Der „Polenmarkt“ am Potsdamer Platz in Berlin
„Westberlin, Westberlin, auf jedem zweiten Bürgersteig steht ein Pole“ – sang die Band „Big Cyc“ im Jahr 1990. Der satirische Text entsprach durchaus der Realität. Das Lied entstand, nachdem die Band mit der Bahn zu einem Konzert nach Deutschland gefahren war. In einem überfüllten Zug von Warschau nach Berlin wurde den Musikern sehr bald klar, dass es unter den Mitreisenden keinen Menschen gab, der Westberlin als Tourist besuchen wollte. Das Gepäck bestand aus allen möglichen Gütern – angefangen mit Lebensmitteln, etwa polnischer Wurst, Fleisch, Eiern, Butter und marinierten Pilzen, über Geschirr und Kleidung, lebende oder ausgestopfte Tiere, bis hin zu den obligatorischen Zigarettenkartons und Alkohol. Alle diese Produkte waren für den Polenmarkt am Reichpietschufer, ganz in der Nähe des damals noch brachliegenden Potsdamer Platzes, bestimmt.
1989 und 1990 spielten sich solche Szenen in den Zügen, die aus polnischen Städten nach Berlin gingen, ständig ab. Der Markt breitete sich so rasant aus, dass die Grenzen Westberlins, das von Ostberlin immer noch durch die Mauer getrennt war, in der Hochzeit seines Bestehens täglich von bis zu 300 Bussen, zig Zügen und von einer schwer einzuschätzenden Zahl kleiner Fiats passiert wurden. [1]
Zu dem Massensturm auf Westberlin trug die Abschaffung der Visumpflicht für polnische Reisende bei, die Anfang 1989 aufgehoben wurde. Jeder Bürger der Volksrepublik Polen durfte ab sofort einen Pass besitzen, ohne dass ihm Schikanen durch den kommunistischen Sicherheitsapparat drohten. Westberlin zog die Polen wie ein Magnet an, da die Metropole tatsächlich die einzige Stadt war, die ihnen offen stand. Wer in die DDR reisen wollte, brauchte weiterhin eine Einladung, während die Behörden der Bundesrepublik außer einer Einladung noch verlangten, pro Besuchstag im Besitz von 50 DM zu sein und eine Krankenversicherung zu haben. Diese Vorschriften galten jedoch nicht für Westberlin. Hier durften sich Bürger der Ostblockstaaten laut den Regularien der Alliierten 31 Tage lang aufhalten.
Dieses Privileg beschlossen sehr viele Polen zu nutzen, woraufhin die Berliner Zeugen solcher Szenen in der Nähe der Berliner Mauer wurden: „(...) Beladen mit Nylontaschen, überbeladene Zweiradwagen hinter sich herziehend, zogen sie in endlosen Reihen vom Grenzübergang am Ostberliner Bahnhof Friedrichsstraße zum Platz vor der Oper und dem Park am Landwehrkanal, um schlussendlich zu Tausenden samt den auf dem Boden und auf dem Arm eingerichteten „Läden“ auf dem öden Erdenfleck zwischen dem türkischen Flohmarkt und der Schiene der im Versuchsbetrieb eingesetzten Magnetschwebebahn auszuharren”. [2]
Der Handel der Polen „womit auch immer”, dazu unter erniedrigenden Umständen, auf staubiger Erde oder im Matsch, bei Hitze und bei schlechtem Wetter, vor allem aber in ständiger Angst vor der Beschlagnahmung der weder beim Zoll noch bei der Polizei verzollten Ware, verdankte sich nicht so sehr ihrem natürlichen Hang zur Geschäftemacherei, sondern er wurde vielmehr durch die äußerst prekäre wirtschaftliche Lage vieler polnischer Familien erzwungen. Mit dem Verkauf von 20 kurzärmligen Blusen, die in Polen umgerechnet 2 DM kosteten, erzielte man in Berlin einen Monatsverdienst, der umgerechnet etwa 40 DM betrug. Insofern war der Polenmarkt vor allem ein Phänomen seiner Zeit.
Dem massenhaften Ansturm der polnischen Händler auf ihre Stadt begegneten die Berliner anfangs mit natürlichem Interesse. Der provisorische Markt wurde Ziel von Wochenendausflügen, wobei er sowohl von gebürtigen Deutschen als auch von Migranten aufgesucht wurde, die hier die kuriosesten Dinge kauften. Die Existenz des Polenmarktes war den meisten solange egal, bis er so groß wurde, dass er nur noch schwer beherrschbar war.