Madame Szymanowska und Goethe – eine aufflammende Liebe?
In der endgültigen Fassung umspannt Goethes „Trilogie der Leidenschaft“ also sein ganzes Leben. Im nun ersten Gedicht der Trilogie, „An Werther“, lässt Goethe den leidenschaftlich und unglücklich Verliebten von vor fünfzig Jahren wieder auferstehen: „Noch einmal wagst du, vielbeweinter Schatten, / Hervor dich an das Tageslicht,“ um am Ende an den Freitod des Unglücklichen zu erinnern: „Wie klingt es rührend wenn der Dichter singt, / Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt!“ Die „Elegie“ hingegen ist ganz erfüllt von Goethes Verlust der jüngsten Liebe, Ulrike von Levetzow, welche er nach seiner Abreise aus Marienbad nie wiedersah. Sie ist Verzweiflung und Qual von den ersten Zeilen: „Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen, / Von dieses Tages noch geschloss’ner Blüte?“ bis zum Ende nach dreiundzwanzig Strophen: „Sie drängten mich zum gabeseligen Munde, / Sie trennen mich und richten mich zugrunde.“ Das dritte, Szymanowska gewidmete Gedicht bringt schließlich „Aussöhnung“ von den Leiden der Leidenschaft durch die Macht der Musik, die dazu fähig sei „Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen, / Zu überfüllen ihn mit ew’ger Schöne“. Goethe, dessen Verhältnis zur Musik problematisch gewesen sei, so der Literaturwissenschaftler Josef Kiermeier-Debre, habe „wohl erst in der Begegnung mit der Petersburger Hofpianistin Maria Szymanowska und der Sängerin Anna Milder-Hauptmann (1823) unter dem Schmerz über den Verlust von Ulrike von Levetzow Musik als das erfahren, was sie für seinen großen Antipoden Jean Paul stets war: eine Gewalt wie die Liebe, Ausdruck der elegischen Grundstimmung der Welt und zugleich Erlösung aus dieser ihrer reflexiven modernen Befindlichkeit.“[42]
Aussöhnung [An Madame Marie Szymanowska]
Die Leidenschaft bringt Leiden! – Wer beschwichtigt
Beklommnes Herz, das allzuviel verloren?
Wo sind die Stunden, überschnell verflüchtigt?
Vergebens war das Schönste dir erkoren!
Trüb ist der Geist, verworren das Beginnen;
Die hehre Welt, wie schwindet sie den Sinnen!
Da schwebt hervor Musik mit Engelschwingen,
Verflicht zu Millionen Tön um Töne,
Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen,
Zu überfüllen ihn mit ew'ger Schöne:
Das Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen
Den Götterwert der Töne wie der Tränen.
Und so das Herz erleichtert merkt behende,
Daß es noch lebt und schlägt und möchte schlagen,
Zum reinsten Dank der überreichen Spende
Sich selbst erwidernd willig darzutragen.
Da fühlte sich – o daß es ewig bliebe! –
Das Doppelglück der Töne wie der Liebe.
[42] Joseph Kiermeier-Debre: Das lyrische Werk von Johann Wolfgang von Goethe, in: Kindlers neues Literatur-Lexikon, herausgegeben von Walter Jens, Band 6, München 1998, Seite 440