Madame Szymanowska und Goethe – eine aufflammende Liebe?

Walenty Wańkowicz (1799-1842): Porträt der Pianistin Maria Szymanowska, 1828. Öl auf Leinwand, Bibliothèque polonaise de Paris/Biblioteka Polska w Paryżu
Walenty Wańkowicz (1799-1842): Porträt der Pianistin Maria Szymanowska, 1828. Öl auf Leinwand, Bibliothèque polonaise de Paris/Biblioteka Polska w Paryżu

Dass Goethe die international berühmte polnische Pianistin Maria Szymanowska und ihre Schwester Kazimiera Wołowska im August 1823 im böhmischen Kurort Marienbad und wenig später in Weimar traf, ist kein Geheimnis. Ebenso wenig, dass er beiden Frauen Gedichte widmete, Werke der Weltliteratur, deren Anfangszeilen bis heute zitiert werden. „Die Leidenschaft bringt Leiden! – Wer beschwichtigt, / Beklommnes Herz, dich, das zu viel verloren“, schrieb er für Szymanowska und setzte ihrem Klavierspiel ein ewiges Denkmal: „Da fühlte sich – o daß es ewig bliebe! – / Das Doppelglück der Töne wie der Liebe.“ Ihrer Schwester widmete er die Zeilen: „Dein Testament verteilt die holden Gaben, / Womit Natur dich mütterlich vollendet“ und pries denjenigen als glücklich, dem sie künftig ganz gehören sollte: „Doch wenn du Glückliche zu machen trachtest, / So wär es der, dem du dich ganz vermachtest.“

Beide Gedichte erschienen mit den jeweiligen Widmungen „An Madame Marie Szymanowska“ und „An Fräulein Kasimira Wolowska“ 1828 in der frühesten Ausgabe von „Goethes Werken. Vollständige Ausgabe letzter Hand“ bei Cotta in Stuttgart und Tübingen im vierten Band im Abschnitt „Inschriften, Denk- und Sendeblätter“.[1] Die drei Strophen für Szymanowska wurden bereits im dritten Band im Abschnitt „Lyrisches“ ohne die Widmung unter dem Titel „Aussöhnung“ als dritter Teil der „Trilogie der Leidenschaft“ nach den Gedichten „An Werther“ und „Elegie“ abgedruckt.[2] Am bekanntesten aus dieser Trilogie wurde der mittlere Teil, die heute so genannte „Marienbader Elegie“.

Goethes persönliche Wertschätzung der polnischen Pianistin erfuhren die Leserinnen und Leser erstmals 1834 aus dem von Goethes Sekretär Friedrich Wilhelm Riemer veröffentlichten Briefwechsel zwischen Goethe und dem Musiker und Komponisten Carl Friedrich Zelter, dem Goethe am 24. August 1823 aus dem böhmischen Eger schrieb: „In völlig anderem Sinne und doch für mich von gleicher Wirkung, hört‘ ich Mad. Szymanowska, eine unglaubliche Pianospielerin; sie darf wohl neben unsern Hummel gesetzt werden, nur daß sie eine schöne liebenswürdige Polnische Frau ist […]; hört sie aber auf und kommt und sieht einen an, so weiß man nicht ob man sich nicht glücklich nennen soll daß sie aufgehört hat? Begegne ihr freundlich, wenn sie nach Berlin kommt […]“.[3] Goethe war bei Erscheinen des Briefwechsels zwei Jahre tot. Szymanowska starb bereits ein Jahr vor ihm.

In der Folge fand die Begegnung zwischen Szymanowska und Goethe Eingang in die frühen Goethe-Biographien. Der Londoner Schriftsteller, Literaturkritiker und Philosoph George Henry Lewes berichtete in seinem Hauptwerk „The Life of Goethe“ (1855), dass nicht nur Goethes Marienbader Favoritin, Ulrike von Levetzow, von dem „alten, eloquenten Herrn“ fasziniert gewesen sei: „Madame Szymanowska, according to Zelter, was ‚madly in love‘ with him; and however figurative such a phrase may be, it indicates, coming from so grave a man as Zelter, a warmth of enthusiasm one does not expect to see excited by a man of seventy-four.“[4]

 

[1] Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Vierter Band, Stuttgart, Tübingen: Cotta 1828, Seite 114, 120, Bayerische Staatsbibliothek München, Online-Ressource: https://opacplus.bsb-muenchen.de/Vta2/bsb10109008/bsb:2190269

[2] Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Dritter Band, Stuttgart, Tübingen: Cotta 1828, Seite 27, Bayerische Staatsbibliothek München, Online-Ressource: https://opacplus.bsb-muenchen.de/Vta2/bsb10109007/bsb:2190265 – In modernen Ausgaben verfügbar als Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe, Poetische Werke (Band 1-16), herausgegeben von Siegfried Seidel, Berlin: Aufbau, 1960 ff.; Johann Wolfgang von Goethe: Gedichte, Berliner Ausgabe, bearbeitet von Michael Holzinger, North Charleston, USA, 2013; Trilogie der Leidenschaft: Seite 360-365; An Fräulein Kasimira Wolowska, Seite 522; An Madame Marie Szymanowska, Seite 524

[3] Goethe an Zelter, Eger, 24. August 1823. Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796 bis 1832, Band 3: Jahre 1819 bis 1824, herausgegeben von Friedrich Wilhelm Riemer, Berlin: Duncker und Humblot, 1834, Seite 329 f., Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10621139?q=%28Briefwechsel+zwischen+Goethe+und+Zelter+in+den+Jahren+1796+bis+1832.+3%29&page=334,335

[4] George Henry Lewes: The Life of Goethe, 2. Auflage, Band 2, Leipzig 1864, Seite 305, Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10068735?page=320,321&q=Szymanowska

1887 veröffentlichte der Jurist und Goethe-Forscher Gustav von Loeper in dem in Frankfurt am Main erschienenen Goethe-Jahrbuch eine ausführliche Abhandlung zur „Trilogie der Leidenschaft“, in der er die Umstände der Entstehung, den Zusammenhang mit Szymanowska und ihrer Schwester sowie Goethes Tagebuch-Einträge dazu beschrieb und analysierte.[5] Zwei Jahre später widmete der mährische Literaturhistoriker Gustav Karpeles der Verbindung zwischen Szymanowska und Goethe in der in Stuttgart und Leipzig erschienenen Neuen Musik-Zeitung einen umfangreichen Aufsatz unter dem Titel „Eine Freundin Goethes“.[6] In seinem Buch „Goethe in Polen“ teilte derselbe Autor 1890 in dem Kapitel „Marie Szymanowska und ihre Beziehungen zu Goethe“ weitere Zitate aus Goethes Briefen an den Weimarer Staatskanzler Friedrich von Müller mit.[7] Seitdem wird sowohl in Deutschland als auch in Polen über die Verbindung zwischen Szymanowska und Goethe geschrieben, unter anderem, weil vor einiger Zeit bislang nicht beachtete Briefe aufgetaucht sind.[8] Weiter wird interessieren, zu welchen anderen Persönlichkeiten in Deutschland Szymanowska Kontakt hatte, wann und wo sie dort Konzerte gab und wie die deutsche Öffentlichkeit auf ihre Musik reagierte.

