sie nicht nur mein polnisches Engagement billigte, sondern auch duldete, dass ich oft später von der Arbeit zurückkam, weil ich unterwegs ein Friedhof besuchte.

Politisch kamen wir langsam „auf unsere Kosten“. Die Arbeit im Hannoveraner Club „Solidarność” verlor an politischer Dynamik. Den Kommunismus haben wir durch „KO”[5] besiegt. Die Zahl der Zettel und der Notizblöcke nahm weiter zu. Es musste etwas mit ihnen geschehen. Meine Frau nahm ein Studium auf. Der erste Computer wurde gekauft. Nach einem häuslichen „Crashkurs“ zogen die handschriftlichen und die mit der Schreibmaschine verfassten Notizen in die neue Zivilisationsepoche ein.

 

[5] Abkürzung für knockout.

Die Dokumentation der polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs war im Begriff zu entstehen und zwar der Opfer, die in Deutschland in den Grenzen nach dem 8. Mai 1945 verstarben oder ermordet und bestattet wurden, darunter die während des Polenfeldzugs im September 1939 in Kriegsgefangenschaft geratenen Soldaten, Häftlinge der Konzentrationslager, die Zwangsarbeiter, die Soldaten, die auf Seiten der Alliierten kämpften, festgesetzte Soldaten des Warschauer Aufstands 1944, Soldaten der Polnischen Volksarmee sowie polnische Frauen und Männer, die nach Beendigung der Kriegshandlungen in den Lagern der Alliierten für die „Displaced Persons“ (DPs) zu Tode kamen.

Geordnet nach Ländern und Themen entstand eine Dokumentation, die jeweils aus einem Text, einem eingeklebten - damals noch analogen - Foto, einem auf eine Landkarte geklebten Ortungspunkt, einer Folie und einem Schnellhefter bestand. Die Zahl der Schnellhefter wuchs rasch. Nach vielen Jahren bekam ich von dem in Hamburg eingerichteten Generalkonsulat der Republik Polen die Gelegenheit, mich im Rahmen der dort ausgerichteten Treffen der in Deutschland lebenden Polen vorzustellen und mit den Regierungsvertretern der Republik Polen über mein „Hobby” zu sprechen. Dabei kam ich zu Rada Ochrony Pamięci Walk i Męczeństwa (Rat zur Bewahrung des Gedenkens an Kampf und Martyrium). Dem Rat und dem Konsulat stellte ich von nun an regelmäßig aktualisierte Dokumentationen in Papierform zu Verfügung. Im Gegenzug wurden mir von Zeit zu Zeit verwertbare Informationen zugetragen. Man habe mir auch versichert, ich sei ein Patriot.

1994 schlug mir der Generalsekretär des Rates, der mittlerweile verstorbene Andrzej Przewoźnik, vor, mein Interesse auf die Ruhestätten der Soldaten der 1. Polnischen Panzerdivision von General Stanisław Maczek auszuweiten, die im Emsland, also im Westen Deutschlands, verstreut waren. Einige der Friedhöfe mit den Gräbern „der Maczeks” waren mir schon bekannt, da auch das Emsland zu den Einsatzorten der Firma gehörte, für die ich beruflich tätig war. Diesen Vorschlag, eine Dokumentation der Gräber von Soldaten der PPD anzulegen, nahm ich an. Nachdem ich das Informationsmaterial dann mit Hilfe des Generalkonsulats der RP in Hamburg zusammen hatte, dachte ich „jetzt habe ich richtig was zu tun”. Das Ganze dauerte insgesamt vier Jahre. Die fertige Dokumentation, die sich auf die Zahl der Gräber, auf ihren Erhaltungszustand sowie auf Empfehlungen unter anderem für die deutschen Behörden und das Konsulat bezog, erschien im Bulletin des Rates „Przeszłość i Pamięć” (Vergangenheit und Gedenken), Nummer 1 (6), 1998. Diese für mich bereits historische, etwas altertümliche Papierdokumentation bugsierte ich nun in Richtung der Technologie, die sich als modernes Wunder herausstellte und meinen bisherigen Möglichkeiten um Lichtjahre voraus war. Ich meine das Internet. Ich habe sie unter dem Link „1 Polska Dywizja Pancerna” (1. Polnische Panzerdivision) eingepflegt. 18 Jahre später werde ich sie um Angaben ergänzen, die darüber informieren, was von meinen Empfehlungen und Anregungen umgesetzt wurde. Gerne wüsste ich, wo dieses „Papierrelikt” nach der sogenannten „dobra zmiana” (Veränderung zum Guten)[6] verblieben ist. Seine Bestimmung sowie auch der Rat und das Instytut Pamięci Narodowej (Institut des Nationalen Gedenkens) sind der patriotischen Aufgeblasenheit zum Opfer gefallen.

