Polnische Opfer der Berliner Mauer: Franciszek Piesik und Czesław Kukuczka

Franciszek Piesik (links) und Czesław Kukuczka
Franciszek Piesik (links) und Czesław Kukuczka, Aufnahmedatum unbekannt

Am 29. März 1974 spielten sich in der Botschaft der Volksrepublik Polen „Unter den Linden“ in Ost-Berlin Szenen wie in einem Actionfilm. Der polnische Feuerwehrmann Czesław Kukuczka forderte unter Androhung eines Bombenanschlags die sofortige Genehmigung seiner Ausreise in den Westen. Einige Jahre zuvor, 1967, unternahm der junge Binnenschifffahrtskapitän Franciszek Piesik mit einem Boot einen ähnlich spektakulären Fluchtversuch nach West-Berlin. Für beide Männer endete der Traum von ihrer Freiheit tragisch. Insgesamt haben bei der Überwindung der Berliner Mauer 139 Menschen ihr Leben verloren.

Die Berliner Mauer hat die Stadt das markantes Symbol des Kalten Krieges 28 Jahre lang geteilt. Sie wurde am 13. August 1961 errichtet und fiel am 9. November 1989. Die Entstehungsgeschichte der Berliner Mauer ist verbindet sich untrennbar mit der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg in vier Besatzungszonen: die sowjetische, die amerikanische, die französische und die britische. Die Stadt Berlin erhielt gemäß den Vereinbarungen der Alliierten einen Sonderstatus und wurde in vier Sektoren aufgeteilt. Die westlichen Stadtteile der Metropole kamen unter die Verwaltung Frankreichs, der Vereinigten Staaten und Großbritanniens, während die östlichen der Sowjetunion zufielen.

Die ersten Reisebeschränkungen zwischen den Zonen des geteilten Landes wurden direkt nach Kriegsende eingeführt. Mit der Zeit wurden sie schließlich immer rigoroser. Unter anderem führte man die sogenannte „Interzonenpasspflicht“ ein und baute an der innerdeutschen Grenze Stacheldraht, Alarmanlagen und Grenzkontrollposten auf. Die wachsenden Spannungen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten führten zu weiteren Verschärfungen der Ausreisebestimmungen. Dabei stellte für die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik die stetig wachsende Zahl ihrer in den Westen verziehenden Bürger das größte Ärgernis dar. Schätzungen zufolge verließen seit der Gründung der DDR im Jahre 1949 bis zum Bau der Mauer rund 3,8 Millionen Menschen das Land, viele von ihnen über Berlin, da die Grenze dort lange Zeit offen blieb und der Personenverkehr zwischen dem Ostteil und dem Westteil der Stadt besonders schwer zu kontrollieren war.

Um den Exodus ihrer oft jüngeren, gut ausgebildeten Bürger zu unterbinden, beschloss die Regierung der DDR, die Mauer zu bauen, die dann die sowjetische Zone von den anderen Zonen Berlins trennte. Diese Pläne hielt man geheim. Das Ausmaß und die Vehemenz der Mittel haben die Alliierten seinerzeit völlig überrascht. In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 wurden die Straßen und die Bahngleise, die in die westlichen Stadtteile Berlins führten, gesperrt. In den folgenden Wochen wurde der provisorische Stacheldrahtzaun durch eine Mauer von 156 Kilometer Länge ersetzt. Die endgültige Teilung der Stadt wurde Realität.

Auch wenn die Berliner Mauer die Fluchtversuche von Bürgern der DDR und anderer kommunistischer Staaten in den Westen wesentlich beschränkte, so reichte sie doch nicht aus, um sie ganz zu unterbinden. Laut Schätzungen gelang 5.075 Menschen von 1961 bis 1989 die Flucht. So viel Glück hatten aber nicht alle. Für mindestens 139 Menschen endete ihr Fluchtversuch tödlich. Unter den Maueropfern befanden sich auch zwei Polen.

 

In der Nacht des 15. Oktober 1967 überquert Franciszek Piesik, ein nicht mal 25jähriger Binnenschifffahrtskapitän, die Odergrenze zwischen der Volksrepublik Polen und der Deutschen Demokratischen Republik in einem Boot. Trotz einer sofort eingeleiteten Fahndung gelingt es den Grenzposten nicht, ihn zu stellen. Piesik erreicht die Grenzen Berlins. 

