Der Tod eines polnischen Wehrmachtssoldaten in Russland: Bernhard Switon (1923-1942)
In Russland ist die Haltung den deutschen Soldatenfriedhöfen gegenüber bis heute sehr gespalten. Einerseits sind die Menschen froh, wenn die in ihrer Nähe[18] gefundene Überreste deutscher Soldaten umgebettet werden, was nach dem christlichen Brauch einer „vernünftige Bestattung“ auch die beste Lösung zu sein scheint. Andererseits erscheint es in Russland vielen Menschen befremdlich, dass die Kriegsantreiber, die das Land angegriffen haben, in diesem Land „ehrenvoll“ auf einem Friedhof beerdigt sein sollten. Das hängt damit zusammen, dass das Gedenken an die Soldaten in Russland mit Ehrung der Verstorbenen als Sieger gleichgesetzt wird. Diese Einstellung wurde viele Jahrzehnte lang durch die systematische Idealisierung des Sieges im Vaterländischen Krieg[19] und der Ehrung der Soldaten als Helden geprägt. Dabei war „die russisch-sowjetische Deutungskultur des Großen Vaterländischen Krieges von Beginn an hybrid und vielgestaltig, und auch sie beruhte dennoch auf einer zentralen Unterscheidung: der zwischen Siegern und Besiegten“[20] und ließ damit nicht viel Spielraum für die Einordnung in unterschiedliche Gruppen von Opfern und Tätern. Seit den 1960er Jahren bekommt „heroisierendes Gedenken an den Krieg“[21] einen immer größeren Platz in der Öffentlichkeit der Sowjetunion und Russlands. Bis heute wird die Erinnerung an diesen Krieg als eines der wichtigsten Ereignisse in der russischen Kultur wahrgenommen und an mehreren Tagen im Jahr feierlich zelebriert. „Die Feiertage, welche an den Sieg im Zweiten Weltkrieg erinnern, sind in Russland noch immer von großer Bedeutung [...] 71,5 Prozent erachten diese Tage als wichtig, weshalb sie als noch bedeutender aufgefasst werden als beispielsweise Weihnachten [...]“[22]. Die Bedeutung dieser Feiern ist so groß, dass die feierliche Parade zum 75. Tag des Sieges im Vaterländischen Krieg selbst in der Corona-Krise 2020 nicht abgesagt, sondern nur vom 09.05.2020 auf den 24.06.2020[23] verschoben wurde.
Aus dieser Perspektive heraus gestalten sich die Verhandlungen zu den deutschen Gedenkorten in Russland eher schwierig, was anhand von russischer Zeitungsartikel online ersichtlich ist. Bei den Beiträgen über die Friedhöfe reichen die Titel von „Gräber in den Kellern gefunden“ (Zeitschrift Dnovec, 2018) und „Der 95-jährige ehemalige Soldat der Wehrmacht Hugo Bosse kam in das Nowgoroder Gebiet“ (53 Novosti, 2018), welche objektive oder positive Schilderungen der Kriegsgräberfriedhofsarbeit zeigen, bis hin zu „Russlands Körper wird von den Eiterbeulen der faschistischen Memorialen bedeckt“ (RVS, 2015) und „Deutscher Volksbund Kriegsgräberfürsorge bereitet unter Wolgograd eine pompöse Umbettungszeremonie vor“ (SM News, 2019). Der Volksbund weist die Vorwürfe einer Siegerehrung deutscher Soldaten zurück:
„Soldatenfriedhöfe seien keine Orte, wo Tote geehrt werden, sondern Orte, wo sie ihre letzte Ruhe finden.“[24]
Um mögliche Wahrnehmungen von Ehrung einzelner deutscher Soldaten zu vermeiden stellt der Volksbund auf den Friedhöfen keine einzelnen Grabsteine, sondern Gedenktafeln mit gesammelten Namen und einigen beschrifteten Kreuzen auf. Bemerkenswert ist auch, dass auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Nowgorod auch Gedenktafeln für spanische und flämische Soldaten aufgestellt sind, polnische Soldaten werden jedoch nicht erwähnt. Das hängt damit zusammen, dass die in die Wehrmacht eingezogenen Polen aus dem Osten eher an die Westfront geschickt wurden und die Polnischstämmigen im Westen waren in den Militärarchiven mit deutscher Staatsbürgerschaft verzeichnet. Es ist aber durchaus möglich, dass viele der Ruhrpolen an die Ostfront kamen, da in dem Auszug der Namensliste des Volksbundes zum Friedhof Nowgorod zahlreich polnische Nachnamen vertreten sind. Aus den Unterlagen ist nicht ersichtlich, welche Schicksale die einzelnen Wehrmachtssoldaten auf dem Territorium der Sowjetunion hatten. Besonders unter den Soldaten mit erzwungenen Wehrmachtsbeitritten kann man sich viele Deserteure vorstellen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine solche Haltung auch auf Bernhard Switon zugetroffen habe, jedoch gab es bei der Recherche weder aufschlussreiche Information zu der Einstellung von ihm dem NS-Regime gegenüber, noch Angaben zu seiner Tätigkeit an der Ostfront und der genauen Todesursache.