 

[6] Wahlspruch der polnischen Regierung, die seit November 2015 die Geschicke des Landes bestimmt.

Kehren wir zur Chronologie zurück: Wir haben nachgerüstet, einen neuen Computer und einen Fotokopierer gekauft und als wir diese fast schon professionelle Ausstattung hatten, setzte meine Frau noch einen drauf und schaffte eine leistungsfähige Digitalkamera an, womit sie zu verstehen gab, dass sie meine patriotische Beschäftigung akzeptiert. Sie hat es jedoch nicht nur akzeptiert, sondern auch engagiert mitgeholfen. Nach ein paar Jahren kannte sie sich in der Topographie des Todes polnischer Frauen, Männer und Kinder bestens aus.

Nun könnte man meinen, dass wir nach Jahren des Umgangs mit diesem Thema uns an es „gewöhnt hätten”. So war es aber nicht. Wir stießen ständig auf Fakten und Unterlagen, die uns schockierten: Morde an neu geborenen Kindern der Zwangsarbeiterinnen (Braunschweig), Tötungen durch übermenschliche Arbeit in den Konzentrationslagern, Verbrechen im Rahmen des T-4-Programms (Euthanasie) in Hadamar und an zig weiteren Orten, brutale Morde in speziellen Straflagern, sinnloses und brutales Töten der Konzentrationslagerhäftlinge durch ”Todesmärsche” in den letzten Kriegstagen, Karawanen, die zu Hunderten durch das Reichsgebiet zogen, tausende Massengräber, hunderte Leichen der in einer Scheune in Gardelegen bei lebendigem Leibe verbrannten Menschen und zigtausende Tote in den Straßengräben und am Wegesrand. Was uns entsetzte, war das ungeheuerliche Ausmaß dieser Verbrechen.

Es gab Momente, in denen wir überlegt haben, ob wir das Alles wissen wollten, und dies umso mehr, als in den deutschen Behörden, die darüber zu entscheiden hatten, ob mir Auskünfte erteilt werden oder nicht, immer noch die erste Kriegsgeneration anzutreffen war. Die Reaktionen auf den Friedhöfen waren verschieden: Sie reichten von einer „Gehstockattacke“ einer älteren Frau in Moringen, die schrie „unsere fielen in Russland“, bis hin zu Interesse und Gesprächsbereitschaft.

Auf dem größten Kriegsfriedhof Deutschlands in Halbe (Brandenburg), erblickte ich, nach dem ich alles notiert und ein paar Fotos gemacht hatte, an meinem Auto eine Gruppe junger Leute. Sie waren nicht mehr aus der DDR und noch nicht aus der BRD, aber bereits „westlich” äußerst kurzgeschoren (es war ein Sommertag), mit bekanntem Schuhwerk, bierselig und fragten: „Was machst Du hier so spät”. Nach einer fast einstündigen Erzählung über die Kämpfe im April 1945 („Kessel von Halbe”) und über die Existenz eines Lagers des sowjetischen NKWD nach dem Krieg, zeigte ich ihnen die Fotos und meine Notizen. Es stellte sich heraus, dass sie nichts davon wussten, wer nur ein paar hundert Meter von ihrem Lieblingstreffpunkt an der örtlichen Theke entfernt ruhte. Meine Absage auf ihre Einladung zu einem gemeinsamen Schluck nahmen sie verständnisvoll an: „ok, wenn er noch fahren muss”.