Zwei Tage später, in den Nachmittagsstunden des 17. Oktober erreicht er den Anlegeplatz der „Betriebssportgemeinschaft Baumechanik” bei Hennigsdorf, ausgerüstet mit einem Seitenschneider sowie mit einer Kartenskizze mit dem Grenzverlauf in den Gewässern, und entwendet dort ein Motorboot. Anschließen befährt er den Havel-Kanal, um zum Nieder-Neuendorfer See zu gelangen, in dessen Mitte die Grenze verlief. Zu diesem Zweck hätte er zunächst die Landzunge umfahren müssen, die den Kanal vom See trennt. Unter den Einheimischen gilt diese Gegend als äußerst gefährliches Sumpfgebiet. Es bleibt bis heute unbekannt, warum es Franciszek Piesik nur gelingt, an die Landzunge heranzukommen, nicht aber sie zu umfahren, was er wohl ursprünglich plante. Er steigt auf der Landzunge aus und erreicht das Seeufer zu Fuß, wo er seine Jacke und eine Aktentasche mit persönlichen Dokumenten liegen lässt. Von hier aus muss er eine Distanz von ca. 200 bis 300 Meter in ca. 10 Grad kaltem Wasser überwinden. Aus dem Bericht der ostdeutschen Grenzwache geht hervor, dass es dem Mann gelang, die Grenze inmitten des Sees gegen 18:15 Uhr zu überqueren. Die Wachposten intervenierten jedoch nicht, was ihnen später, bei den internen Ermittlungen zu diesem Vorfall, vorgeworfen wurde.

Gleichwohl gelang es Franciszek Piesik nicht, sein ersehntes Ziel zu erreichen. Sein Leichnam wird elf Tage später aus dem westlichen Teil des Sees geborgen. Die Obduktion schließt ein Fremdeinwirken aus. Piesik's Atemwege sind voller Schlamm. Damit bleibt als wahrscheinlichste Version die Annahme, dass er durch Unterkühlung und Ertrinken starb. Die polnische Militärmission stellt den Westberliner Diensten erst zweieinhalb Monate eine Personenbeschreibung und Fingerabdrücke zur endgültigen Identifizierung des Toten zur Verfügung. Ein halbes Jahr nach dem Vorfall wird der Leichnam von Franciszek Piesik auf dem Friedhof in Berlin-Heiligensee beigesetzt. Piesiks Fluchtmotive bleiben im Dunkeln. Heute erinnert eine Stele an das tragische Ereignis. Sie steht an der Stelle des „Berliner Mauerwegs“, wo die Leiche von Piesik gefunden wurde.  

 

Noch dramatischer verlief der Fluchtversuch in den Westen im Falle des Feuerwehrmanns Czesław Kukuczka, geboren 1935 in Kamienica bei Limanowa. Unbekannt ist, wie er nach Berlin hinkommt und was mit ihm bis zum 29. März passiert.

An diesem Tag erscheint Kukuczka gegen 12:30 Uhr im Gebäude der Botschaft der Volksrepublik Polen, die sich damals Unter den Linden befand. Er erklärt dem Pförtner, dass er eine wichtige Mitteilung zu übergeben habe und wird ohne weitere Kontrolle in einen Botschaftsraum geführt. Dort wird er von Oberst Maksymilian Karnowski, einem Mitarbeiter der Berliner Operativgruppe des polnischen Innenministeriums, und einem weiteren Mitarbeiter der Botschaft empfangen.

Kukuczka fordert, dass ihm an diesem Tag bis 15:00 Uhr die Ausreise nach West-Berlin gestattet wird. Anderenfalls werde er die Botschaft sowie mit Hilfe seiner Mittäter drei weitere Gebäude, darunter das Polnische Informations- und Kulturzentrum in Ost-Berlin, in die Luft sprengen. Während er dies sagt, weist er auf eine vollgepackte Aktentasche auf seinen Knien hin, in der sich angeblich eine von ihm gebaute Bombe befände. Aus der Tasche ragt eine Schlinge, die einer Zündschnur ähnelt und die der sichtlich nervöse Mann während des ganzen Gesprächs in der Hand hält. Kukuczka überzeugt seine Gesprächspartner davon, dass er die zur Konstruktion des Sprengstoffes notwendigen Kenntnisse bei seinem Militärdienst erworben habe.

