Jazz ist Freiheit – Vladyslav „Adzik“ Sendecki
Die Hamburger Zeit – Jazzformationen
Vladyslav Sendecki hat eine sehr enge Beziehung zu Hamburg aufgebaut. Seit den Anfängen, d.h. seit Mitte der 1990er, lebt er dort im Stadtzentrum, an der Alster. Er ist fest in das Hamburger Musikmilieu hineingewachsen.
Mit Gerry Brown, Detlev Beier und Ingolf Burkhardt gründete er das „Hamburg Jazz Quartett“, das auch mit Wolfgang Schlüter zusammenarbeitete. Mit „Jazz Christmas“ legten sie das erste Album mit deutschen Weihnachtsliedern in einem Jazz-Arrangement auf. Zusammen gaben sie etliche Konzerte.
Das virtuose Jazzduo Jürgen Spiegel (drums) & Vladyslav Sendecki (piano) wurde im Jahr 2018 gegründet. Von Anfang an fand die Formation große internationale Resonanz. Die Musiker haben bislang zwei Alben herausgegeben: „two in the mirror“ und „solace“. Letzteres, bestehend aus sieben Kompositionen von Sendecki und sechs Werken von Spiegel, entstand in Hamburg während des Lockdowns von 2021. Der NDR berichtet positiv über die Effekte dieses Projekts: „Sendecki und Spiegel spielen sich frei, sie können sich aufeinander verlassen. Sendecki, einer der virtuosesten Pianisten der Jazzwelt, nutzt jede Gelegenheit, um in die süffigen Melodien atemberaubende Läufe oder unerwartete Harmonien einzubauen, die ein zunächst leichtgängiges Stück plötzlich aufregend um die Ecke biegen, in eine neue Richtung – Chopin und Debussy stehen Pate, ebenso wie Coltrane.“[2] Den Schlagzeuger Jürgen Spiegel lobt die Kritikerin wiederum für den empathischen Rhythmus. Das Album „solace“ wurde im Jahr 2022 in der polnischen Monatszeitschrift „Jazz Forum“ zur „CD des Monats“ erklärt.[3]
Seit 2011 gibt Vladyslav Sendecki Konzerte mit dem „Atom String Quartet“ (Dawid Lubowicz, Marcin Hałat – Geige, Michał Zaborski – Altgeige, Krzysztof Lenczowski – Violoncello). Es ist eines der weltweit originellsten Kammerensembles, welches aufgrund seiner Offenheit für Improvisation weit über die Möglichkeiten eines klassischen Streichquartetts hinausgeht. Mit dem eine Generation älteren Vladyslav Sendecki als Solisten reicht das Repertoire dieser Formation von Jazz bis zu modernen Musikwerken und überschreitet bravourös die Grenzen zwischen Musikgattungen.
Ein besonderes Augenmerk von Vladyslav Sendecki liegt auf Projekten, die Poesie und Jazz verbinden. Mit seiner zweiten Ehefrau, Angélique Duvier (www.angeliqueduvier.com) – einer deutschen Schauspielerin und Schriftstellerin – gründete er 2009 die Band „Lyrik & Jazz Ensemble“. Gemeinsam haben sie poetisch-jazzige Programme wie „Ein polnischer Traum“, „Joseph Freiherr von Eichendorff“ und „Chopin“ entwickelt. In ihren Programmen verwenden sie u. a. Gedichte von Czesław Miłosz und Wisława Szymborska in der Übersetzung von Karl Dedecius. Sie präsentieren Lyrik und Jazz in Deutschland und in Polen, waren aber auch schon nach China und Schweden eingeladen.
Nach Jahren wieder in Polen
Seiner Frau Angélique verdankt er, dass er nach 25 Jahren eines Lebens fernab der Heimat im Jahr 2005 endlich nach Polen aufbrach. Nach einem gemeinsamen Auftritt in Jena sagte ihm seine Frau im Auto: „Jetzt fahren wir nach Polen“. Er vermisste den Kontakt zu seiner Heimat. Auch wenn sie während all der Jahre im Ausland immer wieder präsent war. Er nutzte Gelegenheiten, um mit Musiker:innen aus Polen zu spielen, und nahm, wann immer möglich, Einladungen von polnisch-deutschen Organisationen an. Auch seine deutschen Kolleg:innen motivierte er zur Zusammenarbeit mit polnischen Musiker:innen und freute sich besonders, wenn die NDR Bigband polnisch-deutsche Projekte realisierte. Die Rückkehr nach Polen nach 25 Jahren bewegte ihn emotional. Er fühlte, wie nahe ihm alles war – die Kultur, die Landschaft und vor allem die Menschen, von denen er viel bekommen hatte.
Und dann lief alles wie von selbst. 2005 meldet sich ein alter Schulkollege aus Krakau, Witold Wnuk, bei ihm. Er organisierte das „Summer Jazz Festival“ und bot ihm an, mitzumachen. Kurz danach verwirklicht Adzik seinen Traum – mithilfe von Wnuk gründet er die Stiftung „My Polish Heart“, die Künstler:innen unterstützen soll. Sendecki vertritt die Ansicht, dass vor allem ältere Künstler:innen Unterstützungsangebote benötigen, wobei jüngere dagegen anfangs durch diverse Programme aufgefangen werden. „An die älteren Künstler:innen, die das Fundament für das legten, was wir heute als Künstler:innen sind, denkt kaum jemand“, betont er im Gespräch mit „Porta Polonica“.