Das Thema der Beteiligung verschiedener Akteure im Zweiten Weltkrieg in Zusammenhang mit der Schuldfrage ist auch in Polen kritisch gesehen. So sorgte die Information darüber, dass der Großvater von Donald Tusk in der Wehrmacht[25] gewesen war, für große Schlagzeilen und das Werk „Polen in der Wehrmacht“ von Kaczmarek für viel Aufruhr, da es laut Kaczmarek:
„[…] kaum ein Bewusstsein dafür [gab], dass ein Volksdeutscher, auch ein Pole im ethnokulturellen Sinne gewesen sein könnte, der unter Zwang [...] in die deutsche „Volksgemeinschaft“ aufgenommen worden war [...]. Es kam es einem Schock gleich, sich bewusst zu werden, dass ethnische Polen [...] nicht nur in einzelnen Fällen, sondern massenweise in der Wehrmacht gedient hatten, zumal in Polen kein Zweifel darüber bestanden hatte, dass die Wehrmacht mitverantwortlich für Kriegsverbrechen war.“[26]
[18] Gebeine sehr vieler gefallene Soldaten liegen bis heute dort, wo sie im Krieg provisorisch beerdigt wurden und worauf im weiteren Verlauf Häuser, Straßen oder Parks gebaut wurden.
[19] Als Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941-1945.
[20] Langenohl, Andreas. „Staatsbesuche: Internationalisierte Erinnerung an Den Zweiten Weltkrieg in Rußland Und Deutschland." Osteuropa 55, Nr. 4/6 (2005): S. 85. http://www.jstor.org/stable/44932726.
[21] Jahn, Peter: 22 Juni 1941: Kriegserinnerung in Deutschland und Russland (30.11.2011), in: http://www.bpb.de/apuz/59643/22-juni-1941-kriegserinnerung-in-deutschland-und-russland?p=all.
[22] Rüschendorf, Raphael Felix: Stalingrad im kollektiven Gedächtnis der Wolgograder Bevölkerung. Wie sich der Generationenwechsel auf die Erinnerung auswirkt (02.02.2017), https://erinnerung.hypotheses.org/1067.
[23] Am 24.06.1945 fand zudem die erste Parade nach dem Zweiten Weltkrieg in Moskau statt.
[24] Siegl, Elfie, S. 310.
[25] Erst nach der Präsidentschaftswahlkampfkampagne 2005 stellte sich heraus, dass der Großvater von Donald Tusk 1939-42 in Zwangsarbeit und Konzentrationslagern war, bevor er nach Freilassung 1943 in die Wehrmacht eingezogen wurde und es später schaffte zu den Polnischen Streitkräften (PSZ) zu wechseln. Vgl.: Kaczmarek, Ryszard, S. 16 f.
[26] Kaczmarek, Ryszard, S. 18.