Oberst Karnowski gelingt es, den Raum, in dem sich Kukuczka befindet, unter dem Vorwand, die Ausstellung seines Reisedokuments nach West-Berlin zu veranlassen, zu verlassen. Tatsächlich aber telefoniert Karnowski aus einem anderen Raum mit einem hochrangigen Vertreter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit und teilt ihm den Vorfall mit. Unterdessen fällt die Entscheidung, Kukuczka aus dem Gebäude herauszuführen und „ihn unschädlich zu machen“. Zu diesem Zweck begeben sich drei Vertreter der Stasi in die Botschaft, die sie gegen 14:40 Uhr zusammen mit Kukuczka sowie mit dem vor Ort ausgestellten Ersatzpass und dem Visum für die Ausreise aus der DDR verlassen. Daraufhin wird er mit dem Wagen der Stasi zum Grenzübergang Friedrichsstraße gebracht.

Der weiteren Geschehnisse sind unklar. Aus den erhalten gebliebenen Stasi-Unterlagen geht hervor, dass Czesław Kukuczka gegen 15:00 Uhr ohne das Aufsehen der auf die Grenzabfertigung wartenden anderen Reisenden zu erwecken aus nicht ermittelten Gründen in den Rücken angeschossen worden sei. Anschließend wird er schwer verletzt in das Haftkrankenhaus der Stasi in Berlin-Hohenschönhausen überführt. Dort stirbt gegen 18:30 Uhr auf dem OP-Tisch. In der Aktentasche, in der sich angeblich die Bombe befinden sollte, finden die Stasi-Offiziere nur die persönlichen Sachen des Mannes.

Der Vorfall findet das Interesse der Presse. Am 2. April schreibt die Boulevardzeitung „Bild“ über den „Attentäter“ am Grenzübergang Friedrichsstraße. Erst dann nimmt die Stasi dem Verstorbenen die Fingerabdrücke ab und erwähnt in einem weiteren Bericht erstmals eine Waffe, mit der Kukuczka die Posten am Grenzübergang angeblich bedroht haben soll. In den früheren Dokumenten fehlt eine solche Information. Plötzlich „findet“ die Stasi sogar eine Pistole und stellt Fingerabdrücke des erschossenen Polen auf ihr fest. Alles, auch der Obduktionsbericht eines Gerichtsmediziners, deutet jedoch darauf hin, dass Kukuczka bei dem Vorfall keine Waffe bei sich trug. Die Stasi beschließt, den Leichnam zu verbrennen, um die Mordspuren zu verwischen. Dies wird mit den polnischen Behörden abgestimmt.

Die Urne mit den sterblichen Überresten von Czesław Kukuczka trifft bei seiner Ehefrau und den drei Kindern erst Ende Mai 1974 ein. Die Bestattung findet auf dem Friedhof in Kamienica bei Limanowa, dem Heimatort des Feuerwehrmans, statt. Zu dieser Zeit wird in Ost-Berlin der Stasi-Offizier Hans Sabath, der Kukuczka am 29 März am Grenzübergang begleitet hat, mit dem Orden „Für Verdienste um Volk und Vaterland“ ausgezeichnet. In der Begründung dieser Auszeichnung heißt es, es sei ihm gelungen „eine Provokation zu verhindern und den Terroristen unschädlich zu machen“.

Was genau am 29. März 1974 in Ost-Berlin geschehen ist, haben die Kinder von Czesław Kukuczka erst 2015 erfahren, als sich die deutsche Presse der Sache angenommen hat. Die Ehefrau von Kukuczka starb einige Jahre zuvor, ohne die Wahrheit zu kennen. Bis heute ist ungewiss, was Czesław Kukuczka dazu bewog, in den Westen ausreisen zu wollen, und warum er sich dazu entschloss, es auf diese Art und Weise zu versuchen. Die Familie vermutet, dass ihn dazu finanzielle Probleme verleitet haben.

 

Monika Stefanek, Juni 2017

 

Edit 1:
 

Das Bezirksgericht Posen (Sąd Okręgowy w Poznaniu) erließ im August 2021 auf staatsanwaltlichen Antrag der Oddziałowa Komisja Ścigania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu w Poznaniu (Nebenstelle der Hauptkommission zur Strafverfolgung von Verbrechen gegen das polnische Volk in Posen) einen Europäischen Haftbefehl gegen den deutschen Staatsbürger Manfred N. Der ehemalige Offizier der Staatssicherheit der DDR (Stasi) soll am 29. März 1974 am Grenzübergang Friedrichstraße auf Czesław Kukuczka geschossen und ihn tödlich verletzt haben.

