Die „Schreiberin“ Zofia Posmysz. Zeitzeugin der Geschichte zwischen Wahrheit und Post-Wahrheit

Zofia Posmysz mit ihrem Mann, um 1960
Zofia Posmysz mit ihrem Mann während einer Seefahrt, die möglicherweise eine Inspiration für ihren Roman „Die Passagierin“ war, um 1960

Im Juni 1943 nahm ich meine Arbeit als Schreiberin auf. Direkt nach dem Appell ging ich in mein Büro. Das war ungefähr um sieben beziehungsweise halb acht. Um acht Uhr kam die Küchenaufseherin, in der Regel die Franz; sie löste die Aufseherin, die nachts bei den Köchinnen war, ab. Direkt nach meiner Ankunft fing ich mit der Arbeit an, also mit den Berechnungen und den Überprüfungen. Der Personalstand der Blöcke und die vorgegebenen Portionen, also die festgelegten Essensrationen für jede Gefangene, lagen mir vor. Nun musste ich das auf die entsprechende Menge der Produkte umlegen, je nach dem, was für diesen Tag eingeplant war. Jeden Tag gab es Brot, aber es gab auch Beigaben zum Brot. Das alles hatte ich auszurechnen und umzurechnen.

Ein wenig Zeit für mich hatte ich, wenn die Aufseherin Franz zu Mittag fuhr, dann konnte ich schreiben. Als Schreiberin hatte ich Zugang zu den Schreibutensilien. Ich fing mit Notizen über den Alltag an, ging aber bald zu Gedichten über. Heute messe ich ihnen keinen hohen poetischen Wert mehr bei. Die Gedichtskizzen schrieb ich auf lose Zettel. Eines Tages erhielt ich eine Kladde, in die ich die Gedichte dann übertragen habe. Endlich konnte ich sie alle zusammenführen. Die meisten Gedichte waren Gebete oder Erinnerungen an die Freiheit. Einige von ihnen nehmen Bezug auf den Tod von Tadeusz. Unter diesen Gedichten befindet sich auch der für mich wichtige „List do Matki“ [Brief an die Mutter]. Das Schreiben der Gedichte entsprang dem Willen, sich aus der unmenschlichen Wirklichkeit, von der wir damals umgeben waren, loszureißen. Und diese Realität wurde zunehmend schrecklicher. Zwar hatten wir, die wir in der Küche und in der Brotkammer gearbeitet haben, es viel leichter und besser als die anderen Häftlinge, doch dabei hatte alles, was sich an der Rampe und in den Gaskammern abspielte, entsetzlichen Einfluss auf unser Leben. Wir wussten von der Hekatombe, der Apokalypse, die dort herrschte. Tag und Nacht hörte man die ankommenden Züge, ein Transport nach dem anderen. Ob wir es wollten oder nicht, wurden wir Zeugen des Ganzen und irgendwie nahmen wir auch daran teil. Wahrscheinlich war mein Schreiben ein Versuch, mich aus dieser schrecklichen Wirklichkeit loszureißen. Allerdings dienten nicht alle Gedichte der Flucht in eine andere Welt. Es gab auch welche, die ich politisch nennen könnte. Eines davon klagte England für seine Mitschuld am Holocaust an, da es nichts dagegen tat. In Auschwitz sterben Menschen, die Krematorien brennen, die Schornsteine rauchen Tag und Nacht, wir ersticken im Lager am Gestank der brennenden Körper und England tut nichts. Ich dachte, dafür sollte es aus Scham selbst ersticken.

