Die „Schreiberin“ Zofia Posmysz. Zeitzeugin der Geschichte zwischen Wahrheit und Post-Wahrheit
Zofia Posmysz hat sich ihre eigene literarische Methode und ihr eigenes schriftstellerisches Ethos geschaffen. Beides passt sich den Ereignissen an, deren Dramatik und Grauen sich Worten und der Vorstellungskraft entziehen. So bemüht sich die Schriftstellerin in der Schilderung von Orten und Fakten aus Auschwitz nicht, noch ausstehende realistische Bilder der Lagerwirklichkeit zu zeichnen. Ihr Schreibstil lebt von der Farbe der Psychologie und weder vom Duktus der Beschreibung noch vom expressiven Ausdruck. Sie ist in ihren Aussagen vor allem auf Menschen fokussiert, und zwar sowohl auf die SS-Henker als auch auf ihre Mithäftlinge. Ihr Ehrgeiz zielt darauf ab, das Gute und das Böse im Menschen zu verstehen. Diese Einstellung beruht auf der Überzeugung, dass das Gute im Menschen trotz des Alptraums Auschwitz überwiegt. Deshalb sucht sie es sogar bei den Mördern. Sie selbst hat als Person und Schriftstellerin die höchste Stufe der Menschlichkeit erreicht, indem sie eine Synthese aus Christentum und Humanismus, aus Verstehen und Mitgefühl schuf. Der wichtigste Aspekt ihrer literarischen Werke besteht in der Analyse der menschlichen Natur im Kontext des Zweiten Weltkriegs sowie im Zeichen der tragischen Experimente, denen die menschliche Unvollkommenheit unterzogen wurde. Wahrheit, Erinnerung und Versuche zu verstehen koexistieren in ihren Büchern perfekt mit „Unwahrheiten“ der Literatur. Dies alles aber gelingt nur dank der ihr eigenen literarischen Moral.
Zofia Posmysz ist allerdings nicht nur Schriftstellerin. Sie füllt auch die Rolle der Zeitzeugin aus. Diese Beweisführung durch das eigene Leben empfand sie als enorme Belastung und als Verantwortung. Zugleich schien ihr die Möglichkeit ein großes Geschenk. Zeitzeugen jener Geschichte, die einer humanitären Tragödie glich und die das Böse in uns erwies, werden in unserer Zeit sehr gebraucht. Sie sind besonders für junge Menschen wichtig. Die Sprache der Zofia Posmysz als Chronistin der Geschichte ist eine andere Sprache als die der Autorin. Sie berichtet über die damalige Zeit in einer direkten, lakonischen und leidenschaftslosen Art und Weise und wirkt dadurch unprätentiös und wahrhaftig. Ihre Erzählungen zeigen eine Authentizität, die sich augenblicklich der Phantasie bemächtigt und erzwingt, sich in das von ihr Erlebte einzufühlen. Die Wirksamkeit ihrer Erzählsprache und ihres Erzählstils spiegeln sich im Mienenspiel ihrer Zuhörer wider.
Wir leben in Zeiten der letzten Zeugen des „damaligen Unheils“ und es wird uns immer mehr bewusst, wie groß die Rolle und die Bedeutung dieser direkten Zeitzeugnisse ist. Einen Zeitzeugen kann kein dokumentierendes Museum ersetzen, und schon gar nicht ein fiktiver Roman oder ein Film. Daher ist es so wichtig, die Zeugen mit allen möglichen Mitteln zu „retten“. Immer verzweifelter, weil oft im letzten Moment, versuchen wir, Mittel und Wege zu finden, um die Zeitzeugen fotografisch, literarisch und filmisch festzuhalten. Das Buch mit den Lagergeschichten von Zofia Posmysz und die frühere Publikation mit den Berichten von Wilhelm Brasse, die beide reich bebildert sind, stellen solche Versuche dar und wurden durch Filmmaterial ergänzt. In diesen Berichten ist es eminent wichtig, auf die Psychologie und die Kraft des Ausdrucks sowie auf das emotionale Engagement zu sprechen zu kommen. Zur Überraschung vieler aber rufen die Zeitzeugen ihre Erinnerungen an das Lager ausgesprochen ruhig auf, ohne das Grauen und die Tragik durch überschießende Gefühle oder Exaltiertheit zu verstärken.