Als Maria Szymanowska in Marienbad eintraf, wo sie die „Liste der angekommenen Brunnengäste“ unter dem 8. August 1823 als „erste Fortipianistinn Ihrer Majestät der Kaiserinn von Rußland“ in Begleitung von Bruder und Schwester vermerkt (siehe PDF 1),[9] stand sie nach zehnjähriger Ehe und trotz ihrer hohen russischen Auszeichnung noch am Anfang ihrer internationalen Karriere und befand sich auf ihrer ersten Europatournee. Geboren 1789 in Warschau als siebtes von zehn Kindern des wohlhabenden Brauereibesitzers Franciszek Wołowski und seiner Frau Barbara, geborene Lanckorońska, erhielt sie im Alter von neun Jahren den ersten Klavierunterricht bei einem gewissen Antoni Lisowski und wechselte nach zwei Jahren zu einem Tomasz Gremm. Die Familie hatte regelmäßig einen Kreis von Musikern und Literaten zu Gast und begrüßte durchreisende Komponisten und Instrumentalisten in ihrem Salon wie Ferdinando Paër, Daniel Steibelt, Pierre Rode, August Alexander Klengel und sogar Wolfgang Amadeus Mozart mit seinem Sohn Franz Xaver, der im Juni 1819 im Warschauer Nationaltheater konzertierte und Szymanowska eine Widmung in ihr Poesie- und Sammelalbum schrieb.[10] Ab 1804 erhielt Maria Kompositionsunterricht bei dem aus Schlesien stammenden deutschstämmigen Komponisten Joseph/Józef Elsner. 1805/06 war sie Mitglied einer Musik-Gesellschaft, die Elsner zusammen mit dem deutschen Schriftsteller E.T.A. Hoffmann gegründet hatte. 1809 gab die Einundzwanzigjährige in Warschau ihr erstes Konzert und ging dann nach Paris, wo sie in den Salons konzertierte. Sie stellte sich dem Direktor des Pariser Konservatoriums, dem Komponisten Luigi Cherubini, vor, der ihr Spiel lobte und ihr für ihr Sammelalbum eine Klavier-Phantasie widmete.

Noch im selben Jahr heiratete sie in Warschau den Gutspächter Teofil Józef Szymanowski, der weder für ihr Klavierspiel noch für ihre Kompositionen Verständnis zeigte und sie, allerdings vergeblich, für die Arbeit auf seinem Landgut zu interessieren suchte. Obwohl er ihre öffentlichen Auftritte als unsittlich empfand, machte sie sich auch in Warschau einen Namen. 1812 berichtete die im Leipziger Musikverlag Breitkopf und Härtel erschienene Allgemeine musikalische Zeitung: „Warschau. Musikal. Neuigkeiten giebt es jetzt hier wenig; es scheint als wenn die Kunst begraben wäre. […] Das hiesige Orchester ist jetzt schlecht bestellt […] Privatmusiken sind wenig […] Unter den Klavierspielerinnen zeichnen sich aus: Die Gemahlin des Dr. Wolff, Mad. Kaminska, Mad. Szymanowska, und Mad. Richter.“[11] 1811 brachte Szymanowska die Zwillinge Helena und Romuald, 1812 die Tochter Celina zur Welt, welche 1834 den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz ehelichte. 1815 konzertierte sie während des Wiener Kongresses, 1817 in Dresden, 1818 in Wien und London, 1820 in St. Petersburg und in Berlin (Abb. 1).

[5] Loeper 1887 (siehe Literatur), Seite 172 f.

[6] Gustav Karpeles: Eine Freundin Goethes, in: Neue Musik-Zeitung, 10. Jahrgang, Nr. 19, Stuttgart, Leipzig 1889, Seite 233 f., Online-Ressource: https://archive.org/details/NeueMusikZeitung10Jg1889/page/n237/mode/2up?q=Szymanowska

[7] Karpeles 1890 (siehe Literatur), Seite 37-54

[8] Die an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar tätige Warschauer Musikwissenschaftlerin und Germanistin Maria Stolarzewicz listet in ihrem Beitrag Goethe‘s Connections with Maria Szymanowska … 2014 (siehe Literatur) die bislang erschienene polnische und deutsche Literatur zu diesem Thema auf und stellt drei bislang unbeachtete Briefe von Szymanowska an Goethe im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar vor.

[9] „Nro. 670. Frau Maria Szymanowska, erste Fortipianistinn Ihrer Majestät der Kaiserinn von Rußland, mit Bruder Nro. 671 Herrn Karl Wotowski [sic!, richtig: Wołowski], und Schwester Casimira, aus Warschau, wohnen im Klingers Gasthofe“ (Liste der angekommenen Brunnengäste im Marienbad im Jahre 1823, Eger, gedruckt bei Joseph Kobrtsch, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Klassik Stiftung Weimar (siehe PDF 1), Online-Ressource: https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:gbv:32-1-10025662290). Das Titelblatt mit der Ansicht von Marienbad fehlt (siehe Abb. 4).

[10] Kijas 2010 (siehe Literatur), Seite 14, 33

[11] Allgemeine musikalische Zeitung, herausgegeben von I.N. [Johann Nikolaus] Forkel, 14. Jahrgang, No. 37, 9. September 1812, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1812, Spalte 612, Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10527962?page=348,349

1819/20 erschienen bei Breitkopf & Härtel sechs Alben mit insgesamt neunundsechzig von ihr komponierten Stücken für Klavier,[12] die Verwandten, Bekannten, anderen Komponisten oder hochgestellten Persönlichkeiten gewidmet waren, darunter dem in Berlin ansässigen polnischen Fürsten Anton Heinrich Radziwill/Antoni Henryk Radziwiłł, preußischer Statthalter in Posen und Mitglied des preußischen Staatsrates (Abb. 2). Radziwill war selbst engagierter Cellist und Komponist und arbeitete seit etwa 1810 an einer Vertonung von Goethes „Faust“, die ihm offenbar Goethes Freund Zelter angetragen hatte. Die italienische Opernsängerin Angelica Catalani, die im November 1819 in Warschau auftrat, soll Szymanowska darin bestärkt haben, sich gegen die Ehe und für eine musikalische Karriere zu entscheiden, woraufhin diese sich scheiden ließ. Zwei Jahre lang arbeitete sie an ihrer Klaviertechnik und erweiterte ihr Repertoire, gab Konzerte und Unterricht. 1822 gastierte sie in St. Petersburg, wo sie nach einem Auftritt in der Sommerresidenz des Zaren den Titel einer Ersten Hofpianistin der Zarenmutter und der Zarin Elisabeth Alexejewna erhielt, welcher ihr nicht nur beträchtliches Ansehen, sondern auch einen festen jährlichen Unterhalt einbrachte.[13] (PDF 2)

Im Februar 1823 absolvierte sie eine Konzertreise durch die ukrainischen Städte Kiew, Tultschyn, Schytomyr, Dubno, Kremenez und Lemberg. Nach vorübergehender Rückkehr nach Warschau und einem dortigen Konzert im Mai ging sie auf eine Tournee durch Europa, auf der sie ihre Schwester und ihr Bruder begleiteten, welcher für die Organisation der Reisen und der Konzerte zuständig war. Bis zum Ende des Jahres konzertierte sie in Deutschland: im Januar in Dresden, im Herbst in Leipzig und in den Wintermonaten in Weimar, Dessau, Braunschweig und Berlin. Zu Beginn ihrer Konzerttournee, die am Ende drei Jahre dauern sollte, reiste sie ins preußische Posen, wo sie am 29. und 30. Juni ein Konzert von Johann Nepomuk Hummel und eine eigene „Fantasie“ gespielt haben soll, wie eine Warschauer Zeitung berichtete.[14]