1995 fand in Oberlangen (Emsland) die feierliche Enthüllung eines Gedenksteins für die Insassen des Stalag VI statt, bei der ich die Gelegenheit hatte, mit den unmittelbar Betroffenen, den Soldaten des Warschauer Aufstands, zu sprechen. Zur Vorbereitung auf dieses Treffen habe ich viel über den Warschauer Aufstand und über den Abzug ganzer Trupps Aufständischer in die Gefangenschaft nach der Unterzeichnung der Kapitulation gelesen. Teilweise kannte ich auch die Orte, an denen die Stalags und die Oflags waren, in denen außer den im Polenfeldzug im September 1939 gefangen genommenen Soldaten auch die Soldaten der Armia Krajowa (Heimatarmee) interniert wurden. Leider aber hat diese Zusammenkunft mit den Teilnehmerinnen des Aufstands keine neuen Erkenntnisse erbracht. Diese Frauen, die sich selbst als „dziewczyny oberlangówki“ (die Oberlangener Mädels) bezeichnen, kamen dem Besuchsprogramm kaum nach. Aus den kurzen Gesprächen mit ihnen ging nur hervor, dass es „schwer” in der Gefangenschaft war. Zum Glückt wurde keine von ihnen in Oberlangen getötet und keine starb. Sie wussten nicht mal von ihren Mitstreiterinnen in der Heimatarmee, die hier unter tragischen Umständen nach dem Krieg verstarben und in der Nähe bestattet wurden.

Na ja, dachte ich, sie hatten es nicht leicht in der „neuen sozialistischen” Heimat. Die Enttäuschung kam erst später. Viele Jahre versuchte ich, die Kombattanten der Heimatarmee, die am Warschauer Aufstand teilgenommen haben und jetzt in Polen lebten, zu mahnen, damit aufzuhören, nur der Gefallenen von Warschau und der dort Bestatten zu gedenken. Insofern habe ich bei der Veröffentlichung der Dokumentation im Internet einen Apell formuliert, der auf der Eingangsseite zum Warschauer Aufstand zu lesen ist:

”Das nationale Gedenken ist eine Angelegenheit, die gerecht erfüllt sein will. Wohl sind die rund 400 Gräber, die über den deutschen Boden verstreut sind, nur ein Bruchteil dessen, was an Gräbern auf dem Powązki-Friedhof (Cmentarz Powązkowski) und dem Friedhof im Warschauer Stadtteil Wola (Cmentarz Wolski) anzutreffen ist, doch rund 400 Soldaten des Warschauer Aufstands sind ein ganzes Bataillon, dessen Angehörige oft in der Gefangenschaft an Verwundungen starben oder in Konzentrationslagern getötet wurden. Diejenigen, die in diesen Gräbern ihre letzte Ruhestätte fanden, haben sich mit ihrem bewaffneten Kampf ihr Recht auf nationales Gedenken erworben. Deshalb fügen wir diese vergessenen Gräber zu den alljährlich geehrten und zu den auf den Friedhöfen Powązki und Wola täglich besuchten Gräbern sowie zu den in Warschaus Straßen errichteten Gedenkorten für die Helden von Warschau hinzu.”

Zum Glück aber stieß ich in meiner Enttäuschung auf das Wohlwollen einer Mitarbeiterin des Muzeum Powstania Warszawskiego (Museum des Warschauer Aufstands). Ich hatte sie auf einem der deutschen Friedhöfe kennengelernt. Von ihr erhielt ich eine Liste mit rund 100 Namen der Aufständischen, die in Deutschland starben und bestattet wurden. Dieser Hilfe habe ich neue Informationen zu verdanken, in einer Sache, die seither Grund meiner größten Enttäuschung ist: Dass es im heutigen Polen an „Interesse” an diesen Gräbern fehlt.