Zofia Posmysz ist ihrem Schicksal gegenüber zutiefst dankbar, weil es sie Auschwitz überleben ließ. Zugleich ist sie sich ihrer Zeugenrolle bewusst und münzt ihre Dankbarkeit in ihre Verpflichtung um. Als Zeugin schont sie sich nicht im Geringsten. Sie ist fast immer zu einem Treffen, zu einem Interview oder zu einer Aufnahme bereit, selbst dann, wenn die Verpflichtungen bisweilen über die Kräfte auch eines jungen Menschen gehen. So gab es Tage, an denen sie morgens in Birkenau an einem Beitrag für das deutsche Fernsehen beteiligt war, dann ein Interview gab und von einem deutschen Fotografen abgelichtet wurde, abends mit tausend Studenten der Krakauer Jagiellonen-Universität zusammentraf und anschließend immer noch die Kraft hatte, um die Fragen der in ihren Bann gezogenen Zuhörer zu beantworten! Zofia Posmysz verhält sich wie ein guter Beamter im Dienst. Sie fällt vor Müdigkeit um, aber sie ist glücklich, weil sie einer der wichtigsten Sachen überhaupt frönt: sie macht Menschen bewusst, wie hinterlistig und gemein das Böse, das einer Ideologie entspringt, einen anderen Menschen beherrschen und ihn zum Mörder machen kann. Sie erklärt, dass eine kritiklose Unterwerfung unter eine Ideologie Menschen verändert, wie „einen Kaugummi“, den man beliebig formen kann. Sie besitzt die Gabe, darüber zu sprechen und ist sehr überzeugend, unter anderem deshalb, weil sie an die Überlegenheit des Guten glaubt und weil sie eine passende Sprache für ihre Erzählungen entwickelt hat. Ihre Geschichten und ihre Erläuterungen hinterlassen einen unvergesslichen Eindruck. Der größte Lohn für ihre übermenschliche Anstrengung – man darf nicht vergessen, dass Zofia Posmysz schon vor einiger Zeit 90 wurde – ist die Genugtuung, die aus der Wirkung ihrer Worte entsteht. Die Menschen, die zu ihren Veranstaltungen kommen, sind gerührt und entzückt zugleich. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, ihre menschliche Tiefe sei beim Heimgehen noch tiefer geworden. Einen großen Anteil an diesem Verdienst hat die Art und Weise, wie Zofia Posmysz ihre Erinnerungen strukturiert.
Tatsächlich beherrscht Zofia Posmysz drei „Sprachen“. An erster Stelle steht die literarische Sprache ihrer Bücher. An zweiter Stelle kommt die temperierte, „pragmatische“ Sprache ihrer Lagergeschichten, die sie bei ihren Begegnungen nutzt, gefolgt von der heiteren, mitunter gutmütig-ironischen, witzigen und treffenden Sprache in ihren Gesprächen und Frotzeleien mit Freunden.
Die bald vorliegende Veröffentlichung, aus der wir hier nur einige ausgesuchte Zusammenschnitte präsentieren, ist keine Biographie der Zofia Posmysz. Sie konzentriert sich vor allem auf ihre Zeit in Auschwitz, obwohl sie auch skizzenhafte Beschreibungen der Jahre vor und nach dem Krieg enthält. Die Publikation wurde aus Aufzeichnungen von Tonaufnahmen, aus niedergeschriebenen Erzählungen und aus erinnerten Geschichten zusammengestellt. Ihre Sprache sucht nach der goldenen Mitte zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort der Zofia Posmysz, da es mein Anliegen war, den Adressaten mehr in die Rolle eines Zuhörers als eines Lesers zu versetzen.
Die wiedergegebene Geschichte enthält nicht alle Lagererlebnisse, über die wir bei verschiedenen Gelegenheiten gesprochen haben, sondern nur diejenigen, die sich auf die Weltanschauung, die Einstellung zum Leben und auf das gesamte Schaffen von Zofia Posmysz ausgewirkt haben. Insofern erfährt der Text auch eine „schubladenähnliche“ Komposition, in der die Schilderungen bestimmter Situationen und Personen ergänzt und dadurch zu vollständigen Geschichten wurden.