Anschließend reiste sie ins böhmische Karlsbad, das schon in diesen Jahren als einer der berühmtesten Badeorte Europas galt[15] und wo sie am 6. Juli eintraf. Vierzehn Tage später, am 21. Juli, konzertierte sie dort, wie die Warschauer Tageszeitung Kurjer Warszawski zwei Wochen später berichtete, vor herausragenden Persönlichkeiten, unter anderem der Prinzessin von Cumberland und rund fünfzig Herzoginnen und Herzögen. Die Zahl der beim Konzert anwesenden Polen, ebenfalls Besucher des Kurortes, sei nicht weniger als zweimal so hoch gewesen. Stürmischer Applaus sei auf jeden Vortrag der außerordentlich talentierten Künstlerin gefolgt. Auch der berühmte Hummel habe zuvor in Karlsbad konzertiert, jedoch weniger Besucherinnen und Besucher angezogen (PDF 3).[16] Eigentlich galt der Aufenthalt in Karlsbad jedoch einer Kur von Szymanowskas Schwester Kazimiera, die dort wegen eines Leidens in der Seite Bäder einnahm, wie Szymanowska in einem Brief an den in Moskau lebenden Fürsten, Schriftsteller und Freund von Alexander Puschkin, Pjotr Andrejewitsch Wjasemski, berichtete. Ihm schrieb sie auch, dass sie anschließend plane, Goethe in Marienbad zu treffen und dann nach Dresden und Berlin weiterzureisen.[17]

[12] Kijas 2010 (siehe Literatur), Seite 17; diverse Ausgaben in der Nationalbibliothek Warschau/Biblioteka Narodowa w Warszawie auf polona.pl, https://polona.pl/search/?filters=creator:%22Szymanowska,_Maria_(1789--1831)%22,public:0. – Insgesamt sind von Szymanowska 97 Klavier- und 30 Vokalwerke erhalten (Bischler 2017, siehe Literatur, Seite 213, 403). 

[13] Die Warschauer Tageszeitung Kurjer Warszawski berichtete, dass ein privates Konzert vor der Zarenfamilie der Pianistin höchste Anerkennung eingebracht habe. Das nachfolgende öffentliche Konzert am 18. März in der Petersburger Philharmonie habe vor ausverkauftem Haus stattgefunden und bei einem Eintrittspreis von 10 Rubel einen Erlös von 14.000 Rubel eingebracht. Szymanowska habe unter anderem ein Adagio gespielt, das Himel (sic!, gemeint ist Johann Nepomuk Hummel), Orchesterdirektor der Großfürstin Maria Pawlowna in Weimar, in St. Petersburg für die Pianistin komponiert habe. (Nowosci Warszawskie, in: Kurjer Warszawski, Nr. 77, 31. März 1822, Seite 1 (siehe PDF 2), Online-Ressource: https://jbc.bj.uj.edu.pl/dlibra/publication/744066/edition/705906/content) – Vergleiche auch Kijas 2010 (siehe Literatur), Seite 44 f.

[14] Gazeta Korrespondenta Warszawskiego i Zagranicznego Nr. 107 vom 7. Juli 1823, Seite 1227, Online-Ressource: https://polona.pl/item/gazeta-korrespondenta-warszawskiego-y-zagranicznego-1823-nr-107-7-lipca-dodatek,MTA0NjcwOTQ1/0/#info:metadata

[15] Carlsbad, in: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. (Conversations-Lexicon.), 6. Auflage, 2. Band, Leipzig 1824, Seite 335, Online-Ressource: https://opacplus.bsb-muenchen.de/Vta2/bsb10710721/bsb:1014597?queries=Carlsbad&language=de&c=default

[16] Nowosci Warszawskie, in: Kurjer Warszawski, Nr. 183, Warschau, 3. August 1823, Seite 1, Spalte 2 (siehe PDF 3), Online-Ressource: https://jbc.bj.uj.edu.pl/dlibra/publication/744468/edition/706308/content) – Vergleiche auch Kijas 2010 (siehe Literatur), Seite 49

[17] Bischler 2017 (siehe Literatur), Seite 63

Weshalb Szymanowska Goethes Bekanntschaft suchte, ist nicht bekannt. Jedenfalls reisten sie und ihre Geschwister am 8. August nach Marienbad weiter. Marienbad im österreichischen Kronland Böhmen war zu dieser Zeit ein aufstrebender und noch in der Entwicklung befindlicher Kurort. 1808 war auf Initiative des Prämonstratenser-Stiftes Tepl an der vierzehn Kilometer westlich gelegenen schwefligen Marienquelle, die mit den umliegenden Heilquellen seit dem Mittelalter bekannt war, ein erstes Badehaus gebaut worden. Nach Veröffentlichungen des Klosterarztes über die Heilwirkung der Quellen wurde ab 1813 ein Kurort errichtet, der zunächst aus wenigen Fachwerkhäusern bestand (Abb. 3). In der ersten Saison 1815 konnten den Gästen sieben Gebäude als Unterkünfte angeboten werden.[18] 1818 wurde der Kurort, der nach der Quelle den Namen Marienbad erhielt, offiziell anerkannt. Bis 1820 waren an den Brunnen und an den Aussichtspunkten klassizistische Pavillons entstanden, Parks wurden angelegt und repräsentative Kurhäuser und Gasthöfe gebaut (Abb. 4). Die ursprüngliche Idylle des Tals im Kaiserwald konnte man aber immer noch erleben (Abb. 5). 1824 bestand der Ort bereits aus vierzig Gebäuden und hatte einen guten Ruf als Heilstätte bei Gästen, die auch in das nahe gelegene und weitaus ältere Karlsbad oder in die anderen rund um Eger gelegenen Orte zur Kur fuhren.[19]

In der fraglichen Zeit verkehrte in Marienbad eine hochrangige europäische Gesellschaft aus jährlich rund achthundert Kurgästen. Zu ihnen gehörten im August 1823 beispielsweise Ludwig Freiherr von Mannsbach, Regierungsassessor aus Greiz, der polnische Divisionsgeneral Jan Nepomucen Umiński aus Posen, die „russische wirkliche Staatsrathsgemahlinn aus Kurland“, Charlotte Baronin von Hahn, Freiin Bernhardine von Aachen aus Westfalen, ein Kajetan von Szydłowsky, „Gutsbesitzer und Ritter der pohlnischen Orden, aus Warschau“, Ferdinand Baron von Reiboldt, „k. sächsis. geheimer Finanzrath, mit Frau Gemahlinn, gebornen Baronesse Pflugk, und Tochter, aus Dresden“, ein bayerischer Leutnant, ein Hauslehrer aus Greiz, ein königlich bayerischer Oberappellations-Gerichtsrat mit Frau aus München, Kaufleute und Adlige aus Prag und Berlin, der „k.k. Kämmerer und Herrschaftsbesitzer“ Leopold Graf Kinsky von Wchinitz und Tettau aus Wien, ein Advokat mit Gattin aus Budweis, ein Graf von Mycielski, Gutsbesitzer aus Posen, ein Baron Skórzewski, „Gutsbesitzer aus Ekelmo (sic!, vermutlich Chełmno) in Pohlen“ und die aus Berlin angereiste Opernsängerin Anna Milder-Hauptmann um nur einige der Gäste aus den ersten elf Augusttagen der Ankunftszeit von Maria Szymanowska und ihren Geschwistern zu nennen. Man wohnte wahlweise in den Gasthöfen Zum Stern, Zum Prinzen, Zur Goldenen Sonne, Zur Goldenen Krone, Zum Schwarzen Adler, Zur Goldenen Traube, Zum Goldenen Falken, Zum Goldenen Löwen, Zum Weißen Schwan, wie Szymanowska und ihre Geschwister in Klingers Gasthof, im Sächsischen oder im Russischen Hause, in den Hotels Zum Römer, Zur Stadt Dresden, Zum Grünen Kreuze oder im Badehaus.[20]

[18] Gersdorff 2005 (siehe Literatur), Seite 9

[19] „Marienbad in Böhmen, das neben Töplitz, Carlsbad und Franzensbrunn einen Rang zu behaupten sucht …“ (Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. (Conversations-Lexicon.) 6. Auflage, 6. Band, Leipzig 1824, Seite 146, Online-Ressource: https://opacplus.bsb-muenchen.de/Vta2/bsb10710725/bsb:1014601?queries=Marienbad&language=de&c=default )

