Polnische Opfer der Berliner Mauer: Franciszek Piesik und Czesław Kukuczka

Franciszek Piesik (links) und Czesław Kukuczka
Franciszek Piesik (links) und Czesław Kukuczka, Aufnahmedatum unbekannt

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Die Anklageschrift
 

Die deutschen Behörden lehnten die Auslieferung von Martin Manfred N. an die polnische Justiz ab. Im August 2022 verwies das Oberlandesgericht Dresden die Rechtssache jedoch an die Staatsanwaltschaft Berlin zurück, die bereits 2017 im Fall Czesław Kukuczka ermittelt hatte. Damals wurde die Tat von 1974 als Totschlag gewertet und galt somit laut deutschem Recht, im Gegensatz zu Mord, nach 20 Jahren als verjährt. Das Oberlandesgericht Dresden teilte diese Auffassung jedoch nicht und argumentierte, ein Schuss in den Rücken des Opfers aus dem Hinterhalt reiche für eine Mordanklage. Mord hingegen verjährt nicht.

Nach der erneuten Überprüfung des Sachverhalts durch die Staatsanwaltschaft Berlin konnte diesmal eine Anklageschrift formuliert werden. Am 12. Oktober 2023 wurde gegen den ehemaligen Stasi-Funktionär Martin Manfred N. die Anklage wegen Mordes aus Heimtücke erhoben. Die Grundlage der Anklageschrift bildete ein entscheidendes Dokument, das im Stasi-Unterlagen-Archiv gefunden wurde: ein Antrag auf die Auszeichnung des Funktionärs für einen gelungenen Einsatz am Grenzübergang. Darin heißt es, Martin Manfred N. habe von seinen Vorgesetzten den „persönlichen Auftrag“ erhalten, „den Terroristen unschädlich [zu] machen“. Seine Aufgabe habe er „umsichtig, mutig und entschlossen […] durch Anwendung der Schußwaffe“ erfüllt. Für diesen Einsatz hatte der Stasi-Funktionär den DDR-Kampforden „Für Verdienste um Volk und Vaterland“ in Bronze erhalten.

 

Ein historischer Prozess
 

50 Jahre nach dem tragischen Tod von Czesław Kukuczka, im März 2024, wurde das Verfahren gegen den 80-jährigen Martin Manfred N. vor dem Landgericht Berlin eröffnet. In dessen Zuge wurden u. a. die verbleibenden Augenzeug:innen befragt, darunter drei Frauen, die damals als Schülerinnen das Drama mit ansehen mussten. Als Sachverständige hatte das Gericht Prof. Daniela Münkel berufen, Leiterin der Forschungsabteilung beim Stasi-Unterlagen-Archiv, das mittlerweile einen Teil des Bundesarchivs bildet.

Laut der zuständigen Staatsanwältin Henrike Hillmann belegen die Archivunterlagen der Stasi eindeutig, dass Martin Manfred N. der Täter sei und dass er die Tat bewusst begangen habe. Auch das Mordmerkmal der Heimtücke sei demnach erfüllt, denn der Stasi-Funktionär sei zivil gekleidet gewesen und habe aus einem Versteck heraus geschossen. Kukuczka sei zu einem Zeitpunkt erschossen worden, an dem er bereits alle drei Kontrollpunkte passiert hatte und sich in Sicherheit wähnen konnte. Laut Staatsanwältin wären auch mildere Maßnahmen ausreichend gewesen, um den Polen „unschädlich“ zu machen. So hätte es z. B. gereicht, ihn zu überwältigen und zu verhaften. Einer der Nebenkläger, der im Prozess die Tochter von Czesław Kukuczka vertrat, betonte in seinem Plädoyer, der Begriff „Unschädlichmachung“ sei für die Stasi gleichbedeutend gewesen mit „Mord“.

Am 14. Oktober 2024 befand das Landgericht Berlin Martin Manfred N. des Mordes an Czesław Kukuczka schuldig und verurteilte ihn zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe. Den Schuldspruch begründete der Vorsitzende Bernd Miczajka mit dem heimtückischen Handeln des Angeklagten. Der Geschädigte habe nicht mehr mit einem Eingreifen der Grenztruppen gerechnet, da die Behörden aus seiner Sicht auf seine Forderungen eingegangen waren. Den Angeklagten habe er nicht wahrgenommen. Der Angeklagte sei sich bei der Schussabgabe dessen auch bewusst gewesen. Er habe sich planmäßig hinter einer Sichtblende versteckt, um diese Arglosigkeit des Geschädigten auszunutzen.[2]

Aus Sicht des Landgerichts habe der Angeklagte zwar auf Geheiß seiner Vorgesetzten gehandelt, gleichwohl sei sein Handeln weder nach bundesdeutschem noch nach dem damals in der DDR geltenden Recht gerechtfertigt gewesen. Vielmehr sei es dem Angeklagten darum gegangen, die Staatsdoktrin der DDR zu erfüllen, nämlich die Ausreise von Bürgern der DDR und ihrer sog. Bruderstaaten um jeden Preis zu verhindern,[3] hieß es in der Urteilsbegründung des Vorsitzenden Richters.

Zudem teilte das Gericht die Auffassung, der Täter habe die Möglichkeit gehabt, Kukuczka anderweitig „unschädlich“ zu machen. Ein Schuss in den Rücken aus nächster Entfernung sei als Mordabsicht zu werten.

 

Das erste Urteil dieser Art
 

Das Strafmaß von zehn Jahren richtet sich nach dem zum Tatzeitpunkt geltenden Strafgesetzbuch der DDR, genauer genommen nach § 112 Abs. 1. Das Berliner Landgericht ist dabei nach dem mildesten Recht vorgegangen, denn der aktuell geltende § 211 des Strafgesetzbuchs der Bundesrepublik Deutschland sieht bei Mord eine lebenslange Freiheitsstrafe vor.

Laut Prozessbeobachter:innen ist dieses Urteil von historischer Bedeutung. Zum ersten Mal ist ein Stasi-Funktionär wegen Mordes verurteilt worden. Frühere Verfahren gegen Stasi-Offiziere endeten meist in Freisprüchen oder Bewährungsstrafen. Nur zwei von den insgesamt ca. 250.000 Vollzeit-Mitarbeitenden der Stasi wurden je zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Martin Manfred N., der im gesamten Prozessverlauf die Aussage verweigert hatte, bestreitet weiterhin den Tatvorwurf. Er hat Berufung eingelegt.

 

Monika Stefanek, Januar 2025

 

[2] Pressemitteilung des Landgerichts Berlin I, in: Das offizielle Hauptstadtportal, 14.10.2024, URL:https://www.berlin.de/gerichte/presse/pressemitteilungen-der-ordentlichen-gerichtsbarkeit/2024/pressemitteilung.1493886.php (zuletzt aufgerufen am 07.01.2024).

[3] Ebenda.

Mediathek
  • Gedenkstelle für Franciszek Piesik

    Detailaufnahme am Berliner Mauerweg
  • Gedenkstelle für Czesław Kukuczka

    Bernauer Straße in Berlin
  • Czesław Kukuczka mit seiner Schwester

    Aufnahme aus den 60er Jahren
  • Czesław Kukuczka spielt Trompete

    Aufnahme aus den 60er Jahren
  • Polnische Opfer der Berliner Mauer - Hörspiel von "COSMO Radio po polsku" auf Deutsch

    In Zusammenarbeit mit "COSMO Radio po polsku" präsentieren wir Hörspiele zu ausgewählten Themen unseres Portals.