Zofia Posmysz hat der Ich-Form ihres niedergeschriebenen Berichts zugestimmt, erklärte jedoch, dass dieser Text mein Werk sei und deshalb auch unter meinem Namen publiziert werden sollte.
Die Aufbereitung des Materials, der Aufzeichnungen und der Filmbeiträge dauerte mehrere Jahre. In dieser Zeit hat sich zwischen Zosia und mir eine Freundschaft entwickelt. Sie ist die wunderbarste und verblüffendste Person, die ich in meinen Leben kennenlernen durfte. Wenn ich ihr das sage, schlägt sie die Hände vors Gesicht und amüsiert sich über den kuriosen Gedanken.
Zosia Posmysz vereint königliche Vornehmheit mit der Unschuld und der Offenheit eines Kindes. Sie mag Menschen, den Gesang und die Poesie und kann viele Gedichte und Lieder auswendig. Vor einigen Wochen haben wir in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/Auschwitz einen ganzen Poesieabend mit Zosia aufgenommen, bei dem sie Słowackis Grób Agamemnona (Das Grab des Agamemnons) und Ojciec zadżumionych (Der Vater der Pestkranken) aus dem Gedächtnis rezitierte. Sie erinnerte uns auch an viele kürzere Gedichte, vor allem ihres Lieblingsdichters Leśmian. Außerdem sang sie Lieder und forderte uns auf, einzustimmen.
Zofia Posmysz ist ein tiefgläubiger Mensch, was ihr sicher geholfen hat, Auschwitz zu überleben. Ihr Glaube ist zutiefst christlich geprägt und erinnert so gar nicht an das seltsame Religionsverständnis der heutigen polnischen Enthusiasten, die mit jedem Wort und jeder ihrer Tat über Kreuz mit dem Christentum sind. Zosia trägt etwas Charismatisches in sich und das spiegelt sich spürbar im Verhalten der Besucher der Treffen mit ihr wider, die danach fast wie verändert wirken.
Zofia Posmysz hat das mörderischste Experiment an der Menschheit überlebt, das Menschen sich jemals einfallen ließen. Sie war so stark, dass sie ihre Güte, ihre Lebensfreude und ihre Zuversicht in den Sinn nicht verloren hat.
Solche Persönlichkeiten, solche Biographien und solche Menschen, die diese Qualitäten besitzen, sind eine große historische Herausforderung, die viele Fragen stellt: Wie ist der Wert dieser Menschen zu bewahren? Mit welchen Mitteln? Wie soll man sie beschreiben? Wie filmen? Wie kann man sie über den Tod hinaus lebendig erhalten, trotz der unabwendbaren Vergänglichkeit? Wie kann man es vermeiden, sie in leblose Denkmäler zu verwandeln? Das Buch, das sich auf die Erinnerungen von Zofia Posmysz stützt und der Film, der zeigt mit welcher Ruhe und Würde sie über das Leben und Sterben in Auschwitz spricht, stellen Versuche in dieser Hinsicht dar.
Die Sprache der Worte und die Sprache der Bilder sind in Anbetracht von Auschwitz und des Holocaust außerordentlich hilflos. Sie leisten Widerstand gegen die Inhalte. Alle Versuche, diesen Sprachen einen Ausdruck, eine Regung, zu entlocken, alle Versuche, sie dazu zu bewegen, die damalige Wahrheit, die völlig unglaublich ist, offenzulegen, enttäuschen durch das Übermaß einer lauten Leere. Deshalb lohnt es sich bisweilen, die Sprache einzuschränken und ihre Rolle auf die neutrale, gedämpfte Vermittlung von Fakten zu reduzieren, die weder versucht, sie mit Gewalt zu konkretisieren noch sie moralisch zu bewerten. Eine solche Form der Sprache legt Zofia Posmysz selbst in ihren Erzählungen über Auschwitz zugrunde. Und eine solche Sprache habe auch ich gewählt, um ihren Bericht weiterzugeben.