[20] Liste 1823 (vergleiche Anmerkung 9, siehe PDF 1), Nr. 618-685, 1.-11. August 1823

Goethe (Abb. 6-8), der zwischen 1785 und 1820 zwölfmal in Karlsbad, einmal im Riesengebirge und einmal in Teplitz zur Kur gewesen war,[21] verbrachte anschließend drei Sommer in Marienbad. Bei seinem ersten Aufenthalt seit dem 29. Juli 1821 nahm er Quartier im „Brösigke’schen Haus“, einem repräsentativen Hotel mit einhundert Zimmern auf drei Stockwerken (Abb. 9), das von Amalie von Levetzow und ihren Eltern, dem Ehepaar Brösigke, geführt wurde. Goethe war der „weltgewandten und angenehmen“ Frau von Levetzow erstmals 1806 in Karlsbad begegnet und wurde von ihr zu seinem dramatischen Festspiel „Pandora“ (1808) inspiriert. Nach der Scheidung von ihrem ersten Mann und dem Verlust ihres zweiten Gatten in der Schlacht bei Waterloo verwendete sie Reste ihres Vermögens darauf, gemeinsam mit den Eltern das Hotel in Marienbad für ausgewählte Kurgäste zu errichten, in dem die Familie auch selbst wohnte. Als das Geld nicht reichte, sprang der hochrangige österreichische Staatsbeamte Franz von Klebelsberg zu Thumburg ein, der als Eigentümer eingetragen wurde. Nach ihm, der bald Amalies Geliebter und später ihr Ehemann wurde, hieß das Haus auch „Palais Klebelsberg“.[22]

Goethe wurde von Anfang an in die Familie Brösigke aufgenommen. Der Zweiundsiebzigjährige, dessen Ehefrau Christiane, geborene Vulpius, 1816 gestorben und der im Frühjahr 1821 schwer erkrankt war, entwickelte schnell eine tiefe Zuneigung zu Ulrike (Abb. 10), der ältesten der drei Töchter von Amalie von Levetzow. Die Siebzehnjährige, die gerade erst aus einem Mädchenpensionat in Straßburg zurückgekehrt war, sah in dem ihr bis dahin unbekannten Dichter und Weimarer Minister zunächst nur einen liebenswerten alten Herrn, dessen beständige Zuwendung ihr schmeichelte. Der Sommer 1822, den Goethe ganz mit der Familie Brösigke verbrachte, befeuerte seine Liebe zu Ulrike von Levetzow. Er begleitete sie auf Spaziergängen und Ausflügen, tanzte mit ihr auf Bällen und machte ihr Geschenke. Sie, so heißt es, „empfand für Goethe mädchenhafte Zuneigung, eine Liebe, wie eine Achtzehnjährige demjenigen entgegenbringt, der sie väterlich-männlich verwöhnt.“[23]

Im August 1823 – Goethe wohnte diesmal im Gasthof Zur Goldenen Traube, während sein Landesherr, Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach, mit seinem Gefolge im „Graf klebelsbergischen Hause“ abgestiegen war[24] – gedieh Goethes Liebe zu Ulrike soweit zur Obsession, dass nur noch ein Heiratsantrag Erlösung bringen konnte. Der Großherzog selbst hielt für Goethe bei Frau von Levetzow um die Hand ihrer Tochter an, während die gehobene Gesellschaft zwischen Bayern, Thüringen und Preußen, Marienbad, Karlsbad und Wien und erst recht Goethes Sohn August und dessen Frau Ottilie in Weimar wegen der drohenden ungleichen Verbindung in höchstem Maße alarmiert waren. Ulrike jedoch, die später und bis ins hohe Alter beteuerte: „Keine Liebschaft war es nicht“, ließ durch ihre Mutter mitteilen, dass sie sich eine solche Verbindung aufgrund von Goethes Lebensgemeinschaft mit Sohn und Schwiegertochter in Weimar nicht vorstellen und eine Trennung von ihrer eigenen Familie nicht würde ertragen können.[25]

Während Goethe noch hoffte und sich nicht eingestehen wollte, dass sein Heiratswunsch wohl doch nicht in Erfüllung gehen würde, traf er Damen, die ihm ebenfalls attraktiv erschienen und ihm über seinen beginnenden Kummer hinweghelfen konnten. Aus Berlin traf die dreiundzwanzigjährige Lili Parthey in Marienbad ein, Enkelin des Berliner Schriftstellers und Verlegers Friedrich Nicolai, Schülerin von Zelter und bekannt mit der Familie Mendelssohn und dem Fürsten Radziwill, der weiterhin und bis in die 1830er-Jahre an der Vertonung des „Faust“ arbeitete. Sie überbrachte Grüße und einen Kuss von Zelter und verliebte sich spontan in Goethe, während dieser der Fürstin Pauline von Hohenzollern beichtete, die das Treffen arrangiert hatte, dass die durchaus amouröse Begegnung „sehr schlimm und gefährlich“ hätte ausgehen können.[26] Auch gegenüber Maria Szymanowska sprach Goethe in seinem ihr gewidmeten Gedicht vom „Doppelglück der Töne wie der Liebe“, wobei sie vielleicht schon ahnte, dass seine Liebe noch einer anderen galt.[27]

[21] Vergleiche Urzidil 1981 (siehe Literatur), Seite 13-134

[22] Gersdorff 2005 (siehe Literatur), Seite 11-13, 20 f.

[23] Ebenda, Seite 36

[24] Liste 1823 (vergleiche Anmerkung 9, siehe PDF 1), Nr. 362-365, 2. Juli 1823

[25] Gersdorff 2005 (siehe Literatur), Seite 64-68

[26] Ebenda, Seite 51-53

[27] „Und wenn sie [Szymanowska], wie keinem Zweifel unterliegt, wusste, was sich mit Goethe damals zutrug, dann begriff sie auch, wem diese die Macht der Töne verherrlichende Tränenseligkeit im eigentlichsten galt. ‚Wer beschwichtigt beklommnes Herz dich, das zu viel verloren?‘“ (Urzidil 1981, siehe Literatur, Seite 170)

Namentlich erwähnte er Szymanowska und ihre Schwester erstmals am 14. August in seinem Tagebuch. Nach Unterredungen mit Baron von Manteuffel und Major von Wartenberg traf er die Pianistin an diesem Tag vermutlich auf jenem Konzert, von dem er Zelter zehn Tage später in einem Brief berichtete. Für sich privat notierte er: „Zu Madame Szymanowska, welche in einem benachbarten Hause auf dem Flügel spielte, ein Stück von Hummel, eins von sich und noch zwey andere, ganz herrlich. Mit ihr spazieren gegen die Mühle. Der Regen überfiel uns. Mit Regenschirmen an die Quelle. Abends auf der Terrasse.“[28] Am übernächsten Tag und am Tag darauf schrieb er die Gedichte für die beiden Schwestern, übertrug sie am dritten Tag in zwei Alben und überreichte sie dann vermutlich in französischer Sprache[29]: „Gedichte in die zwey Albums vollbracht und geschrieben. Madame Szymanowska besuchte mich. Neugierig auf den Inhalt des Albums.“[30] Folgt man dem Tagebuch, fanden weitere Treffen erst am 20. August und dann wieder am 4. September statt, weil Goethe zwischenzeitlich nach Eger und Karlsbad gefahren war, unter anderem um in der Umgebung geologische Studien zu betreiben und seine Mineraliensammlung zu vervollständigen. Am 7. September war Szymanowska offenbar aus Marienbad abgereist ohne Goethe noch einmal gesehen zu haben, denn dieser vermerkte: „Fand den gestickten Teller von Madame Szymanowska. Ingleichen anderes Eingesendete während meiner Abwesenheit.“[31]