Im Kommuniqué der Hauptkommission zur Strafverfolgung von Verbrechen gegen das polnische Volk steht:

„Die Ermittlungen der Oddziałowa Komisja Ścigania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu w Poznaniu haben zweifelsfrei ergeben, dass die Staatssicherheit der DDR Czesław K. eine Falle gestellt und dabei von vornherein geplant hat, ihn damit am Verlassen Ost-Berlins zu hindern, auch wenn ihn dies das Leben kosten sollte. Der Täter gab den tödlichen Schuss ohne Vorwarnung heimtückisch in den Rücken des Opfers ab als keine Gefahr mehr von ihm ausging. Er nahm dessen Tod billigend in Kauf. Czesław K., der kein Sprengsatz bei sich führte, wurde beim Verlassen Ost-Berlins meuchlerisch getötet, wobei die ostdeutschen Behörden mit ihrer Behauptung, er habe eine Schusswaffe besessen und die Grenzsoldaten mit ihr bedroht, eine Finte in die Welt gesetzt haben, die ihren Aktivitäten den Anschein der Legitimität verleihen sollte. Demzufolge zielten die Maßnahmen der Stasi darauf ab, Czesław K. unter Verletzung elementarer Menschenrechte im Namen der politischen Ziele eines totalitären Staats um jeden Preis am Grenzübertritt zu hindern. Tatsächlich handelte es sich bei diesem Vorfall um eine Hinrichtung ohne Gerichtsurteil.“[1]

Ein solcher Strafbefehl gegen einen ausländischen Staatsbürger, der verdächtigt wird, kommunistische Verbrechen begangen zu haben, wurde zum allerersten Mal erlassen. Zur Anklage von Hans Sabath, des ehemaligen Chefs des Operativen Stabs der Stasi und Leiters der Aktion zur „Unschädlichmachung von Kukuczka“, kommt es jedoch nicht. Er verstarb 1986.

 

Monika Stefanek, August 2021

 

Edit 2:
 

Die Anklageschrift
 

Die deutschen Behörden lehnten die Auslieferung von Martin Manfred N. an die polnische Justiz ab. Im August 2022 verwies das Oberlandesgericht Dresden die Rechtssache jedoch an die Staatsanwaltschaft Berlin zurück, die bereits 2017 im Fall Czesław Kukuczka ermittelt hatte. Damals wurde die Tat von 1974 als Totschlag gewertet und galt somit laut deutschem Recht, im Gegensatz zu Mord, nach 20 Jahren als verjährt. Das Oberlandesgericht Dresden teilte diese Auffassung jedoch nicht und argumentierte, ein Schuss in den Rücken des Opfers aus dem Hinterhalt reiche für eine Mordanklage. Mord hingegen verjährt nicht.

Nach der erneuten Überprüfung des Sachverhalts durch die Staatsanwaltschaft Berlin konnte diesmal eine Anklageschrift formuliert werden. Am 12. Oktober 2023 wurde gegen den ehemaligen Stasi-Funktionär Martin Manfred N. die Anklage wegen Mordes aus Heimtücke erhoben. Die Grundlage der Anklageschrift bildete ein entscheidendes Dokument, das im Stasi-Unterlagen-Archiv gefunden wurde: ein Antrag auf die Auszeichnung des Funktionärs für einen gelungenen Einsatz am Grenzübergang. Darin heißt es, Martin Manfred N. habe von seinen Vorgesetzten den „persönlichen Auftrag“ erhalten, „den Terroristen unschädlich [zu] machen“. Seine Aufgabe habe er „umsichtig, mutig und entschlossen […] durch Anwendung der Schußwaffe“ erfüllt. Für diesen Einsatz hatte der Stasi-Funktionär den DDR-Kampforden „Für Verdienste um Volk und Vaterland“ in Bronze erhalten.

 

Ein historischer Prozess
 

50 Jahre nach dem tragischen Tod von Czesław Kukuczka, im März 2024, wurde das Verfahren gegen den 80-jährigen Martin Manfred N. vor dem Landgericht Berlin eröffnet. In dessen Zuge wurden u. a. die verbleibenden Augenzeug:innen befragt, darunter drei Frauen, die damals als Schülerinnen das Drama mit ansehen mussten. Als Sachverständige hatte das Gericht Prof. Daniela Münkel berufen, Leiterin der Forschungsabteilung beim Stasi-Unterlagen-Archiv, das mittlerweile einen Teil des Bundesarchivs bildet.