Seit seinem Besuch in Polen im Jahr 2005 nimmt Sendecki Einladungen zu Konzerten in Polen an, so zum Beispiel zum Sommerfestival in Warschau „Jazz na Starówce“ („Jazz in der Altstadt“). Dort spielte er mit dem „Polish Blue Note Quartet“: Vladyslav Sendecki (Piano), Andrzej Olejniczak (Saxophon, Tenorsaxophon), Paweł Dobrowolski (Schlagzeug), Michał Barański (Bass, Bassgitarre). Die Fachpresse berichtete: „Das, was Adzik Sendecki darbot, geht über die menschliche Vorstellungskraft hinaus, weil er kein Pianist, sondern ein wahrer Zauberer ist, und zugleich ein Künstler mit überdurchschnittlicher Ausstrahlung, lebhafter Intelligenz und einem außergewöhnlichen Talent, Kontakt zum Publikum aufzunehmen.“[4]
Im Jahr 2021 verließ Vladyslav Sendecki die NDR Bigband und ging in den Ruhestand. Jedoch bedeutet diese neue Phase seines Lebens keineswegs, dass der Musiker das Tempo verlangsamt. Ganz im Gegenteil. Er spielt im Trio Sendecki, Nils Petter Molvær, Mino Cinelu sowie in den Duos Sendecki/Spiegel und Sendecki/Ballard. Aktuell arbeitet er an einer neuen CD Sendecki & Spiegel gemeinsam mit der EuropaChorAkademie und an der Filmmusik zum neuen Film „Fluss“.
Preise und Auszeichnungen
1975 gewinnt er zusammen mit „Extra Ball“ den Hauptpreis für Bands auf dem Festival „Jazz an der Oder“ (Jazz nad Odrą). Außerdem gewinnt Sendecki hier neben Jarosław Śmietana einen Einzelpreis.
Von den Leser:innen des „Jazz Forum“ (Warschau) wird zum besten Jazzpianisten des Jahres 1980 gewählt.
Die Freie und Hansestadt Hamburg – die deutsche Wahlheimat von Sendecki – zeichnete ihn im Jahr 2011 mit ihrem höchsten Jazzpreis aus, dem „Hamburger Jazzpreis“.
Im Jahr 2015 bekam er die höchste polnische Auszeichnung für Errungenschaften in der Kunst, „Gloria Artis“.
Ebenfalls im Jahr 2015 wurde Sendecki vom Bürgermeister seines Geburtsortes Gorlice der „Dersław-Karwacjan-Preis“ (Nagroda Dersława Karwacjana) für außerordentliche Leistungen im Bereich der Kultur verliehen.
2017 wurde ihm von seiner Heimatstadt Gorlice die Ehrenbürgerschaft verliehen.
Im Jahr 2021 erhielt er für seine außergewöhnlichen Leistungen im Jazz und als Erinnerung an seine Heimat den Preis „Most Starosty“ („Brücke des Starosts“) vom der Landrat von Gorlice.
Ende Oktober 2023 erhielt Sendecki in Wien den angesehenen Polonia-Preis, die „Goldene Eule“.
Joanna de Vincenz, Oktober 2023
Die Autorin dankt Vladyslav Sendecki für das mehrstündige Gespräch sowie dem Hauptredakteur des „Jazz Forum“ Paweł Brodowski und der Redaktion für die Bereitstellung des Archivmaterials.
Ausgewählte Diskografie von Vladyslav Sendecki
- Recital (1983) / Michał Urbaniak, Vladyslav Sendecki
- Men from Wilnau (1988)
- Wagnerama feat. Mike Kilian – Haunted (1994)
- Seelenlandschaften (1999) / Joachim Berendt, Krzysztof Zgraja, Philip Catherine, Vladyslav Sendecki
- Like a Bird (2000)
- A Tribute to Raymond Scott (2005)
- Piano (2007)
- Electric Treasures (2008) / Markus Stockhausen, Arild Andersen, Patrice Héral, Vladyslav Sendecki
- Solo Piano at Schloss Elmau (2010)
- Le Jardin oublié / My Polish Heart (2018) / Vladyslav Sendecki & Atom String Quartet
- two in the mirror (2019) / Sendecki & Spiegel
- solace (2022) / Sendecki & Spiegel
Videopoträt von Veronika Emily Pohl über Vladyslav Sendecki in der Reihe NDR Bigband „Going Solo“ (2019)
[2] Mauretta Heinzelmann in der NDR-Sendung vom 4.02.2022: Der Text ist im Internet zugänglich: https://www.ndr.de/kultur/sendungen/play_jazz/Jazz-Album-der-Woche-Solace-von-Sendecki-Spiegel,sendeckispiegel106.html (zuletzt aufgerufen am: 06.11.2023).
[3] Piotr Kałużny: Sendecki & Spiegel: „solace“, im: „Jazz Forum“ 10-11/2016, S. 14.
[4] Jacek Żmichowski: Jazz na Starówce. Vladyslav „Adzik“ Sendecki, in: „Jazz Forum“ 10-11/2016, S. 14.