Auch anderen Adressaten berichtete Goethe über die polnische Pianistin. An seine Schwiegertochter Ottilie und an den Berliner Juristen, Philologen und Staatsrat Christoph Ludwig Friedrich Schultz schrieb er am 18./19. August mit denselben Zeilen: „Madame Szymanowska, ein weiblicher Hummel mit der leichten polnischen Facilität, hat mir diese letzten Tage höchst erfreulich gemacht; hinter der polnischen Liebenswürdigkeit stand das größte Talent gleichsam nur als Folie oder […] umgekehrt. Das Talent würde einen erdrücken, wenn es ihre Anmuth nicht verzeilich machte.“[32] An Sohn August ließ er Liebeskummer wegen Ulrike durchblicken, den die beiden Musikerinnen Anna Milder-Hauptmann und Szymanowska gelindert hätten: „Nur ist noch eine gewisse Reizbarkeit übrig geblieben, die ich erst bey'm Anhören der Musik gewahr geworden; ohne die Frauen Milder und Szymanowska wär ich nie dazu gekommen.“[33] Der Komponist und Pianist Johann Nepomuk Hummel, so ist zu ergänzen, Schüler von Mozart, Antonio Salieri und Haydn, war seit 1819 Hofkapellmeister in Weimar und eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt. Ohne Goethe gesehen und Hummel spielen gehört zu haben, so der Musikwissenschaftler Joel Sachs, sei für keinen Touristen ein Besuch in Weimar komplett gewesen.[34] Szymanowska dürfte Hummel 1822 in St. Petersburg getroffen haben, wo dieser zur selben Zeit wie sie auf seiner einzigen Russland-Reise konzertierte, wie die Allgemeine musikalische Zeitung berichtete.[35]

[28] 14. August 1823. Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, III. Abteilung (Tagebücher), Band 9, 1897, Seite 92

[29] Beide Gedichte „sowohl deutsch wie französisch“ (Karpeles 1890, siehe Literatur, Seite 39). „… das er für sie [Szymanowska] in deutscher und französischer Fassung niederschreibt.“ (Urzidil 1981, siehe Literatur, Seite 170). Der Schweizer Privatgelehrte und Numismatiker Frédéric Soret, der einige von Goethes naturwissenschaftlichen Werken ins Französische übersetzte, berichtet: „Goethe hatte die auf die Szymanowska gedichteten Verse in französische Prosa übersetzt, war aber damit sehr unzufrieden und bat mich, eine neue Übersetzung von dem Kanzler von Müller anfertigen zu lassen.“ (19.1.1824, in: Goethes Unterhaltungen mit Friedrich Soret. Nach dem französischen Texte … herausgegeben von C.A.H. Burkhardt, Weimar 1905, Seite 35. Online-Ressource: https://archive.org/details/goethesunterhal00goetgoog/page/n5/mode/2up)– „… he even translated this poem in French as Szymanowska couldn’t speak German that well“ (Stolarzewicz 2014, siehe Online, Seite 118). – Auch seine Korrespondenz mit Szymanowska anlässlich seines Ausflugs nach Eger und Karlsbad führte Goethe auf Französisch: „Malheureusement, Madame, étant condanné à partir demain il ne me reste que de soigner mes lèvres informes que déteste de tout mon coeur. Je me vois à grand regret privé de l'aimable societé qui me preparoit une si belle soirèe, et je serois tout à fait inconsolable si je ne me repetois toujours en prose ce que j'ai osé dire en Verse, y joignant l'espérance de me réjouir bientot à Weimar du plus beau talent et de la plus intéressante societé qu'on puisse imaginer. Adieu donc, Madame, gardés moi Votre précieux Souvenir. M.[arien] B.[ad] 19 Aout 1823 (An Maria Szymanowska, 19.8.1823. Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, IV. Abteilung [Briefe], Bd. 38, 1897, Seite 183)

[30] 18. August 1823. Goethe: Tagebücher (siehe Anmerkung 28), Seite 94

[31] 7. September 1823. Ebenda, Seite 110

[32] An Ottilie von Goethe, Marienbad, 18.8.1823. Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, IV. Abteilung (Briefe), Bd. 38, 1897, Seite 175; An Christoph Ludwig Friedrich Schultz, Marienbad, 19.8.1823, ebenda, Seite 181

[33] An August von Goethe, Eger, 24.8.1823. Ebenda, Seite 192

[34] Joel Sachs: Johann Nepomuk Hummel, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, herausgegeben von Stanley Sadie, Band 8, London 1980, Seite 782

[35] „Petersburg. Im Winter und in dem grossen Fasten von 1822 war die Anzahl der von Künstlern zu ihrem Besten veranstalteten öffentlichen Concerte, im Verhältnis zu denen in vorhergehenden Jahren, nur gering, aber desto grösser die der Armen-Concerte […] Madame Symanoffska, Klavierspielerin aus Warschau, die sich mit Hrn. Hummel zu gleicher Zeit hier befand, interessierte das Publikum für sich durch Schilderung ihrer Lage; auch gefiel ihr Spiel in einigen Privat-Gesellschaften: denn sie zeigte natürliches Gefühl und bedeutende Fertigkeit …“ Allgemeine musikalische Zeitung, No. 34, Leipzig, 20. August 1823, Spalte 552 f., Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10527973?page=288,289

In einem erneuten Brief an Schultz sprach Goethe die zwischenzeitlich entstandenen Gedichte an und schrieb nach Szymanowskas Abreise aus Marienbad: „Nebenbey sind auch einige Gedichte gelungen, die für mich Werth haben und für Freunde hoffentlich nicht werthlos bleiben sollen. Mehr kann ich wohl nicht verlangen, besonders da noch manches andere Gute, als die unglaubliche Talentsäußerung der Pianospielerin Madame Szymanowska, mit Worten nicht anzudeuten ist. Sie hat ihren Weg nach Berlin genommen; sollten Sie die so liebenswürdige als kunstfertige Frau sehen und hören, so werden Sie mir nicht verargen von ihr entzückt gewesen zu seyn.“[36] Gegenüber dem Frankfurter Bankier, Schriftsteller und Theaterförderer Johann Jakob Willemer und seiner Frau Marianne bekannte Goethe am darauffolgenden Tag: „Madame Szymanovska aus Warschau, die fertigste und lieblichste Pianospielerin, hat auch ganz Neues in mir aufgeregt. Man ist erstaunt und erfreut, wenn sie den Flügel behandelt, und wenn sie aufsteht und uns mit aller Liebenswürdigkeit entgegen kommt, so läßt man sich's eben so wohl gefallen.“[37]

Nach seiner Rückkehr nach Weimar am 13. September 1823 teilte Goethe das Gedicht für Szymanowska mit seinen engsten Vertrauten. Kanzler von Müller berichtet unter dem 25. September: „Von 5-8 Uhr weilte ich bei Goethe, dessen Unterhaltung höchst interessant, vertraulich, gemüthsvoll war. […] Darauf theilte er die Gedichte auf Madame Szymanowska, die Virtuosin, und auf ihre Schwester mit. Jene sei wie die Luft, so umfließend, so alsbald zu setzend, so überall, so leicht und gleichsam körperlos. Er zeigte mir ihre Handschrift. […] Als ich über die Virtuosin Szymanowska einige Querfragen that, äußerte er sanft scheltend: Ach der Kanzler macht mir oft unversehens Verdruß. Den ganzen Abend war keine Spur von Unmuth oder Verstimmung in ihm zu finden …“[38] Nachdem Szymanowska am 24. Oktober für knapp zwei Wochen nach Weimar gekommen war um Goethe zu besuchen, vermerkte dessen Adlatus und späterer Nachlassverwalter Johann Peter Eckermann: „Er sagte, es sei eine junge Polin angekommen, die etwas auf dem Flügel spielen werde. Ich nahm die Einladung mit Freuden an. […] Und was legte er mir vor? Sein neuestes, liebstes Gedicht, seine ‚Elegie‘ von Marienbad. […] Als ich ausgelesen, trat Goethe wieder zu mir heran. ‚Gelt‘, sagte er, ‚da habe ich Euch etwas Gutes gezeigt.‘“[39]