Maria Anna (Masza) Potocka, September 2017
Ergänzung der Red.:
Zofia Posmysz starb kurz vor ihrem 99. Geburtstag am 8. August 2022 in Oświęcim.
Im Verlag des MOCAK (Museum für Gegenwartskunst in Krakau) erschien:
Maria Anna Potocka: Zofia Posmysz. Die Schreiberin [Szrajberka]. 7566. Auschwitz 1942–1945, Kraków/Göttingen 2019 + DVD [poln.: Kraków 2018 & 2. verb. Aufl. 2021]
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Auszüge aus dem Bericht der „Schreiberin“ Zofia Posmysz, zusammengestellt von Maria Anna (Masza) Potocka:
Flüstern kann am lautesten sein
Nach sechswöchigen Ermittlungen, während derer ich vier Mal verhört wurde, wurde ich von Krakau nach Auschwitz verlegt und obwohl ich schon viel von Auschwitz gehört hatte, war ich ob dieser Information unbesorgt. Ich freute mich sogar, denn das hieß für mich, dass ich nie wieder zum Sitz der Gestapo geladen werden würde. Diese Verhöre waren damals unser schlimmster Alptraum.
Als ich mich dem Lagertor näherte und die Aufschrift „Arbeit macht frei” sah, dachte ich naiv, dass es sicher nicht so schlimm sein wird. Ich dachte, wenn ich arbeiten werde, werden sie mich freilassen, denn schließlich hat es gegen mich keinen ernsthaften Prozess gegeben. Ich dachte, dass ich mir die Freiheit erarbeiten werde.
Anfangs, als ich dem Außenkommando zugeteilt war, haben sie uns um halb vier nachts geweckt. Sicher deshalb so früh, weil der SS-Trupp die Ordnung seinerzeit nicht richtig in den Griff bekam. Zuerst musste man die Kessel mit Kaffee und Tee aus der Küche in die Blocks bringen und dort in die Becher und Schüsseln verteilen. Das nannte man Frühstück. Manche Gefangene waren diszipliniert genug, um am Abend zuvor noch eine Scheibe Brot zurückzulegen, andere wiederum hatten morgens nur diese Flüssigkeit und gingen hungrig zur Arbeit.
Die Arbeit der ersten Tageshälfte dauerte bis halb eins. Dann kamen LKWs mit Suppenkesseln. Nach dem Mittag gab es eine halbe Stunde Erholung, in der man sich hinlegen durfte. Einigen gelang es sogar, einzunicken. Danach folgte die nächste Arbeitsphase, die bis sechs Uhr dauerte. Nach der Rückkehr ins Lager wurden wir sofort zum Abendappell befohlen. Dabei hat ein SS-Mann oder eine SS-Frau zusammen mit einem, der eingetragen war, abermals den Blockstand geprüft. Anschließend wurde der Appell abgepfiffen. Dann ging es in die Küche, um den abendlichen Kaffee oder Tee und die Lebensmittelration abzuholen, vor allem Brot. Jeder Gefangenen stand ein Drittel eines Ein-Kilo-Leibes zu. Tatsächlich aber haben wir eine solche Portion jedoch nie bekommen, da die Blockführerin einen Teil für sich behielt. Zum Brot gab es noch ein kleines Stück Margarine oder Käse, den man Quark nannte. Das war eine deutsche beziehungsweise eine österreichische Spezialität, eine Art Camembert, und dieser Käse schmeckte mir sogar.
Unsere erste Arbeit nach der Ankunft in Auschwitz bestand in der Zerkleinerung von Erdschollen auf einem Feld, das einige Kilometer vom Lager entfernt war. Eine grausame Schinderei war das. Hinzu kamen Hunger, schreckliche Hitze und der Mangel an Flüssigkeiten. Nach der Arbeit stellten wir uns abends mit Schüsseln oder Halbliterbechern in eine Schlange vor dem Brunnen. Ein Problem stellte sich ein: Was kann man mit so wenig Wasser machen? Die meisten tranken es aus. Andere wuschen sich das Gesicht. Ich habe aber auch Mädels gesehen, die hinter die Latrine gingen und sich mit dem Wasser untenrum wuschen. Das kam mir absurd und überspannt vor.