Laut der zuständigen Staatsanwältin Henrike Hillmann belegen die Archivunterlagen der Stasi eindeutig, dass Martin Manfred N. der Täter sei und dass er die Tat bewusst begangen habe. Auch das Mordmerkmal der Heimtücke sei demnach erfüllt, denn der Stasi-Funktionär sei zivil gekleidet gewesen und habe aus einem Versteck heraus geschossen. Kukuczka sei zu einem Zeitpunkt erschossen worden, an dem er bereits alle drei Kontrollpunkte passiert hatte und sich in Sicherheit wähnen konnte. Laut Staatsanwältin wären auch mildere Maßnahmen ausreichend gewesen, um den Polen „unschädlich“ zu machen. So hätte es z. B. gereicht, ihn zu überwältigen und zu verhaften. Einer der Nebenkläger, der im Prozess die Tochter von Czesław Kukuczka vertrat, betonte in seinem Plädoyer, der Begriff „Unschädlichmachung“ sei für die Stasi gleichbedeutend gewesen mit „Mord“.

Am 14. Oktober 2024 befand das Landgericht Berlin Martin Manfred N. des Mordes an Czesław Kukuczka schuldig und verurteilte ihn zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe. Den Schuldspruch begründete der Vorsitzende Bernd Miczajka mit dem heimtückischen Handeln des Angeklagten. Der Geschädigte habe nicht mehr mit einem Eingreifen der Grenztruppen gerechnet, da die Behörden aus seiner Sicht auf seine Forderungen eingegangen waren. Den Angeklagten habe er nicht wahrgenommen. Der Angeklagte sei sich bei der Schussabgabe dessen auch bewusst gewesen. Er habe sich planmäßig hinter einer Sichtblende versteckt, um diese Arglosigkeit des Geschädigten auszunutzen.[2]

Aus Sicht des Landgerichts habe der Angeklagte zwar auf Geheiß seiner Vorgesetzten gehandelt, gleichwohl sei sein Handeln weder nach bundesdeutschem noch nach dem damals in der DDR geltenden Recht gerechtfertigt gewesen. Vielmehr sei es dem Angeklagten darum gegangen, die Staatsdoktrin der DDR zu erfüllen, nämlich die Ausreise von Bürgern der DDR und ihrer sog. Bruderstaaten um jeden Preis zu verhindern,[3] hieß es in der Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters.

Zudem teilte das Gericht die Auffassung, der Täter habe die Möglichkeit gehabt, Kukuczka anderweitig „unschädlich“ zu machen. Ein Schuss in den Rücken aus nächster Entfernung sei als Mordabsicht zu werten.

 

Das erste Urteil dieser Art
 

Das Strafmaß von zehn Jahren richtet sich nach dem zum Tatzeitpunkt geltenden Strafgesetzbuch der DDR, genauer genommen nach § 112 Abs. 1. Das Berliner Landgericht ist dabei nach dem mildesten Recht vorgegangen, denn der aktuell geltende § 211 des Strafgesetzbuchs der Bundesrepublik Deutschland sieht bei Mord eine lebenslange Freiheitsstrafe vor.

Laut Prozessbeobachter:innen ist dieses Urteil von historischer Bedeutung. Zum ersten Mal ist ein Stasi-Funktionär wegen Mordes verurteilt worden. Frühere Verfahren gegen Stasi-Offiziere endeten meist in Freisprüchen oder Bewährungsstrafen. Nur zwei von den insgesamt ca. 250.000 Vollzeit-Mitarbeitenden der Stasi wurden je zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Martin Manfred N., der im gesamten Prozessverlauf die Aussage verweigert hatte, bestreitet weiterhin den Tatvorwurf. Er hat Berufung eingelegt.

 

Monika Stefanek, Januar 2025

 

Mediathek
  • Gedenkstelle für Franciszek Piesik

    Detailaufnahme am Berliner Mauerweg
  • Gedenkstelle für Czesław Kukuczka

    Bernauer Straße in Berlin
  • Czesław Kukuczka mit seiner Schwester

    Aufnahme aus den 60er Jahren
  • Czesław Kukuczka spielt Trompete

    Aufnahme aus den 60er Jahren
  • Polnische Opfer der Berliner Mauer - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch

    In Zusammenarbeit mit "COSMO Radio po polsku" präsentieren wir Hörspiele zu ausgewählten Themen unseres Portals.