Jahre später, im Dezember 1831, berichtete er Eckermann über die vollständige Entstehungsgeschichte der aus drei Gedichten bestehenden „Trilogie der Leidenschaft“. Sie sei ursprünglich nicht als Trilogie konzipiert, „vielmehr erst nach und nach und gewissermaßen zufällig zur Trilogie geworden. Zuerst hatte ich, wie Sie wissen, bloß die ‚Elegie‘ als selbständiges Gedicht für sich. Dann besuchte mich die Szymanowska, die denselbigen Sommer mit mir in Marienbad gewesen war und durch ihre reizenden Melodien einen Nachklang jener jugendlich-seligen Tage in mir erweckte. Die Strophen, die ich dieser Freundin widmete, sind daher auch ganz im Versmaß und Ton jener ‚Elegie‘ gedichtet und fügen sich dieser wie von selbst als versöhnender Ausgang. Dann wollte Weygand eine neue Ausgabe meines ‚Werther‘ veranstalten und bat mich um eine Vorrede, welches mir denn ein höchst willkommener Anlaß war, mein Gedicht ‚An Werther‘ zu schreiben. Da ich aber immer noch einen Rest jener Leidenschaft im Herzen hatte, so gestaltete sich das Gedicht wie von selbst als Introduktion zu jener ‚Elegie‘. So kam es denn, daß alle drei jetzt beisammenstehenden Gedichte von demselbigen liebesschmerzlichen Gefühle durchdrungen worden und jene ‚Trilogie der Leidenschaft‘ sich bildete, ich wußte nicht wie.“[40] Allerdings kann diese Chronologie nicht stimmen, denn das Szymanowska gewidmete Gedicht „Aussöhnung“ entstand bis zum 18. August 1823, die „Elegie“ jedoch erst im September und Oktober des Jahres vor Szymanowskas Ankunft in Weimar und wurde Ende November noch mehrfach Korrektur gelesen.[41] Im März 1824 folgte schließlich das Gedicht „An Werther“ anlässlich der Leipziger Jubiläumsausgabe der 1774 erstmals veröffentlichten „Leiden des jungen Werther“.

[36] An Christoph Ludwig Friedrich Schultz, Eger, 8.9.1823. Goethe: Briefe (siehe Anmerkung 32), Seite 207

[37] An Johann Jacob und Marianne von Willemer, Eger, 9.9.1823. Ebenda, Seite 211

[38] Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich v. Müller. Herausgegeben von C.A.H. Burkhardt, Stuttgart 1870, Seite 59 f. Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11001483?page=74,75

[39] Montag, den 27. Oktober 1823. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 1823-1832, 1. Theil, Leipzig 1836, Seite 68-72, Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10068560?page=88,89

[40] Donnerstag, den 1. Dezember 1831. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Dritter Theil, Magdeburg 1848, Seite 360 f., Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10068562?page=380,381

[41] „30. November. Die Elegie gelesen und wieder gelesen. […] Nach Tische geruht. Abends Gräfin Line. Sodann mit Zelter die Elegie nochmals gelesen.“ Goethe: Tagebücher (siehe Anmerkung 28), Seite 149. – Die beschriebene Unstimmigkeit auch bei Stolarzewicz 2014 (siehe Online), Anmerkung 11: „In his description of the creation of his poems Goethe is wrong.“ Vergleiche auch Urzidil 1981 (siehe Literatur), Seite 361: „Denn das Gedicht ‚Aussöhnung‘ für Madame Szymanowska ist in Marienbad wenige Tage vor und keineswegs nach der ‚Elegie‘ gedichtet worden. Und die Zusammenfügung der drei Gedichte zur ‚Trilogie‘ ereignete sich nicht ‚gewissermaßen zufällig‘, wie Goethe aus großer zeitlicher Distanz bemerkt, sondern entsprach […] dem unbewussten Kausalgesetz des Herzens und der dichterischen Affinitäten.“

In der endgültigen Fassung umspannt Goethes „Trilogie der Leidenschaft“ also sein ganzes Leben. Im nun ersten Gedicht der Trilogie, „An Werther“, lässt Goethe den leidenschaftlich und unglücklich Verliebten von vor fünfzig Jahren wieder auferstehen: „Noch einmal wagst du, vielbeweinter Schatten, / Hervor dich an das Tageslicht,“ um am Ende an den Freitod des Unglücklichen zu erinnern: „Wie klingt es rührend wenn der Dichter singt, / Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt!“ Die „Elegie“ hingegen ist ganz erfüllt von Goethes Verlust der jüngsten Liebe, Ulrike von Levetzow, welche er nach seiner Abreise aus Marienbad nie wiedersah. Sie ist Verzweiflung und Qual von den ersten Zeilen: „Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen, / Von dieses Tages noch geschloss’ner Blüte?“ bis zum Ende nach dreiundzwanzig Strophen: „Sie drängten mich zum gabeseligen Munde, / Sie trennen mich und richten mich zugrunde.“ Das dritte, Szymanowska gewidmete Gedicht bringt schließlich „Aussöhnung“ von den Leiden der Leidenschaft durch die Macht der Musik, die dazu fähig sei „Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen, / Zu überfüllen ihn mit ew’ger Schöne“. Goethe, dessen Verhältnis zur Musik problematisch gewesen sei, so der Literaturwissenschaftler Josef Kiermeier-Debre, habe „wohl erst in der Begegnung mit der Petersburger Hofpianistin Maria Szymanowska und der Sängerin Anna Milder-Hauptmann (1823) unter dem Schmerz über den Verlust von Ulrike von Levetzow Musik als das erfahren, was sie für seinen großen Antipoden Jean Paul stets war: eine Gewalt wie die Liebe, Ausdruck der elegischen Grundstimmung der Welt und zugleich Erlösung aus dieser ihrer reflexiven modernen Befindlichkeit.“[42]

Aussöhnung [An Madame Marie Szymanowska]

Die Leidenschaft bringt Leiden! – Wer beschwichtigt
Beklommnes Herz, das allzuviel verloren?
Wo sind die Stunden, überschnell verflüchtigt?
Vergebens war das Schönste dir erkoren!
Trüb ist der Geist, verworren das Beginnen;
Die hehre Welt, wie schwindet sie den Sinnen!


Da schwebt hervor Musik mit Engelschwingen,
Verflicht zu Millionen Tön um Töne,
Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen,
Zu überfüllen ihn mit ew'ger Schöne:
Das Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen
Den Götterwert der Töne wie der Tränen.


Und so das Herz erleichtert merkt behende,
Daß es noch lebt und schlägt und möchte schlagen,
Zum reinsten Dank der überreichen Spende
Sich selbst erwidernd willig darzutragen.
Da fühlte sich – o daß es ewig bliebe! –
Das Doppelglück der Töne wie der Liebe.

