Von polnischen Kumpels, „Polenzechen“ und „Ostarbeitern“ – Ein Blick auf 100 Jahre polnische Arbeitsgeschichte in Bochum (1871–1973)
Industrialisierung zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert
Im Zuge der Industrialisierung erfuhr das Ruhrgebiet mit seinen reichen Steinkohlevorkommen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insgesamt einen großen ökonomischen Aufschwung. Bochum konnte sich seit der Kaiserreichsgründung mit den Zechen Vereinigte Präsident, Constantin der Große, Hannover, Hannibal, Harpener Verein und Heinrich Gustav zum Zentrum des Bergbaus im Ruhrgebiet etablieren.[1] Die montanindustrielle Konjunktur forderte sowohl in Bochum als auch im gesamten Bereich des Rheinisch-Westfälischen Kohlengebiets zunehmend Arbeitskräfte für die Bergbauindustrie. Deshalb beauftragten Zecheninhaber private Agenten, die für die Bergbauindustrie geeignete Arbeitskräfte anheuern sollten. Diese fanden sich aufgrund einer günstigen sozioökonomischen Ausgangslage zum großen Teil in der polnischsprachigen Bevölkerung der damaligen preußischen Ostprovinzen wieder. Durch gezielte Anwerbung und Mundpropaganda entstanden im Laufe der Zeit Kettenmigrationen, die sich im Deutschen Kaiserreich zu einer Binnenwanderung eines bis dato unbekannten Ausmaßes entwickelten. Zwischen der Kaiserreichsgründung 1871 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 migrierten insgesamt über eine halbe Million Menschen aus den Ostgebieten Preußens in die Region des Rheinisch-Westfälischen Industriegebiets. Diese Gruppe von Erwerbsmigrantinnen und -migranten ist aufgrund ihres Migrationsziels des heutigen Ruhrgebiets und ihrer polnischen Herkunft gemeinhin unter dem Begriff der „Ruhrpolen“ bekannt.[2]
Mit den zunehmenden Arbeitskräften wuchs die Bochumer Bevölkerung kontinuierlich: Während 1871 noch 21.192 Stadteinwohner verzeichnet werden konnten, stieg die Zahl 1890 auf 57.601 sowie im Jahr 1900 auf 65.551 an. Dabei machten Menschen polnischer Herkunft laut der preußischen Statistik im Jahre 1890 etwa 2,4 % der Bochumer Stadtbevölkerung mit einer steigenden Tendenz aus, deren Höhepunkt im Jahr 1910 mit 4,6 % Polen innerhalb der Stadtbevölkerung Bochums erreicht wurde.[3] Aufgrund des Familiennachzugs und der Anwerbung weiterer Personen aus den Herkunftsorten der polnischen Arbeitskräfte durch Mundpropaganda entstand im Laufe der Zeit eine gewisse Eigendynamik der Binnenmigration: Die Ruhrpolen siedelten sich typischerweise nach ihren Herkunftsregionen an den Zielorten im Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet an. Für den Bochumer Raum lässt sich feststellen, dass eine überwiegende Mehrheit der Polen aus Ostpreußen sowie aus der Provinz Posen kam.[4] Die Alters- und Geschlechtsstruktur der Ruhrpolen zeigt, dass vorwiegend Männer in das Ruhrgebiet migrierten und die meisten von ihnen zwischen 20 und 30 Jahre alt waren. Dagegen machten Frauen einen wesentlich kleineren Teil der Erwerbsmigration aus, wobei auch unter ihnen ein junges, arbeitsfähiges Alter zwischen 20 und 30 Jahren am stärksten vertreten war.[5]
Männer wurden vor allem für physisch besonders anspruchsvolle Arbeiten eingesetzt und waren hauptsächlich im Bergbau und in der Schwerindustrie tätig. Dagegen kümmerten sich Frauen größtenteils um den Haushalt, nahmen aber auch des Öfteren Tätigkeiten im Textil- und Reinigungsgewerbe auf. In der Landwirtschaft waren sowohl Männer als auch Frauen in unterschiedlichen Bereichen beschäftigt. Außerdem übernahmen Frauen meistens die Organisation von Untermietern, den sogenannten Kostgängern. Die polnischen Arbeitskräfte wohnten vorwiegend in eigens für deren Unterkunft erbauten Zechensiedlungen in der Nähe der Bergwerke und die Untervermietung von Zimmern und Betten entwickelte sich mit der Zeit zu einem soliden Nebengeschäft.[6]
[1] Vgl. Pätzold, Stefan: Bochum. Kleine Stadtgeschichte, S. 85.
[2] Die als Ruhrpolen zusammengefasste polnische Bevölkerungsgruppe stammt aus den preußischen Provinzen Posen, Ostpreußen (darunter fielen auch die polnischsprachigen Protestanten Masuren), Westpreußen, Schlesien sowie dem südlichen Ermland;
In der wissenschaftlichen Forschung zu den Ruhrpolen liegt der Fokus vorwiegend auf männlichen Arbeitskräften, da diese gezielt für die Arbeit in der Bergbauindustrie angeworben wurden und quantitativ überwogen. Dennoch werden bereits an dieser Stelle ebenfalls die Migrantinnen erwähnt, da auch Frauen, die mit ihrer Familie in das Ruhrgebiet nachgezogen sind, Erwerbstätigkeiten aufgenommen haben.
Vgl. Skrabania, David: Die Ruhrpolen, in: https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/die-ruhrpolen?page=1#body-top.
[3] Vgl. Kleßmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870-1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, S. 267;
Pätzold, Stefan: Bochum. Kleine Stadtgeschichte, S. 87.
[4] Vgl. Murzynowska, Krystyna: Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880-1914, S. 47 f.
[5] Im Jahre 1890 entfielen bei den polnischen Migranten auf 100 Männer 39,7 Frauen. Dieser Wert nahm mit zunehmender Migration sowie dem Nachzug von Familien stetig zu, sodass 1910 schon 76,8 Frauen auf 100 Männer kamen;
Vgl. Kleßmann, Christoph: Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870-1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, S. 268;
Vgl. Murzynowska, Krystyna: Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880-1914, S. 39.
[6] Vgl. Murzynowska, Krystyna: Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880-1914, S. 51 f.