Nach der Rückkehr aus der Strafkompanie wurde in Birkenau die Nummer eintätowiert. Die Tätowierung nahm eine Gefangene vor, die auf einem kleinen Stuhl vor einem kleinen Tisch saß. Sie hatte komisches Werkzeug dabei, das am ehesten an einen Füller erinnerte. Mit diesem Gerät stach sie uns und tätowierte die Nummern ein. Die Gefangene, die das tat, eine Jüdin – jedenfalls schien sie mir eine zu sein – sagte mir, ich solle den Ärmel hochkrempeln, dann würde sie mir die Nummer höher eintätowieren.
Eines Tages, als wir aus Richtung der Lagerstraße kamen, sah ich eine Gefangenengestalt am Stacheldraht hängen. Sie hat die Lagerwirklichkeit nicht ausgehalten und Selbstmord begangen, indem sie den unter Strom stehenden Stacheldraht anfasste. Mit den Händen am Draht verharrte sie in einer dramatischen, hängenden Haltung. Es war ein grausamer Anblick. Da sich solche Situationen häuften, lernte ich, nicht hinzuschauen. Oft hörte man nachts einen entsetzlichen Schrei – die Selbstmorde kamen vor allem nachts vor –, der einen aus dem Schlaf riss. Ich wusste nicht, dass ein Mensch, der vom Stromschlag getroffen wird, einen so fürchterlichen Schrei von sich gibt. Nachdem man wach wurde, wusste man, dass wieder jemand im Stacheldraht hing. In einer solchen Situation habe ich immer meinen Kopf weggedreht. Ich wollte lieber nichts sehen. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, finde ich in diesen Reaktionen mehr Entsetzen als Mitleid und vielleicht sogar einen Groll gegen die Person, die unsere Nachtruhe störte. Das erste, was ich empfand, war ein mit Hilflosigkeit unterfüttertes Entsetzen. Ich war über meine eigene Hilfslosigkeit entsetzt. Der Mensch im Lager fürchtet Mitleid, da Mitleid nach einer Reaktion verlangt. Ich dagegen habe mehrere Male gesehen, wie Menschen geschlagen wurden, geschlagen bis zur Bewusstlosigkeit und ich konnte nichts tun. Wenn man hilflos ist, fordert der Selbsterhaltungstrieb dazu auf, wegzuschauen. Könnte ich diesen Menschen zu Hilfe eilen und den Kampf mit den Mörderinnen aufnehmen? Wegschauen und Weghören waren eine Art Selbstverteidigung. Was habe ich damals empfunden? Wut? Vielleicht auch, eher aber Hilfslosigkeit. Eigentlich Wut der Hilfslosigkeit. So möchte ich es bezeichnen.
In dieser Zeit, es war Ende Januar 1942, kam ein SS-Mann in den Block, der neue Mitarbeiterinnen für die Küche suchte. Ich wagte, an ihn heranzutreten, meldete mich gehorsam und teilte mit, dass ich soeben gesund geworden sei, dass ich früher in der Küche gearbeitet hätte und daher gern dorthin zurückkehren würde. Er stimmte zu. Noch am selben Tag wurde ich wieder im Küchenblock aufgenommen.