So zum Beispiel geschieht es mit dem „verlorenen” Lagerfriedhof des Stalag XIA Altengrabow, einem von russischen Panzern zerfahrenen Gottesacker (bis in die neunziger Jahre war hier ein russischer Truppenübungsplatz), auf dem neben den während des Polenfeldzugs 1939 in Kriegsgefangenschaft geratenen Polen, 52 Soldaten des Warschauer Aufstands ihre letzte Ruhestätte fanden. Nach ihrem Kampf für die Heimat starben sie für sie in Gefangenschaft. Bis heute zeichnet sich die „Dankbarkeit” der Heimat durch ihr Vergessen aus. Ich habe den Eindruck, dass keine der beiden Parteien (deutsch-polnische Verständigung) daran interessiert ist, die Gräber zu finden und freizulegen. 

Wiederum andere Opfer ruhen an unbekannten Orten, oft unter einer gepflegten Grasnarbe, jedoch ohne Hinweis darauf, wer dort bestattet wurde, dies neben einem umsichtig eingerichteten, vorbildlich gepflegten Quartier für Soldaten der deutschen Wehrmacht (Husum) und unter zig ähnlichen „Rasenplätzchen”. Sie wurden als Zwangsarbeiter oder nur als „Pole” bestattet, nicht selten unter verdrehten Namen und ohne weitere persönliche Angaben. Nach Kriegsende haben die Westalliierten ihre gefallenen oder in Gefangenschaft gestorbenen Landsleute exhumiert und in Heimatboden erneut bestattet oder sie haben eigens Kriegsgräberstätten angelegt, wie die Holländer in Hamburg und Hannover. Selbst die Russen haben die Gräberfrage teilweise geordnet, indem sie von den örtlichen Behörden erzwungen haben, einige russische Massenfriedhöfe auf deutschem Boden anzulegen und dass, obwohl sie die Kriegsgefangene zu Verrätern erklärten, weil sie sich seinerzeit ergeben haben. So gesehen, blieben sehr viele Russen und sehr viele Polen im Land ihrer Gefangenschaft zurück.

Nun gut, die politisch-wirtschaftliche Nachkriegsordnung in Polen von 1945 bis 1989 erklärt manches, aber nicht alles. Diejenigen, die in der deutschen Gefangenschaft mit dem Leben davon kamen, hatten kaum eine Wahl für ihr Leben „danach”, ein Teil von ihnen verlief sich in der westlichen Welt, ein anderer Teil beschloss, in Deutschland zu bleiben und die Hilfe in den westlichen Besatzungszonen in Anspruch zu nehmen. Diejenigen, die nach Polen zurückkehrten, erfuhren schon bald, was sie unter der „Besatzung” des östlichen Verbündeten in der „Freiheit“ erwartet. Die „Idylle” des Lebens in der Obhut des Volksstates endete abrupt, sobald sie sich offenbarten. Es folgten Verhaftungen und Prozesse, die nicht selten Todesstrafen verhängten, Einschüchterungen und Verfolgungen von Mitgliedern der Heimatarmee sowie Versuche, ihr Heldentum zu verunglimpfen und aus dem nationalen Gedächtnis zu tilgen.

Es gibt nur einige wenige Initiativen in Deutschland, die an die Teilnehmer des Warschauer Aufstands erinnern, beispielsweise in Hamburg–Harburg. Diese wurden in den Nachkriegsjahren von den hier gebliebenen Aufständischen ins Leben gerufen. Bedauerlicherweise aber wurde keine Liste erstellt und es ist auch keine überliefert, der die Gräber der im Land ihrer Gefangenschaft bestatteten Kameradinnen und Kameraden sowie die im Laufe der Zeit der Verwahrlosung anheimgefallenen Gräber zu entnehmen sind. Mit jeder neuen Reform des Kriegsgräbergesetzes (GräbG) wurden immer mehr Friedhöfe aufgehoben und gerieten anschließend in Vergessenheit. Die polnische Exilregierung und die Organisationen der Kombattanten der Heimatarmee, die bis heute in den Ländern existieren, in die die Soldaten des Aufstands emigrierten, ergriffen keine Initiativen und sie zeigten kein Interesse an diesem Thema. Niemand setzte sich für diese Gräber ein! So kam es vor, dass ich mich schämte, als mir auf einigen Friedhöfen gesagt wurde: Sie sind der erste Pole, der nach diesen Gräbern fragt.