[42] Joseph Kiermeier-Debre: Das lyrische Werk von Johann Wolfgang von Goethe, in: Kindlers neues Literatur-Lexikon, herausgegeben von Walter Jens, Band 6, München 1998, Seite 440

Nach ihrer Abreise aus Marienbad am 7. September 1823 fuhr Szymanowska mit ihren Geschwistern über Jena nach Dresden und Pillnitz. In Dresden trat sie, wie die Allgemeine musikalische Zeitung berichtete, im „Hôtel de Pologne mit erhöhten Preisen“ auf: „Sie spielte den ersten Satz von Hummels Concert in H moll, dann das Adagio und Finale aus desselben Meisters A moll Concert, und zuletzt ein Rondo in C dur von Field. Sie besitzt einen herrlichen festen Anschlag auf ihrem Instrumente, verbunden mit Zartheit und vielem Ausdruck. Obgleich sie das Tempo der Hummel’schen Compositionen etwas langsamer nahm, als es der Componist will, so erhielt doch dadurch ihr Spiel mehr Verständlichkeit. Das Rondo von Field spielte sie mit grosser Fertigkeit und mit aller der Eigenthümlichkeit, die die Compositionen dieses Meisters erfordern.“[43] Der Kurjer Warszawski berichtete, der Besitzer des Hotels, ein freundlicher Pole, habe der Pianistin die Beleuchtung des Saales kostenlos überlassen.[44] Anschließend trat sie in Pillnitz in der Sommerresidenz des sächsischen Hofes vor dem König, seiner Familie und dem Hofstaat auf. Der Kurjer Warszawski resümierte in demselben Artikel, dass der Monarch sich über das Konzert hoch zufrieden gezeigt und die Künstlerin mit großem Lob bedacht hätte.[45]

Anschließend reiste Szymanowska nach Berlin. Am 2. Oktober schrieben sie und Kazimiera an ihre Schwester Teresa in Warschau über die zahlreichen Veranstaltungen, die sie dort besucht hätten. Jeden Abend gäbe es Bälle und sogar Maskeraden. Kazimiera berichtete über eine Aufführung der Oper „Libussa“ von Conradin Kreutzer sowie über die Vorbereitungen für Szymanowskas Konzert am 10. Oktober im Königlichen Schauspielhaus, die der Generalintendant Carl von Brühl nach Kräften fördern wolle. Szymanowska fügte hinzu, dass sie vorhätten, gemeinsam mit „den Mendelssohns“ die Berliner Singakademie zu besuchen. Bei ihrem Konzert, das Carl Moeser, der spätere Königliche Musikdirektor leitete, spielte sie ein Klavierkonzert von Hummel, ein Rondo von Klengel sowie ein Adagio von dem Pianisten und Komponisten Friedrich Kalkbrenner, den sie persönlich kannte und der ebenfalls im Hause Mendelssohn verkehrte.[46]

Bereits am darauffolgenden Tag muss Szymanowska nach Leipzig weitergereist sein, wo sie am 13. und am 20. Oktober konzertierte. Das erste Konzert, bei dem erneut das Klavierkonzert von Hummel auf dem Programm stand, habe über siebenhundert Besucherinnen und Besucher angezogen, berichtete Kazimiera in einem Brief an die Eltern in Warschau. Es sei das Gespräch der Stadt gewesen. Der Pianist und Komponist Friedrich Schneider, Hofkapellmeister aus Dessau, der am folgenden Tag in Leipzig auftrat, habe sich lobend über Szymanowkas Talent geäußert. Beim zweiten Termin trug sie ein Konzert von Klengel, das 6. Rondo von Field sowie ein Septett und ein neues Rondo von Hummel vor. Der Musikverleger C.F. Peters habe um das neue Rondo gebeten, damit sich die Noten besser verkauften.[47] Das in Weimar erschienene Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode resümierte: „Am 13. Oct. spielte zu Leipzig im Abonnementsconcerte eine Pianofortistin, Madam Szymanofska. Sie ist ohne Zweifel die vollendetste und genialste Pianofortespielerin, die es gegenwärtig giebt. Alle, die sie Tags vorher in der Probe gehört hatten, waren von ihrem Vortrag entzückt. […] (Wir geben dieß aus einem Briefe aus Leipzig, welcher hinzusetzt: ‚Mad. S. solle eine Polnische Gräfin seyn, und werde auch Weimar besuchen‘.)“[48]

[43] Nachrichten. Dresden, Monat July, August, September, in: Allgemeine musikalische Zeitung, No. 46, Leipzig, 12. November 1823, Spalte 759, Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10527973?page=390,391

[44] Nowosci Warszawskie, in: Kurjer Warszawski, Nr. 235, Warschau, 3. Oktober 1823, Seite 1, Spalte 2, Online-Ressource: https://polona.pl/item/kurjer-warszawski-1823-nr-235-3-pazdziernika,OTc2ODc3NTQ/0/#info:metadata

[45] Vergleiche auch Bischler 2017 (siehe Literatur), Seite 70

[46] Kijas 2010 (siehe Literatur), Seite 52 f.

[47] Ebenda, Seite 53 f.

[48] Miscellen, in: Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, Nr. 99, October, Weimar 1823, Seite 816, Online-Ressource: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00217576/JLM_1823_0884.tif?logicalDiv=jportal_jparticle_00091710. Eine ausführlichere Rezension des Konzerts erschien in derselben Zeitschrift, Nr. 103, November, Weimar 1823, Seite 847 f., Online-Ressource: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00217576/JLM_1823_0915.tif?logicalDiv=jportal_jparticle_00091712, eine polnische Übersetzung dieses Artikels in der Gazeta Warszawska Nr. 181, Warschau 14.11.1823, Seite 2476, Online-Ressource: https://polona.pl/item/gazeta-warszawska-1823-nr-181-dod-14-listopada,Mjg1MDUzMDQ/1/#info:metadata 

Die Allgemeine musikalische Zeitung berichtete: „Am 20sten October verschaffte uns Mad. Szymanowska, erste Pianofortistin Ihrer Maj. der Kaiserinnen von Russland, den herrlichsten Genuss. […] Mad. Szym. ist auf ihrem Instrumente Meisterin im ganzen Sinne des Wortes. Fertigkeit und musikalischer Geist sind gleich stark in ihr. […] Darauf wurde das neueste Rondo brillant von Hummel, eine sehr dankbare Composition, mit einer solchen Sicherheit im Starken und Zarten von ihr vorgetragen, dass der ganze Saal vom rauschendsten Beyfall wiederhallte. Ihr Spiel hat nicht Ueberladenes; jeder Ton ist, wie er eben seyn soll …“ (PDF 4).[49] Die in Dresden erscheinende Abend-Zeitung schrieb über die beiden Leipziger Konzerte: „Mad. Maria Szymanowska … trat … zuerst in einem Abonnement-Concerte auf und erwarb sich durch ihr treffliches Spiel so viel Ruf, daß bei dem später selbst arrangirten Concerte der Saal kaum die herbeigeströmte Menge fassen konnte, ein Fall, der in Leipzig, wo man mit Musik überfüttert wird, höchst selten ist. Laien und Kenner waren von der Präcision und dem Ausdrucke ihres Spiels in gleichem Grade entzückt und letztere behaupten, einen noch höheren Genuß gewähre es, sie spielen zu sehen, die Behendigkeit ihrer Finger und ihre, ganz von den gewöhnlichen Regeln abweichende, originelle Applikatur in der Nähe zu bewundern. In Privatzirkeln soll Mad. Szymanowska auch durch geistreiche Fantasieen auf dem Pianoforte bezaubert haben …“[50]