Mitte 1943 wurden in Birkenau alle SS-Männer durch Frauen im Dienste der SS ersetzt. Sie kamen aus Ravensbrück nach Auschwitz, um hier Ordnung zu schaffen. Unter ihnen war die Aufseherin Franz. Sie erfuhr, dass ich Deutsch konnte. Sie musterte mich genau und sagte, dass ich [ab jetzt] die Eingangs- und Ausgangsbücher führen würde. Ich sollte am Ende der Küche arbeiten, dort wo ein kleiner, mit Buchführungsbüchern vollbelegter Tisch mit Schubladen aufgestellt wurde. Am nächsten Tag trat Aufseherin Franz zusammen mit einem polnischen Häftling, der das Abzeichen „P“ für „politisch“ trug, in die Küche. Sie brachte ihn zum Tisch, an dem ich arbeitete und erklärte, dass dieser Häftling mir die Führung der Eingangs- und Ausgangsbücher beibringen werde. Er sagte, sein Vorname sei Tadeusz.[1]
Mein Treffen mit Tadeusz und ganz sicher die Tatsache, dass ich Auschwitz überlebt habe, verdanke ich in gewisser Weise der Aufseherin Franz. Vieles im Lager hing davon ab, auf welches Individuum man traf. Deswegen schaute ich mir sie gründlich an, als sie das erste Mal in die Küche kam. Sie war eine eher unscheinbare Person, nicht allzu groß, dunkelhaarig, von durchschnittlichem Aussehen und ziemlich füllig. Sie war einige Jahre älter als ich. Gleich zu Beginn hielt sie eine Rede. Sie verkündete, dass der SS-Frauen-Trupp hier angekommen sei, um diesen Sumpf in ein ordentliches Lager zu verwandeln, nach dem Vorbild von Ravensbrück. In Auschwitz sollte ein Musterlager entstehen. Um das zu erreichen, sei die Mitwirkung aller Häftlinge unabdingbar. Sie fügte noch hinzu, und das habe ich mir sehr gut gemerkt, dass sie niemanden schlagen werde, da sie sich nicht die Hände schmutzig machen wolle. Sollten wir gewissenhaft arbeiten, hätten wir ein ruhiges Leben, das wurde von ihr ebenfalls gesagt. Sie warnte uns vor allen Verstößen gegen das Reglement, da sie hart bestraft würden. Leider waren Verstöße gegen das Reglement nicht zu vermeiden, da im Lager fast alles eine Straftat war.
[1] Tadeusz Paolone (1909–1943), Häftling im KZ Auschwitz mit der Nummer 329, wurde wegen seiner konspirativen Tätigkeit im Lager erschossen. Zofia Posmysz beschrieb ihr Treffen mit ihm in ihrer Erzählung Chrystus oświęcimski [Christus von Auschwitz].
Im Juni 1943 nahm ich meine Arbeit als Schreiberin auf. Direkt nach dem Appell ging ich in mein Büro. Das war ungefähr um sieben beziehungsweise halb acht. Um acht Uhr kam die Küchenaufseherin, in der Regel die Franz; sie löste die Aufseherin, die nachts bei den Köchinnen war, ab. Direkt nach meiner Ankunft fing ich mit der Arbeit an, also mit den Berechnungen und den Überprüfungen. Der Personalstand der Blöcke und die vorgegebenen Portionen, also die festgelegten Essensrationen für jede Gefangene, lagen mir vor. Nun musste ich das auf die entsprechende Menge der Produkte umlegen, je nach dem, was für diesen Tag eingeplant war. Jeden Tag gab es Brot, aber es gab auch Beigaben zum Brot. Das alles hatte ich auszurechnen und umzurechnen.
Ein wenig Zeit für mich hatte ich, wenn die Aufseherin Franz zu Mittag fuhr, dann konnte ich schreiben. Als Schreiberin hatte ich Zugang zu den Schreibutensilien. Ich fing mit Notizen über den Alltag an, ging aber bald zu Gedichten über. Heute messe ich ihnen keinen hohen poetischen Wert mehr bei. Die Gedichtskizzen schrieb ich auf lose Zettel. Eines Tages erhielt ich eine Kladde, in die ich die Gedichte dann übertragen habe. Endlich konnte ich sie alle zusammenführen. Die meisten Gedichte waren Gebete oder Erinnerungen an die Freiheit. Einige von ihnen nehmen Bezug auf den Tod von Tadeusz. Unter diesen Gedichten befindet sich auch der für mich wichtige „List do Matki“ [Brief an die Mutter]. Das Schreiben der Gedichte entsprang dem Willen, sich aus der unmenschlichen Wirklichkeit, von der wir damals umgeben waren, loszureißen. Und diese Realität wurde zunehmend schrecklicher. Zwar hatten wir, die wir in der Küche und in der Brotkammer gearbeitet haben, es viel leichter und besser als die anderen Häftlinge, doch dabei hatte alles, was sich an der Rampe und in den Gaskammern abspielte, entsetzlichen Einfluss auf unser Leben. Wir wussten von der Hekatombe, der Apokalypse, die dort herrschte. Tag und Nacht hörte man die ankommenden Züge, ein Transport nach dem anderen. Ob wir es wollten oder nicht, wurden wir Zeugen des Ganzen und irgendwie nahmen wir auch daran teil. Wahrscheinlich war mein Schreiben ein Versuch, mich aus dieser schrecklichen Wirklichkeit loszureißen. Allerdings dienten nicht alle Gedichte der Flucht in eine andere Welt. Es gab auch welche, die ich politisch nennen könnte. Eines davon klagte England für seine Mitschuld am Holocaust an, da es nichts dagegen tat. In Auschwitz sterben Menschen, die Krematorien brennen, die Schornsteine rauchen Tag und Nacht, wir ersticken im Lager am Gestank der brennenden Körper und England tut nichts. Ich dachte, dafür sollte es aus Scham selbst ersticken.