Der 4. Juni 1989[7], ein wichtiger Tag in der jüngsten Geschichte Polens, sowie die bei diversen Feierlichkeiten immer häufiger aufgetretenen Frauen und Herren mit Orden an der Brust, die weiß-rote Armbinden trugen, auf denen das Symbol des „Polska Walcząca” (Kämpfendes Polens) zu sehen war, ließen auf bessere „Zeiten” für die im Land der Gefangenschaft verschollenen und vergessenen Soldaten des Aufstands hoffen. Tatsächlich aber ist nichts in diesem Sinne geschehen. Ihre Kameradinnen und Kameraden demonstrierten, während sie im Dienste einer anderen, oft politischen Sache standen, was wie von selbst die Assoziation auslöst... „im Westen nichts Neues”.

 

[7] Tag der ersten halbfreien Wahlen in Polen, die das Ende des Kommunismus eingeläutet haben.

2005 haben sich Journalisten der Zeitung „Rzeczpospolita” und des Radiosenders „Zet” zur Suche nach dem Grab eines in Essen verstorbenen Aufständischen hinzugesellt. Nach der Veröffentlichung einiger Artikel, ergriffen diejenigen das Wort, die es schon mindestens zehn Jahren früher hätten ergreifen sollen. Zu lesen war: „Wir wussten nichts von dieser Situation und dass es so viele sind”, wie jemand der „Rzeczpospolita” ehrlich sagte, jemand, der dies in erster Linie gewusst haben müsste. Ein Feuerwerk der Ideen entzündete sich: „...wir rufen eine Kommission ins Leben, wir schicken Soldaten und Pfadfinder dorthin, wir stellen Kreuze überall dort auf, wo es möglich sein wird, wir feuern die polnische Diaspora mit höheren finanziellen Zuwendungen an und am besten wäre...“ usw. („Rzeczpospolita”, August 2006).

Die Gräber der Soldaten des Warschauer Aufstands machen nur einen geringen, für mich allerdings den besonders schmerzhaften Teil der gesamten Dokumentation aus. Der Kampf um den verschwundenen Friedhof mit den Gräbern der Aufständischen in Altengrabow, der Mitte der neunziger Jahre begann, ist zwar noch nicht ganz verloren, doch ich bin machtlos angesichts der Realität, dass es einen Friedhof gab und dass es ihn nicht mehr gibt. Hierzu erinnere ich mich an ein Fragment des Gedichtes, das ein junger Aufständischer kurz vor der Kapitulation schrieb (dieses Zitat führe ich auch in meiner Dokumentation im Internet an):

 „A historia okłamie nas jutro, 
groby nasze wyrówna ktoś obcy... ”

[Und die Geschichte lügt uns morgen an, 
Fremde ebnen unsere Gräber ein...]

(http://www.polskienekropolie.de)

