Der Tod eines polnischen Wehrmachtssoldaten in Russland: Bernhard Switon (1923-1942)

Bernhard Switon in Militäruniform, Kopie 2019, Original im Besitz von Dorota Ciernia
Bernhard Switon in Militäruniform, Kopie 2019, Original im Besitz von Dorota Ciernia

Allgemeine historische Einordnung

 

Nach den drei schrittweisen Teilungen Polens durch die Nachbarmächte Preußen, Österreich und Russland war Polen als souveräner Staat von 1795 bis hin zum Ende des Ersten Weltkrieges gänzlich von der Landkarte Europas verschwunden. Dabei gab es in jedem der vormals polnischen Territorien einen eigenen Umgang der jeweiligen Teilungsmächte mit der verbliebenen polnischen Bevölkerung. Die politische Strategie in Preußen war die Germanisierung der polnischen Bevölkerung. Polinnen und Polen, die in Preußen lebten, besaßen die preußische Staatsbürgerschaft und werden in der deutschen Sekundärliteratur als „Inlandspolen“ und diejenige, die in den anderen Teilen lebten als „Auslandspolen“ bezeichnet.[1] Die Inlandspolen mussten in der Schule Deutsch lernen und durften weder ihre polnische Kultur ausleben noch Kontakt zu Polen aus anderen Gebieten pflegen. Durch diese erzwungene Assimilation haben die polnischen Einwanderinnen und Einwanderer der späteren Arbeitsmigration bereits die deutsche Sprache beherrscht, Polnisch blieb jedoch meist trotz allem vordergründig im Privat- und Familienleben und bildete, zu einem großen Teil, die polnische nationale Identität mit.

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts kam es im Deutschen Kaiserreich zu einer schnellen Entwicklung des Industriesektors. Der rasant steigende Bedarf an Arbeitskräften lockte viele Arbeiter auch aus ferner gelegenen Regionen in die Industriestädte des Ruhrgebiets in den Bergbau, das Hüttenwesen, Baugewerbe und in die Ziegelherstellung. Um auch den für den wachsenden Arbeitsmarkt attraktiven Inlandspolen die Arbeitsmigration in bestimmte westliche Provinzen zu ermöglichen, fügte sich die Gesetzgebung den wirtschaftlichen Interessen der Industrie. So wurde das Ruhrgebiet „polonisiert“, was die Geburtsstunde der sogenannten „Ruhrpolen“ war. Gleichzeitig wurden die Rechte der polnischen Einwanderinnen und Einwanderer aber in einem solchen Maß gesteuert, dass sich die polnische Kultur und Sprache nicht verbreiten konnten.[2] Zwischen 1870 und 1920 wanderten laut Berechnungen bis zu einer halben Million polnischstämmige bzw. -sprachige Menschen aus den ländlich geprägten preußischen Ostprovinzen in das Industriegebiet an Rhein und Ruhr aus.[3] Aufgrund noch fehlender sozialer Strukturen für die Zugewanderten entstanden zügig eigeninitiativ zahlreiche polnische Vereine, welche für Traditionspflege, Spracherhalt und Unterstützung sorgten.[4] Die Anzahl der Mitglieder sank jedoch in den 1920er und 1930er Jahren stark und Verbände mussten sich zum Teil sogar wegen fehlender Mitglieder auflösen.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und in der Weltwirtschaftskrise verließen viele der polnischen Migrantinnen und Migranten Deutschland aus persönlichen, nationalmotivierten oder wirtschaftlichen Gründen. Viele ehemalige Kriegsgefangene, Zwangsarbeitende und Deportierte kehrten zurück in den wiedergründeten polnischen Nationalstaat, andere ließen sich abwerben und migrierten nach Nordfrankreich.[5] Ein vergleichbar kleiner Teil der Polinnen und Polen ist in Deutschland geblieben. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme kam es schließlich zu einer „potenziellen Pogromstimmung“[6] den nationalen Minderheiten gegenüber, zu denen ebenfalls die Ruhrpolen gehörten. Mit der zuvor zuerkannten preußischen Staatsangehörigkeit waren für sie nun nicht mehr vergleichbare politische Rechte verbunden, wie dem eingeschränkten Kreis der deutschen Reichsbürger.[7]