Meine letzte Begegnung mit der Aufseherin Franz fand unmittelbar vor ihrer Abfahrt aus Auschwitz statt. Zusammen mit der Führungsriege des Lagers, all den dekorierten SS-Männern und den Häftlingen, verließ sie das Lager noch vor dessen Evakuierung. Ich hatte den Eindruck, sie wollte, dass ich mit ihnen komme. Gesagt hat sie es nicht direkt, aber ich dachte mir damals, dass es besser wäre, wenn ich mich von der Aktion fernhalten würde, also ging ich zu Frau Doktor Stefania Perzanowska.[2] Sie war Ärztin im Revier, das heißt im Lagerhospital. Ich bat sie, mich für ein paar Tage ins Krankenhaus zu stecken, da ich die Abfahrt der SS-Gruppe abwarten wolle. Frau Doktor Perzanowska verstand mich sehr gut und ließ mich am nächsten Tag kommen: „Ich gebe dir etwas, wonach du hohes Fieber bekommst.“
Ich bekam eine simple Milchspritze in die Pobacke. Es war mir nicht klar, dass sie so wirkungsvoll sein konnte, auf jeden Fall bekam ich sehr schnell hohes Fieber. Die Aufseherin Franz hatte meine plötzliche Erkrankung, von der sie von den Gefangenen erfuhr, so neugierig gemacht, dass sie ins Hospital kam, um zu prüfen, was geschehen war. Doktor Perzanowska trat mit ihr an mein Bett und begann ihr zu erklären, dass ein so hohes Fieber eine ernsthafte ansteckende Erkrankung vermuten lasse. Sie erklärte ihr noch irgendetwas, worauf die Franz wütend „Quatsch!“ sagte, sich umdrehte und ging. Ich habe sie nie mehr gesehen.
Nach dem Krieg verfolgte ich die Prozesse gegen die SS-Männer. Ich beobachtete und wartete, wann die Aufseherin Franz im Gericht erscheinen würde. Ich wusste, dass ich dann sicher als Zeugin geladen würde. Die ganze Zeit überlegte ich, was ich über sie sagen könnte, wie ich es sagen sollte, welche Situationen ich erwähnen sollte… Ich erinnerte mich an verschiedene Fakten, an ihr Verhalten, ihre Reaktionen… Eine psychologische Charakterisierung von ihr hätte ich wohl nicht zustande gebracht. Aber das waren nur meine Vermutungen und Überlegungen. Doch ich dachte die ganze Zeit daran. Letztlich kam ich zum Schluss, dass ich nicht viel über sie sagen könnte, eigentlich nur das, dass sie mir gegenüber in Ordnung gewesen war. Aus diesen Überlegungen entstand die erste Idee, eine Erzählung über eine zufällige Begegnung mit der SS-Frau zu schreiben. Schließlich entstand [der Roman] „Die Passagierin“, der durch ein seltsames Ereignis in Paris inspiriert wurde.[3]
[2] Stefania Perzanowska (1896–1974) kam am 15. April 1944 mit einem Transport aus dem KZ Lublin (Majdanek), wo sie Krankenhausärztin war, nach Auschwitz. Sie erhielt die Nummer 77368.
[3] Zofia Posmysz traf auf den Champs-Élysées auf eine Gruppe deutscher Touristen. Die Stimme einer der Frauen klang fast so wie die Stimme der Aufseherin Franz.