Jetzt, nach dem ich 2016 von „Porta Polonica” den Vorschlag zur Zusammenarbeit bekam, sitze ich etwas „verschreckt” vor meinem Computer, da sich in 30 Jahren sehr viel angesammelt hat. Die ursprüngliche Sammlung von Informationen über die polnischen Kriegsgräber, die wir später als „Dokumentation” bezeichnet haben, entstand dank der Gräber, die ich außerhalb meiner Berufstätigkeit zufällig entdeckte. Sie hat sich dann auf Grund bei Behörden, Organisationen und Verlagen eingeholter Informationen über Standorte, Zahlen und Zustände der Gräber sowie auf Grund von Mitteilungen von Menschen, die uns oft Fotos von einem Friedhof schickten und dazu schrieben: „wir haben einen Spaziergang gemacht und den örtlichen Friedhof besucht, wo wir polnische Kriegsgräber fanden“ weiter entwickelt. Oft hieß es auch: „Wir haben die Fotos, die wir ihnen schicken, gemacht, weil sie Ihnen vielleicht nützlich sein können.” Ja, sie sind sehr nützlich und inzwischen verfüge ich über einen staatlichen Kreis von Briefpartnern. So erreichen mich auch Informationen von Menschen, die mich einmal um Hilfe bei der Suche nach einem Grab oder nach Informationen über die Umstände des Todes eines nahen oder ferneren Verwandten baten. Ich habe hunderte von Briefen beantwortet und unzählige positive Erlebnisse auf der Habenseite verbucht, darunter gefundene Gräber, wie die der Soldaten des Warschauer Aufstands, aber auch Danksagungen mit dem Tenor: ”...wir danken Ihnen dafür, dass Sie in unserer Familie zu einer historische Ordnung verholfen haben”.

Meine Dokumentation entstand in dem Moment, als ich den ersten, auf Polnisch verfassten Zettel mit den Angaben zu den „anderen” Gräbern notierte, also im Frühjahr 1986, auf dem jüdischen Friedhof einer deutschen Stadt an der Weser, in Holzminden.

Bis zu dem Tag, an dem der Kontakt zur „Porta Polonica” entstand, habe ich in 30 Jahren ehrenamtlicher Tätigkeit, getragen von dem Verständnis und später auch von der Hilfe der Familie (vor allem meiner Frau), mühsam, da nur in meiner privat verfügbaren Zeit, ein ganzes Archiv aufgebaut. Auf der Landkarte Deutschlands, auf die ich bunte Punkte aufgeklebt habe, die auf den Status eines Grabes hinweisen, befinden sich heute rund sieben tausend Markierungen, von denen über vier tausend sichere (verifizierte und dokumentierte) Orte sind, in denen sich polnische Kriegsgräber aus dem Zweiten Weltkrieg befinden oder befanden. Die übrigen Punkte weisen auf Informationen über Lager oder Ereignisse hin, etwa auf Exekutionsorte oder auf Orte, an denen Menschen während der „Todesmärsche” getötet wurden. Hier sind noch nähere Angaben einzuholen.

Außerdem sind ein paar tausend Fotos Teil der Dokumentation, die anfangs noch analog und später dann digital angefertigt wurden, sowie ein paar hundert (ich hab sie nicht gezählt) klassisch, also in Papierform vorliegende Namenslisten polnischer Kriegsopfer, die ich von Behörden erhalten bzw. in Behörden am Kopierer „erstanden” habe und die sich meist auf Orte in Niedersachsen beziehen, also auf das Bundesland, in dem ich wohne. Einige Dutzend dieser Listen, vor allem die umfangreichen Verzeichnisse der Opfer in den Konzentrationslagern, sind bereits digital zugänglich. Die Dokumentation beinhaltet darüber hinaus unzählige Dokumente in Kopie und weitere Unterlagen mit Informationen, die ich von Ämtern oder von Privatpersonen erhielt sowie Notizen, Lageskizzen und Ausschnitte aus Zeitungen und anderen Publikationen. Und noch etwas: In den 30 Jahren, in denen ich nach Informationen wie ein Durstiger in der Wüste in wissenschaftlichen Publikationen nach Hinweisen auf dieses Thema suchte, habe ich festgestellt, dass solche Quellen sogar in Deutschland, geschweige denn in Polen, Mangelware sind. Dennoch konnte eine relativ große Quellenbibliothek mit über 250 Titeln entstehen.