Meine letzte Begegnung mit der Aufseherin Franz fand unmittelbar vor ihrer Abfahrt aus Auschwitz statt. Zusammen mit der Führungsriege des Lagers, all den dekorierten SS-Männern und den Häftlingen, verließ sie das Lager noch vor dessen Evakuierung. Ich hatte den Eindruck, sie wollte, dass ich mit ihnen komme. Gesagt hat sie es nicht direkt, aber ich dachte mir damals, dass es besser wäre, wenn ich mich von der Aktion fernhalten würde, also ging ich zu Frau Doktor Stefania Perzanowska.[2] Sie war Ärztin im Revier, das heißt im Lagerhospital. Ich bat sie, mich für ein paar Tage ins Krankenhaus zu stecken, da ich die Abfahrt der SS-Gruppe abwarten wolle. Frau Doktor Perzanowska verstand mich sehr gut und ließ mich am nächsten Tag kommen: „Ich gebe dir etwas, wonach du hohes Fieber bekommst.“

Ich bekam eine simple Milchspritze in die Pobacke. Es war mir nicht klar, dass sie so wirkungsvoll sein konnte, auf jeden Fall bekam ich sehr schnell hohes Fieber. Die Aufseherin Franz hatte meine plötzliche Erkrankung, von der sie von den Gefangenen erfuhr, so neugierig gemacht, dass sie ins Hospital kam, um zu prüfen, was geschehen war. Doktor Perzanowska trat mit ihr an mein Bett und begann ihr zu erklären, dass ein so hohes Fieber eine ernsthafte ansteckende Erkrankung vermuten lasse. Sie erklärte ihr noch irgendetwas, worauf die Franz wütend „Quatsch!“ sagte, sich umdrehte und ging. Ich habe sie nie mehr gesehen.

Nach dem Krieg verfolgte ich die Prozesse gegen die SS-Männer. Ich beobachtete und wartete, wann die Aufseherin Franz im Gericht erscheinen würde. Ich wusste, dass ich dann sicher als Zeugin geladen würde. Die ganze Zeit überlegte ich, was ich über sie sagen könnte, wie ich es sagen sollte, welche Situationen ich erwähnen sollte… Ich erinnerte mich an verschiedene Fakten, an ihr Verhalten, ihre Reaktionen… Eine psychologische Charakterisierung von ihr hätte ich wohl nicht zustande gebracht. Aber das waren nur meine Vermutungen und Überlegungen. Doch ich dachte die ganze Zeit daran. Letztlich kam ich zum Schluss, dass ich nicht viel über sie sagen könnte, eigentlich nur das, dass sie mir gegenüber in Ordnung gewesen war. Aus diesen Überlegungen entstand die erste Idee, eine Erzählung über eine zufällige Begegnung mit der SS-Frau zu schreiben. Schließlich entstand [der Roman] „Die Passagierin“, der durch ein seltsames Ereignis in Paris inspiriert wurde.[3]

 

[2] Stefania Perzanowska (1896–1974) kam am 15. April 1944 mit einem Transport aus dem KZ Lublin (Majdanek), wo sie Krankenhausärztin war, nach Auschwitz. Sie erhielt die Nummer 77368.

[3] Zofia Posmysz traf auf den Champs-Élysées auf eine Gruppe deutscher Touristen. Die Stimme einer der Frauen klang fast so wie die Stimme der Aufseherin Franz.

Mediathek
  • Interview mit Zofia Posmysz (polnisch mit dt. Übersetzung)

    „Aufseherin Franz“. Ausschnitte zusammengestellt von Anna Maria Potocka (MOCAK, 2016)
  • Zofia Posmysz als Kind

    Krakau, Ende der 1920er Jahre
  • Zofia Posmysz als Jugendliche

    Um 1940
  • Zofia Posmysz als Jugendliche

    Im Garten, um 1940
  • Erkennungsbild

    Aufgenommen bei der Registrierung im KZ Auschwitz
  • Als junge Frau

    In den 1950er Jahren
  • In den 1960er Jahren

  • Zofia Posmysz mit ihrem Mann Jan Piasecki

    Während einer Seefahrt, die möglicherweise eine Inspiration für ihren Roman „Die Passagierin“ war
  • Zofia Posmysz bei der Präsentation der deutschen Ausgabe von „Die Passagierin“

    Auf der Buchmesse in Rostock
  • Zofia Posmysz mit Papst Benedikt XVI.

    Krakau, 2006
  • Zofia Posmysz mit Waldemar Dąbrowski, Direktor des Teatr Wielki

    Vor der Premiere der Oper „Die Passagierin“ in Warschau, 2010
  • Zofia Posmysz – „Song für Masza“

    Zofia Posmysz singt für Maria Anna Potocka, 2016