Polnische Opfer der Berliner Mauer: Franciszek Piesik und Czesław Kukuczka
Oberst Karnowski gelingt es, den Raum, in dem sich Kukuczka befindet, unter dem Vorwand, die Ausstellung seines Reisedokuments nach West-Berlin zu veranlassen, zu verlassen. Tatsächlich aber telefoniert Karnowski aus einem anderen Raum mit einem hochrangigen Vertreter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit und teilt ihm den Vorfall mit. Unterdessen fällt die Entscheidung, Kukuczka aus dem Gebäude herauszuführen und „ihn unschädlich zu machen“. Zu diesem Zweck begeben sich drei Vertreter der Stasi in die Botschaft, die sie gegen 14:40 Uhr zusammen mit Kukuczka sowie mit dem vor Ort ausgestellten Ersatzpass und dem Visum für die Ausreise aus der DDR verlassen. Daraufhin wird er mit dem Wagen der Stasi zum Grenzübergang Friedrichsstraße gebracht.
Der weiteren Geschehnisse sind unklar. Aus den erhalten gebliebenen Stasi-Unterlagen geht hervor, dass Czesław Kukuczka gegen 15:00 Uhr ohne das Aufsehen der auf die Grenzabfertigung wartenden anderen Reisenden zu erwecken aus nicht ermittelten Gründen in den Rücken angeschossen worden sei. Anschließend wird er schwer verletzt in das Haftkrankenhaus der Stasi in Berlin-Hohenschönhausen überführt. Dort stirbt gegen 18:30 Uhr auf dem OP-Tisch. In der Aktentasche, in der sich angeblich die Bombe befinden sollte, finden die Stasi-Offiziere nur die persönlichen Sachen des Mannes.
Der Vorfall findet das Interesse der Presse. Am 2. April schreibt die Boulevardzeitung „Bild“ über den „Attentäter“ am Grenzübergang Friedrichsstraße. Erst dann nimmt die Stasi dem Verstorbenen die Fingerabdrücke ab und erwähnt in einem weiteren Bericht erstmals eine Waffe, mit der Kukuczka die Posten am Grenzübergang angeblich bedroht haben soll. In den früheren Dokumenten fehlt eine solche Information. Plötzlich „findet“ die Stasi sogar eine Pistole und stellt Fingerabdrücke des erschossenen Polen auf ihr fest. Alles, auch der Obduktionsbericht eines Gerichtsmediziners, deutet jedoch darauf hin, dass Kukuczka bei dem Vorfall keine Waffe bei sich trug. Die Stasi beschließt, den Leichnam zu verbrennen, um die Mordspuren zu verwischen. Dies wird mit den polnischen Behörden abgestimmt.
Die Urne mit den sterblichen Überresten von Czesław Kukuczka trifft bei seiner Ehefrau und den drei Kindern erst Ende Mai 1974 ein. Die Bestattung findet auf dem Friedhof in Kamienica bei Limanowa, dem Heimatort des Feuerwehrmans, statt. Zu dieser Zeit wird in Ost-Berlin der Stasi-Offizier Hans Sabath, der Kukuczka am 29 März am Grenzübergang begleitet hat, mit dem Orden „Für Verdienste um Volk und Vaterland“ ausgezeichnet. In der Begründung dieser Auszeichnung heißt es, es sei ihm gelungen „eine Provokation zu verhindern und den Terroristen unschädlich zu machen“.
Was genau am 29. März 1974 in Ost-Berlin geschehen ist, haben die Kinder von Czesław Kukuczka erst 2015 erfahren, als sich die deutsche Presse der Sache angenommen hat. Die Ehefrau von Kukuczka starb einige Jahre zuvor, ohne die Wahrheit zu kennen. Bis heute ist ungewiss, was Czesław Kukuczka dazu bewog, in den Westen ausreisen zu wollen, und warum er sich dazu entschloss, es auf diese Art und Weise zu versuchen. Die Familie vermutet, dass ihn dazu finanzielle Probleme verleitet haben.
Monika Stefanek, Juni 2017
An das Schicksal der Maueropfer erinnert die multimediale Webseite Chronik-der-Mauer.de, die 2004 von der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Deutschlandradio und dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam eingerichtet wurde. Die Informationen über die Verstorbenen und die entsprechende Liste werden ständig aktualisiert.