Die „Schreiberin“ Zofia Posmysz. Zeitzeugin der Geschichte zwischen Wahrheit und Post-Wahrheit
Die bald vorliegende Veröffentlichung, aus der wir hier nur einige ausgesuchte Zusammenschnitte präsentieren, ist keine Biographie der Zofia Posmysz. Sie konzentriert sich vor allem auf ihre Zeit in Auschwitz, obwohl sie auch skizzenhafte Beschreibungen der Jahre vor und nach dem Krieg enthält. Die Publikation wurde aus Aufzeichnungen von Tonaufnahmen, aus niedergeschriebenen Erzählungen und aus erinnerten Geschichten zusammengestellt. Ihre Sprache sucht nach der goldenen Mitte zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort der Zofia Posmysz, da es mein Anliegen war, den Adressaten mehr in die Rolle eines Zuhörers als eines Lesers zu versetzen.
Die wiedergegebene Geschichte enthält nicht alle Lagererlebnisse, über die wir bei verschiedenen Gelegenheiten gesprochen haben, sondern nur diejenigen, die sich auf die Weltanschauung, die Einstellung zum Leben und auf das gesamte Schaffen von Zofia Posmysz ausgewirkt haben. Insofern erfährt der Text auch eine „schubladenähnliche“ Komposition, in der die Schilderungen bestimmter Situationen und Personen ergänzt und dadurch zu vollständigen Geschichten wurden.
Zofia Posmysz hat der Ich-Form ihres niedergeschriebenen Berichts zugestimmt, erklärte jedoch, dass dieser Text mein Werk sei und deshalb auch unter meinem Namen publiziert werden sollte.
Die Aufbereitung des Materials, der Aufzeichnungen und der Filmbeiträge dauerte mehrere Jahre. In dieser Zeit hat sich zwischen Zosia und mir eine Freundschaft entwickelt. Sie ist die wunderbarste und verblüffendste Person, die ich in meinen Leben kennenlernen durfte. Wenn ich ihr das sage, schlägt sie die Hände vors Gesicht und amüsiert sich über den kuriosen Gedanken.
Zosia Posmysz vereint königliche Vornehmheit mit der Unschuld und der Offenheit eines Kindes. Sie mag Menschen, den Gesang und die Poesie und kann viele Gedichte und Lieder auswendig. Vor einigen Wochen haben wir in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/Auschwitz einen ganzen Poesieabend mit Zosia aufgenommen, bei dem sie Słowackis Grób Agamemnona (Das Grab des Agamemnons) und Ojciec zadżumionych (Der Vater der Pestkranken) aus dem Gedächtnis rezitierte. Sie erinnerte uns auch an viele kürzere Gedichte, vor allem ihres Lieblingsdichters Leśmian. Außerdem sang sie Lieder und forderte uns auf, einzustimmen.
Zofia Posmysz ist ein tiefgläubiger Mensch, was ihr sicher geholfen hat, Auschwitz zu überleben. Ihr Glaube ist zutiefst christlich geprägt und erinnert so gar nicht an das seltsame Religionsverständnis der heutigen polnischen Enthusiasten, die mit jedem Wort und jeder ihrer Tat über Kreuz mit dem Christentum sind. Zosia trägt etwas Charismatisches in sich und das spiegelt sich spürbar im Verhalten der Besucher der Treffen mit ihr wider, die danach fast wie verändert wirken.
Zofia Posmysz hat das mörderischste Experiment an der Menschheit überlebt, das Menschen sich jemals einfallen ließen. Sie war so stark, dass sie ihre Güte, ihre Lebensfreude und ihre Zuversicht in den Sinn nicht verloren hat.
Solche Persönlichkeiten, solche Biographien und solche Menschen, die diese Qualitäten besitzen, sind eine große historische Herausforderung, die viele Fragen stellt: Wie ist der Wert dieser Menschen zu bewahren? Mit welchen Mitteln? Wie soll man sie beschreiben? Wie filmen? Wie kann man sie über den Tod hinaus lebendig erhalten, trotz der unabwendbaren Vergänglichkeit? Wie kann man es vermeiden, sie in leblose Denkmäler zu verwandeln? Das Buch, das sich auf die Erinnerungen von Zofia Posmysz stützt und der Film, der zeigt mit welcher Ruhe und Würde sie über das Leben und Sterben in Auschwitz spricht, stellen Versuche in dieser Hinsicht dar.
Die Sprache der Worte und die Sprache der Bilder sind in Anbetracht von Auschwitz und des Holocaust außerordentlich hilflos. Sie leisten Widerstand gegen die Inhalte. Alle Versuche, diesen Sprachen einen Ausdruck, eine Regung, zu entlocken, alle Versuche, sie dazu zu bewegen, die damalige Wahrheit, die völlig unglaublich ist, offenzulegen, enttäuschen durch das Übermaß einer lauten Leere. Deshalb lohnt es sich bisweilen, die Sprache einzuschränken und ihre Rolle auf die neutrale, gedämpfte Vermittlung von Fakten zu reduzieren, die weder versucht, sie mit Gewalt zu konkretisieren noch sie moralisch zu bewerten. Eine solche Form der Sprache legt Zofia Posmysz selbst in ihren Erzählungen über Auschwitz zugrunde. Und eine solche Sprache habe auch ich gewählt, um ihren Bericht weiterzugeben.
Maria Anna (Masza) Potocka, September 2017
Ergänzung der Red.:
Zofia Posmysz starb kurz vor ihrem 99. Geburtstag am 8. August 2022 in Oświęcim.
Im Verlag des MOCAK (Museum für Gegenwartskunst in Krakau) erschien:
Maria Anna Potocka: Zofia Posmysz. Die Schreiberin [Szrajberka]. 7566. Auschwitz 1942–1945, Kraków/Göttingen 2019 + DVD [poln.: Kraków 2018 & 2. verb. Aufl. 2021]
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