Der Tod eines polnischen Wehrmachtssoldaten in Russland: Bernhard Switon (1923-1942)
Die Familie Switon
Bei der Recherche konnte ein Teil der Familiengeschichte anhand der Erzählungen eines der Onkel von Bernhard Switon – Franciszek –, die seine Enkelin noch wusste, aufgebaut werden. Da mündliche Überlieferungen jedoch im Gedächtnis des Erzählenden oder Zuhörenden aufgrund verschiedenster Faktoren oft verschwommen erscheinen können und die Geschichten bereits vor einigen Jahrzehnten erzählt wurden, bleiben einige Unklarheiten bestehen, wie die konkrete Anzahl der Kinder, manche Namen der Ehepartnerinnen und -partner sowie die genauen Daten. Folgendes konnte so aber ergänzend zu den vorliegenden Dokumenten des städtischen Archivs Recklinghausen zusammengetragen werden:
Im Jahre 1910 kam Jozefa Olek, mit ihren vier Brüdern – Antoni, Franciszek, Idzi und Stanisław – ins Ruhrgebiet. Zwei Jahre später heiratete sie Andrzej Sosnowski, der genau wie Jozefa selbst aus dem kleinen, zwischen Breslau und Łódź gelegenen Ort Bobrowniki nad Prosną kam. Es ist unklar, wann und weswegen es zu einer Trennung kam, jedoch verließ Andrzej seine Ehefrau und ging zurück nach Polen. Aus den Meldekarteien und standesamtlichen Beständen des Stadtarchives Recklinghausen geht hervor, dass Jozefa am 04.12.1915 erneut heiratete und mit ihrer neugegründeten Familie in Recklinghausen verblieb. Der zweite Ehemann war Anton Switon – ein Kokerei-Arbeiter in Recklinghausen, der ebenfalls aus einem kleinen Dorf, nur wenige Kilometer von Jozefas Geburtsort entfernt, stammte. Da in der Eheurkunde die Zeugen der Eheschließung ebenfalls polnische Namen haben, lässt sich vermuten, dass die Eheleute eher in eigenen Kulturkreisen verkehrten. Bei der Eheschließung wurde eine Tochter Jozefas namens Antonja (geb. 29.12.1914) vermerkt, die nach den mündlichen Überlieferungen des Onkels eine Tochter aus Jozefas erster Ehe darstellt. Bis auf ein später entstandenes Foto, welches Antonja mit ihrem Ehemann abbildet, fehlen hier aber weiterführenden Hinweise auf ihren Verbleib.
Laut Meldedokumenten kam am 05.03.1916 Jozefas und Antons erster Sohn namens Anton und acht Jahre später, am 17.07.1924, Bernhard Switon zur Welt. Nach den mündlichen Überlieferungen der Erinnerungen des Onkels soll es einen weiteren Sohn namens Wojciech gegeben haben, zu dem jedoch jede Spur fehlt, außer einem Foto mit der Aufschrift „Adalbert [pol. Wojciech] in unserem Garten“ auf der Rückseite. Es wäre jedoch denkbar, dass die besagte Person in einem anderen Verwandtschaftsverhältnis zu der Familie stand, das konnte bei der Recherche jedoch weder in Recklinghausen noch in Schwelm [nach einem Vermerk zum Fotostudio] belegt werden. Nur wenige Monate nach der Geburt Bernhards starb der Vater am 10.02.1924 in Liege (Belgien), was an einem Vermerk in der Eheurkunde abzulesen ist. Es ist zwar nicht ersichtlich, wieso der Familienvater ohne seine Frau und Kinder in Belgien war, aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation wäre es jedoch möglich, dass er nach einer vermeintlichen Entlassung anderweitig auch im Ausland Arbeit gesucht hat, um die Familie finanzieren zu können. Auch Jozefas Brüder Franciszek, Idzi und Stanisław wanderten im gleichen Jahre 1924 nach Frankreich aus, der jüngste Bruder Antoni verstarb bereits 1917. Unklar ist, wie die Finanzlage der Familie Switon nach dem Tod des Vaters tatsächlich aussah. Es herrschte jedoch innerhalb der „[...] Arbeitnehmerschicht [der rheinisch-westfälischen Industrieregion] wie in Teilen der unteren Mittelschicht [eine] permanente wirtschaftliche Not, vor allem die Bedrohung durch Arbeitsplatzverlust der Eltern. Dieser ständige soziale Druck, der vor allem die erste Hälfte der 1920er Jahre und die Weltwirtschaftskrise prägte, lockerte sich auch während der Aufschwungphase von 1925 bis 1929 für die Arbeiterfamilien nur wenig.“[13]
Mutter Jozefa blieb als Witwe bis ans Ende ihres Lebens in Recklinghausen. Auch auf der Sterbebescheinigung sind überwiegend polnische Namen der Zeugen zu finden, was bedeutet, dass ihre soziale Umgebung vermutlich weiterhin aus überwiegend polnischen Bekannten und Nachbarn bestand.
Die vaterlose Familie lebte laut Einwohnermeldekarte in der Dortmunder Straße in Recklinghausen, von wo aus sowohl der älteste Sohn Anton 1938 im Alter von 22 Jahren wie auch Bernhard 1942 im Alter von 19 Jahren zum Militärdienst in der Wehrmacht eingezogen wurden. Anders als Bernhard ging Anton dabei durch den typischen militärisch-vorbereitenden Verlauf zu jener Zeit – absolvierte nach der Musterung einen mehrmonatigen RAD[14] und wurde zum Wehrdienst einberufen, bevor er in den Krieg kam. Anton überlebte den Zweiten Weltkrieg, starb jedoch kurz danach.
[13] Rass, Christoph, S. 117 f.
[14] Nationalsozialistischer Reichsarbeitsdienst (RAD) – „Arbeitspflicht“ für junge Männer (und ab 1936 auch Frauen) zwischen 18 und 25 Jahren, welche gemeinnützige Arbeit bei niedriger Entlohnung verrichteten. Der Dienst wurde eingeführt gegen die wirtschaftliche Notlage im Land und als Erziehungsinstanz für junge Leute.