Es kam zu Verhaftungen, Entlassungen, Auflösungsverfügungen der Verbände als staatsfeindlich Institutionen und Beschlagnahmungen des Vereinsvermögens, Benachteiligungen von Angehörigen verschiedener Minderheiten bei Institutionen und zunehmend verschärften Pressezensur. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war die Auflösung aller polnischen Organisationen sieben Tage nach Kriegsausbruch 1939 sowie die Inhaftierung und Einlieferung der führenden Funktionäre und Vorsitzenden in Konzentrationslager.[8] Die große Mehrheit der Ruhrpolen, welche nicht besonders auffielen, ist überwiegend verschont geblieben, da vor allem Arbeitskräfte im Bergbau benötigt wurden. Der alltäglichen rassistischen Diskriminierung in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens konnten auch sie sich jedoch kaum entziehen. Ab 1939 wurde von der nationalsozialistischen Politik eine andere Problematik in den polnischstämmigen Bergarbeitern gesehen – die möglichen Verbindungen der Ruhrpolen mit den polnischen Zwangsarbeitern, da „während der faschistischen Besatzung Polens [...] zwischen 3 und 4 Millionen [polnischsprachige] Menschen“[9] in das Deutsche Reich verschleppt wurden. Die Aktivitäten der Ruhrpolen wurden daher genau beobachtet und weiter eingeschränkt. Die Kinder der polnischen Eingewanderten konnten keinen Polnisch-Unterricht mehr besuchen, sondern mussten den nationalsozialistischen Organisationen folgen, welche für die „richtige“ Erziehung der jungen Menschen sorgen sollte.

Da sie sich nicht der Wehrpflicht entziehen konnten, wurden auch schließlich die jungen polnischen Männer in den Wehrdienst eingezogen. Wie die Bedingungen für Ruhrpolen und andere Minderheiten in den Wehrmachtsreihen gewesen sind, ist nicht ersichtlich. Christoph Rass merkte 2003 dazu an, dass „[...] die Mannschaftssoldaten hinsichtlich etwa der sozialen Strukturen innerhalb der Wehrmacht, ein weißer Fleck in der Forschungslandschaft bleiben“[10]. Eine ähnliche und noch direktere Beurteilung findet sich bei Ryszard Kaczmarek wieder, der wie folgt anmerkt: „Der Forschungsstand zu den Soldaten in der Wehrmacht und insbesondere ihrer polnischen Soldaten lässt sich kaum als zufriedenstellend bezeichnen. Letztere spielen in der deutschen zeithistorischen Forschung so gut wie keine Rolle, auch wenn es seit langem Untersuchungen zu Wehrmachtsangehörigen anderer Nationen [...] gibt.“[11]

In Kaczmareks Buch „Polen in der Wehrmacht“ wird die erzwungene „Eindeutschung“ und Aufnahme der Polen aus den 1939 angegliederten Gebieten in die Wehrmacht thematisiert. Dabei wird die Stellung der Polen als „Bürger und Soldaten zweiter Klasse“[12] beschrieben, die Situation der Polen aus dem Ruhrgebiet wird jedoch nicht spezifisch behandelt.

 

[1] Boldt, Thea D.: Die stille Integration. Identitätskonstruktionen von polnischen Migranten in Deutschland. Biographie- und Lebensweltforschung, Band 11, Frankfurt am Main: 2012, S. 24.

[2] Ebd., S. 25 f.

[4] Ebd.

[5] Trevisiol, Oliver: Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich 1871-1945. Diss., Universität Konstanz 2004, S. 29.

[6] Kleßmann, Christoph: Zur rechtlichen und sozialen Lage der Polen im Ruhrgebiet im Dritten Reich, in: Archiv für Sozialgeschichte, XVII. Band 1977, S. 179.

[7] Trevisiol, Oliver, S. 75.

[8] Kleßmann, Christoph, S. 187 ff.

[9] Dzikowska, Elżbieta Katarzyna: Polnische Migranten in Deutschland, deutsche Minderheit in Polen – zwischen den Sprachen und Kulturen, in: Germanica, 38, 2006, https://doi.org/10.4000/germanica.422.

[10] Rass, Christoph, „Menschenmaterial“ – Deutsche Soldaten an der Ostfront Innenansichten einer Infanteriedivision; 1939 - 1945 Paderborn; München [u. a.] 2003, S. 16 f.

[11] Kaczmarek, Ryszard: Polen in der Wehrmacht. Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Band 65, München 2017, S. 13.

[12] Ebd., S. 59 f.

