Die „Schreiberin“ Zofia Posmysz. Zeitzeugin der Geschichte zwischen Wahrheit und Post-Wahrheit
Zofia Posmysz hat sich ihre eigene literarische Methode und ihr eigenes schriftstellerisches Ethos geschaffen. Beides passt sich den Ereignissen an, deren Dramatik und Grauen sich Worten und der Vorstellungskraft entziehen. So bemüht sich die Schriftstellerin in der Schilderung von Orten und Fakten aus Auschwitz nicht, noch ausstehende realistische Bilder der Lagerwirklichkeit zu zeichnen. Ihr Schreibstil lebt von der Farbe der Psychologie und weder vom Duktus der Beschreibung noch vom expressiven Ausdruck. Sie ist in ihren Aussagen vor allem auf Menschen fokussiert, und zwar sowohl auf die SS-Henker als auch auf ihre Mithäftlinge. Ihr Ehrgeiz zielt darauf ab, das Gute und das Böse im Menschen zu verstehen. Diese Einstellung beruht auf der Überzeugung, dass das Gute im Menschen trotz des Alptraums Auschwitz überwiegt. Deshalb sucht sie es sogar bei den Mördern. Sie selbst hat als Person und Schriftstellerin die höchste Stufe der Menschlichkeit erreicht, indem sie eine Synthese aus Christentum und Humanismus, aus Verstehen und Mitgefühl schuf. Der wichtigste Aspekt ihrer literarischen Werke besteht in der Analyse der menschlichen Natur im Kontext des Zweiten Weltkriegs sowie im Zeichen der tragischen Experimente, denen die menschliche Unvollkommenheit unterzogen wurde. Wahrheit, Erinnerung und Versuche zu verstehen koexistieren in ihren Büchern perfekt mit „Unwahrheiten“ der Literatur. Dies alles aber gelingt nur dank der ihr eigenen literarischen Moral.
Zofia Posmysz ist allerdings nicht nur Schriftstellerin. Sie füllt auch die Rolle der Zeitzeugin aus. Diese Beweisführung durch das eigene Leben empfand sie als enorme Belastung und als Verantwortung. Zugleich schien ihr die Möglichkeit ein großes Geschenk. Zeitzeugen jener Geschichte, die einer humanitären Tragödie glich und die das Böse in uns erwies, werden in unserer Zeit sehr gebraucht. Sie sind besonders für junge Menschen wichtig. Die Sprache der Zofia Posmysz als Chronistin der Geschichte ist eine andere Sprache als die der Autorin. Sie berichtet über die damalige Zeit in einer direkten, lakonischen und leidenschaftslosen Art und Weise und wirkt dadurch unprätentiös und wahrhaftig. Ihre Erzählungen zeigen eine Authentizität, die sich augenblicklich der Phantasie bemächtigt und erzwingt, sich in das von ihr Erlebte einzufühlen. Die Wirksamkeit ihrer Erzählsprache und ihres Erzählstils spiegeln sich im Mienenspiel ihrer Zuhörer wider.
Wir leben in Zeiten der letzten Zeugen des „damaligen Unheils“ und es wird uns immer mehr bewusst, wie groß die Rolle und die Bedeutung dieser direkten Zeitzeugnisse ist. Einen Zeitzeugen kann kein dokumentierendes Museum ersetzen, und schon gar nicht ein fiktiver Roman oder ein Film. Daher ist es so wichtig, die Zeugen mit allen möglichen Mitteln zu „retten“. Immer verzweifelter, weil oft im letzten Moment, versuchen wir, Mittel und Wege zu finden, um die Zeitzeugen fotografisch, literarisch und filmisch festzuhalten. Das Buch mit den Lagergeschichten von Zofia Posmysz und die frühere Publikation mit den Berichten von Wilhelm Brasse, die beide reich bebildert sind, stellen solche Versuche dar und wurden durch Filmmaterial ergänzt. In diesen Berichten ist es eminent wichtig, auf die Psychologie und die Kraft des Ausdrucks sowie auf das emotionale Engagement zu sprechen zu kommen. Zur Überraschung vieler aber rufen die Zeitzeugen ihre Erinnerungen an das Lager ausgesprochen ruhig auf, ohne das Grauen und die Tragik durch überschießende Gefühle oder Exaltiertheit zu verstärken.
Zofia Posmysz ist ihrem Schicksal gegenüber zutiefst dankbar, weil es sie Auschwitz überleben ließ. Zugleich ist sie sich ihrer Zeugenrolle bewusst und münzt ihre Dankbarkeit in ihre Verpflichtung um. Als Zeugin schont sie sich nicht im Geringsten. Sie ist fast immer zu einem Treffen, zu einem Interview oder zu einer Aufnahme bereit, selbst dann, wenn die Verpflichtungen bisweilen über die Kräfte auch eines jungen Menschen gehen. So gab es Tage, an denen sie morgens in Birkenau an einem Beitrag für das deutsche Fernsehen beteiligt war, dann ein Interview gab und von einem deutschen Fotografen abgelichtet wurde, abends mit tausend Studenten der Krakauer Jagiellonen-Universität zusammentraf und anschließend immer noch die Kraft hatte, um die Fragen der in ihren Bann gezogenen Zuhörer zu beantworten! Zofia Posmysz verhält sich wie ein guter Beamter im Dienst. Sie fällt vor Müdigkeit um, aber sie ist glücklich, weil sie einer der wichtigsten Sachen überhaupt frönt: sie macht Menschen bewusst, wie hinterlistig und gemein das Böse, das einer Ideologie entspringt, einen anderen Menschen beherrschen und ihn zum Mörder machen kann. Sie erklärt, dass eine kritiklose Unterwerfung unter eine Ideologie Menschen verändert, wie „einen Kaugummi“, den man beliebig formen kann. Sie besitzt die Gabe, darüber zu sprechen und ist sehr überzeugend, unter anderem deshalb, weil sie an die Überlegenheit des Guten glaubt und weil sie eine passende Sprache für ihre Erzählungen entwickelt hat. Ihre Geschichten und ihre Erläuterungen hinterlassen einen unvergesslichen Eindruck. Der größte Lohn für ihre übermenschliche Anstrengung – man darf nicht vergessen, dass Zofia Posmysz schon vor einiger Zeit 90 wurde – ist die Genugtuung, die aus der Wirkung ihrer Worte entsteht. Die Menschen, die zu ihren Veranstaltungen kommen, sind gerührt und entzückt zugleich. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, ihre menschliche Tiefe sei beim Heimgehen noch tiefer geworden. Einen großen Anteil an diesem Verdienst hat die Art und Weise, wie Zofia Posmysz ihre Erinnerungen strukturiert.
Tatsächlich beherrscht Zofia Posmysz drei „Sprachen“. An erster Stelle steht die literarische Sprache ihrer Bücher. An zweiter Stelle kommt die temperierte, „pragmatische“ Sprache ihrer Lagergeschichten, die sie bei ihren Begegnungen nutzt, gefolgt von der heiteren, mitunter gutmütig-ironischen, witzigen und treffenden Sprache in ihren Gesprächen und Frotzeleien mit Freunden.