Nun, genug in eigener Sache! Eine Dokumentation, die jedermann im Internet aufrufen und deren Informationen er frei verwenden kann, bedarf keiner Werbung, getreu dem alten Spruch der Polen: „Koń, jaki jest, każdy widzi“ (Das Pferd, wie es ist, sieht doch jeder).[8]

Bislang habe ich nie auf mein Alter geachtet. Heute stelle ich jedoch fest, dass ich wohl „in die Jahre” gekommen bin, die Gesundheit ist nicht mehr die beste und die Welt hat wieder mal einen Zahn zugelegt, auch in Polen, wo die Dokumentation in den „verdienten Ruhestand” gehen sollte. Noch vor geraumer Zeit hegte ich diesbezüglich keinen Zweifel. Doch nach den schlechten Erfahrungen, die ich mit der älteren Papierdokumentation in Polen gemacht habe, die vermutlich irgendwo im Nirgendwo liegt oder in einem unbekannten Keller verstaubt (nach dem Tod von Andrzej Przewoźnik gelang es mir nicht, diesen Ort ausfindig zu machen), suche ich nach einem alternativen Aufbewahrungsort. Die Zusicherung, dass ich damals und jetzt ein „Patriot” sei, hat dieser älteren Papierdokumentation jedenfalls keinen ruhigen Aufbewahrungsort garantiert. Die polnischen Organisationen in Deutschland zeigen mit wenigen Ausnahmen (Hamburg und aus Pflichtgefühl Hannover sowie zu Beginn meiner Tätigkeit auch München) kein besonderes Interesse an ihr.

 

[8] Dieser Spruch stammt von dem polnischen Priester Benedykt Chmielowski (1700-1763), dem Verfasser der ersten polnischen Enzyklopädie. Er bedeutet so viel wie: Etwas ist so klar, dass man darüber nicht reden muss.

Nach mehrstündigen Gesprächen mit dem Vertreter der „Porta Polonica” hat sich jedoch herauskristallisiert, dass die Dokumentation eben hier, in ihrer Offerte im Netz einen angemessenen, sicheren Platz gefunden hat, so dass sie nicht im „Ruhestand“ verharren, sondern ganz im Gegenteil in diesem neuen, sich dynamisch entwickelnden Medium einen „zweiten Frühling” erleben wird.

Mein Interesse an den Kriegsgräbern ist von meinem Geburtsdatum, von den lebhaften Erinnerungen meiner Großväter und meines Vaters, von dem Gedächtnis und den Erinnerungen der Polen in den Nachkriegsjahren sowie von meinem eigenen Interesse an Geschichte bestimmt. Es ist kein Zufall, dass ich vor Jahren den ersten polnischen Grabstein in Deutschland sah, während ich heute tausende kenne.

 

Henryk Nazarczuk, Januar 2017

 

Alle Fußnoten sind Anmerkungen der Übersetzerin.

 

Mediathek
  • Deutschlandkarte mit der Topographie des Todes

    Per Hand eingeklebte Punkte im Zeitraum ca. 1985-2017
  • Henryk Nazarczuk

    Vor seiner Deutschlandkarte mit den Eintragungen der polnischen Kriegsgräber
  • Das erste von Tausenden Gräbern, die er dokumentierte

    Keine Angabe zum Ort
  • Lagerfriedhof in Husum-Schwesing

    KZ-Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme
  • Namenlose Grabstätte für polnische, russische und ukrainische Kinder in Hannover

    Gedenkort auf dem Friedhof Hannover-Seelhorst.
  • Gedenkort auf dem Friedhof Hannover-Seelhorst

    Sicht von der gegenüberliegenden Seite
  • Autoatlas mit Eintragungen der Gräber von Henryk Nazarczuk

    Mit Markierungen aus dem Zeitraum ca. 1985-2017
  • Materialsammlung zum Atlas der Gräber von Henryk Nazarczuk

    Handschriftliche Notizen, kopierte Quellen und Karten. Deutsch und Polnisch.
  • Henryk Nazarczuk - Video besuchter Friedhöfe

    Entstehungszeitraum unbekannt. Veröffentlicht auf Porta Polonicum mit der Genehmigung von Henryk Nazarczuk
  • Henryk Nazarczuk, 2016

    Henryk Nazarczuk in Hannover, 2016