Mediathek
  • Bernhard Switon in Militäruniform, Kopie 2019

    Bernhard Switon in Militäruniform, Kopie 2019, Original im Besitz von Dorota Ciernia
  • Ältere Schwester Antonja, Mutter Jozefa und der Ehemann der Schwester, Kopie 2019

    Ältere Schwester Antonja, Mutter Jozefa und der Ehemann der Schwester von Bernhard Switon, Kopie 2019, Original im Besitz der Dorota Ciernia
  • Bruder (?) von Bernhard Switon – Adalbert/Wojciech, Kopie 2019

    Bruder (?) von Bernhard Switon – Adalbert/Wojciech, Kopie 2019, Original im Besitz von Dorota Ciernia
  • Eintrag aus dem standesamtlichen Sterberegister zu Bernhard Switon, 23.11.1943, schwarz-weiß Kopie (29.10.2020)

    Eintrag aus dem standesamtlichen Sterberegister zu Bernhard Switon, 23.11.1943, schwarz-weiß Kopie (29.10.2020), Original im Besitz des Stadtarchivs Recklinghausen
  • Karteikarte aus der Einwohnermelderegistratur zu Bernhard Switon, 23.11.1943, schwarz-weiß Kopie (29.10.2020), Original im Besitz des Stadtarchivs Recklinghausen

    Karteikarte aus der Einwohnermelderegistratur zu Bernhard Switon, 23.11.1943, schwarz-weiß Kopie (29.10.2020), Original im Besitz des Stadtarchivs Recklinghausen
  • Kartei der Grabmeldung zu Berhard Switon, Kopie 2000

    Kartei der Grabmeldung zu Berhard Switon, Kopie 2000, Original in: Deutsches Bundesarchiv; Berlin, Deutsch-land; Kartei der Verlust- und Grabmeldungen gefallener deutscher Soldaten 1939-1945 (-1948), ...
  • Briefauskunft der Deutschen Volksbunds Kriegsgräberfürsorge e. V. zu Bernhard Switon, 16.05.2019

    Briefauskunft der Deutschen Volksbunds Kriegsgräberfürsorge e. V. zu Bernhard Switon, 16.05.2019
  • Geburtsurkunde von Jozefa Olek, 10.03.1888; schwarz-weiß Kopie

    Geburtsurkunde von Jozefa Olek, 10.03.1888; schwarz-weiß Kopie, erhalten von Dorota Ciernia am 19.11.2020; Original im Besitz des Nationalarchiv Kalisz
  • Geburtsurkunde von Anton Switon, 23.05.1891; schwarz-weiß Kopie

    Geburtsurkunde von Anton Switon, 23.05.1891; schwarz-weiß Kopie, erhalten von Dorota Ciernia am 17.11.2020; Original im Besitz des Nationalarchiv Kalisz
  • Eheurkunde von Anton Switon und Jozefa Olek, 04.12.1915, mit Anmerkungen zu den Todesdaten der Eheleute

    Eheurkunde von Anton Switon und Jozefa Olek, 04.12.1915, mit Anmerkungen zu den Todesdaten der Eheleute; 2 Seiten, schwarz-weiß Kopie (12.11.2020), Original im Besitz des Stadtarchivs Recklinghausen
  • Sterbebescheinigung von Jozefa Switon, 09.06.1969, schwarz-weiß Kopie (12.11.2020)

    Sterbebescheinigung von Jozefa Switon, 09.06.1969, schwarz-weiß Kopie (12.11.2020), Original im Besitz des Stadtarchivs Recklinghausen
  • Meldekartei von Anton Switon, 2 Seiten, schwarz-weiß Kopie (12.11.2020)

    Meldekartei von Anton Switon, 2 Seiten, schwarz-weiß Kopie (12.11.2020), Original im Besitz des Stadtarchivs Recklinghausen
  • Meldekartei von Anton Switon Jr. (Sohn der Jozefa), schwarz-weiß Kopie (12.11.2020)

    Meldekartei von Anton Switon Jr. (Sohn der Jozefa), schwarz-weiß Kopie (12.11.2020), Original im Besitz des Stadtarchivs Recklinghausen
  • Eheurkunde von Johann Switon und Anastasia Plotek, 04.06.1884, schwarz-weiß Kopie

    Eheurkunde von Johann Switon und Anastasia Plotek, 04.06.1884, schwarz-weiß Kopie, erhalten von Dorota Ciernia am 17.11.2020; Original im Besitz des Nationalarchiv Kalisz
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    Stammbaum der Familie Olek, erstellt mit MyHeritage.com, Kopie, erhalten von Dorota Ciernia am 17.11.2020; Original im Besitz der Familie Ciernia/Olek
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    Antonja (rechts unten), Tochter der Jozefa Switon, Kopie 2020, Original im Besitz von Dorota Ciernia
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    Stammbaum von Bernhard Switon nach Angaben von Dorota Ciernia und Archivunterlagen, erstellt von Kathrin Lind, 24.11.2020
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