Am 24. Oktober 1823 traf Szymanowska mit Schwester und Bruder „von Dresden und Leipzig kommend“, wie Goethe in seinem Tagebuch vermerkte,[51] in Weimar ein und erregte auch hier Aufsehen. Kanzler von Müller notierte: „Goethe gab eine große Abendgesellschaft jener interessanten polnischen Virtuosin, Mad. Marie Szymanowska zu Ehren, von der er uns schon so viel erzählt hatte und die gestern ihn zu besuchen mit ihrer Schwester, Casimira Wolowska hier angelangt war. Auf sie hat er zu Carlsbad (sic! richtig: Marienbad) die schönen gemüthvollen Stanzen gedichtet, die er uns kürzlich vorgelesen und die seinen Dank dafür aussprechen, daß ihr seelenvolles Spiel seinem Gemüthe zuerst wieder Beruhigung schaffte, als die Trennung von Levezows ihm eine so tiefe Wunde schlug. Goethe war den ganzen Abend hindurch sehr heiter und galant, er weidete sich an dem allgemeinen Beifall, den Mad. Szymanowska eben so sehr durch ihre Persönlichkeit, als durch ihr seelenvolles Spiel fand.“[52]

Jeden Mittag aßen Szymanowska und ihre Geschwister bei Goethe, während die Pianistin sich mit Tafelmusiken revanchierte. Am 27. Oktober lud Goethe erneut zu einer musikalischen Soiree ein: „Vorbereitung zu dem abendlichen Concert. […] Die Gesellschaft kam nach und nach an. Madame Szymanowska spielte. Madame Eberwein sang, von Saiten- und Blasinstrumenten accompagnirt. Blieben bis gegen 10 Uhr“, schrieb Goethe in sein Tagebuch.[53] Eckermann vermerkte: „Am andern Tag erzählte man mir, daß die junge polnische Dame, Madame Szymanowska, der zu Ehren der festliche Abend veranstaltet worden, den Flügel ganz meisterhaft gespielt habe, zum Entzücken der ganzen Gesellschaft.“[54] Am Tag darauf, so Kanzler von Müller, war wieder „Concert bei Goethe. Ein Quartett von der Composition des Prinzen Louis Ferdinand und gespielt von Mad. Szymanowska gab Goethen zu den interessantesten Bemerkungen Anlaß. Er faßt, wie wohl ganz schüchtern, den Gedanken, daß die Künstlerin ein öffentliches Concert geben sollte, und forderte Schmidt, Coudray und mich auf, es auf alle Weise zu befördern.“[55] Auch am 30. Oktober gab es „Abends Concert bei Goethe.“[56]

 

[49] Nachrichten. Leipzig, vom Michael 1823 bis zum März 1824, in: Allgemeine musikalische Zeitung, Nr. 13, Leipzig, 25. März 1824, Spalte 204 (siehe PDF 4), Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10528025?page=128,129

[50] Correspondenz-Nachrichten. Aus Leipzig, in: Abend-Zeitung, Nr. 268, Dresden, 8.11.1823, Seite 1072, Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10530367_00463_u001?q=Szymanowska&page=4

[51] 24. Oktober 1823. Goethe: Tagebücher (siehe Anmerkung 28), Seite 132

[52] Freitags, den 24. October. Goethes Unterhaltungen (siehe Anmerkung 38), Seite 71, Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11001483?page=86,87

[53] 27. Oktober 1823. Goethe: Tagebücher (siehe Anmerkung 28), Seite 134

[54] Montag, den 27. Oktober 1823. Eckermann: Gespräche (siehe Anmerkung 38), Seite 72, Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10068560?page=92,93

[55] Dienstags, 28. October. Goethes Unterhaltungen, Seite 71 (siehe Anmerkung 52). – Clemens Wenzeslaus Coudray, Architekt, arbeitete von 1816 bis zu seinem Tod 1845 als Oberbaudirektor in Weimar. 1832 begleitete er Goethe in dessen drei letzten Lebenstagen und fertigte darüber Notizen an, die später veröffentlicht wurden.

[56] Donnerstags, den 30. October. Goethes Unterhaltungen, Seite 71 (siehe Anmerkung 52)

Das von Goethe angeregte öffentliche Konzert konnte am 4. November „im Saale des Stadthauses, vor einem, nach den hiesigen Verhältnissen, sehr zahlreichen Auditorium“[57] stattfinden, nachdem Großfürstin Maria Pawlowna, die Schwiegertochter von Großherzog Carl August, ihr eigenes Instrument ausgeliehen hatte. Das Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode (PDF 5) berichtete ausführlich über das Konzert, in dem auch Gesangssolisten und Mitglieder der Hofkapelle auftraten. Auf dem Programm standen Beethovens 4. Sinfonie in B-Dur, das Klavierkonzert A-Moll von Hummel, ein Klavierquintett von Beethoven, Gesangsstücke von Ferdinando Paër, ein Klavier-Notturno von John Field sowie ein Rondo aus dem 1. Klavierkonzert von Klengel: „Mit allgemeinem, rauschendsten Beifall sah sich die ausgezeichnete Künstlerin belohnt. Hummel’s schwieriges Concert trug sie mit einer Kraft und Zartheit, Fertigkeit, Präcision und Rundung vor, die alles in Erstaunen setzte, und welcher ohne Zweifel selbst der Meister, der, von jeder unedlen Rücksicht entfernt, seit seinem Petersburger Aufenthalte zugleich ein werther Freund der Künstlerin ist, wäre er zugegen gewesen, gewiß volle Gerechtigkeit würde haben angedeihen lassen.“[58] Die Allgemeine musikalische Zeitung urteilte: „Mad. Szymanowska fand auch wie anderwärts enthusiastische Verehrer, die ihr Spiel in aller Hinsicht weit über das Spiel mancher berühmterer Künstler setzten und in ihm so ziemlich das Höchste erreicht fanden, was zu erreichen menschlicher Kraft möglich sey.“[59]

Kanzler von Müller berichtete von einem anschließenden Souper bei Goethe, bei dem dieser eine schwärmerische Laudatio auf Szymanowska hielt: „Fühlen wir uns nicht alle insgesammt durch diese liebenswürdige, edle Erscheinung, die uns jetzt wieder verlassen will, im Innersten erfrischt, verbessert, erweitert? Nein, sie kann uns nicht entschwinden, sie ist in unser innerstes Selbst übergegangen, sie lebt in uns mit uns fort und fange sie es auch an, wie sie wolle, mir zu entfliehen, ich halte sie immerdar fest in mir.“[60] Möglicherweise war auch der vierzehnjährige Felix Mendelssohn-Bartholdy auf dem Konzert anwesend, der in diesen Tagen bei Goethe und am Weimarer Hof zum wiederholten Mal als eine Art Wunderkind zu Gast war. Denn der Musikschriftsteller und Mendelssohn-Biograph August Reissmann legte dem „Wunderknaben“ ein Zitat in den Mund, in dem er Goethes mehrfach wiederholten Vergleich zwischen Hummel, der kurzzeitig Mendelssohns Lehrer war, und der „Claviervirtuosin Szymanowska, die jener Zeit in Weimar weilte,“ frech kommentierte: „Die Szymanowska wird über Hummel gesetzt. Man hat ihr hübsches Gesicht mit ihrem Spiel verwechselt.“[61]

[57] Madam Szymanowska – zu Weimar. Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, Nr. 109, November 1823), Seite 890 (siehe PDF 5), Online-Ressource: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00217576/JLM_1823_0962.tif?logicalDiv=jportal_jparticle_00089519

[58] Ebenda

[59] Nachrichten. Weimar. April bis Ende 1823, in: Allgemeine musikalische Zeitung, No. 9, Leipzig, 26. Februar 1824, Spalte 139, Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10527974?page=88,89

[60] Dienstags, den 4. November. Goethes Unterhaltungen (siehe Anmerkung 38), Seite 72, Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11001483?page=88,89

[61] August Reissmann: Felix Mendelssohn-Bartholdy. Sein Leben und seine Werke, Dritte Auflage, Leipzig 1893, Seite 29 f. – Das Zitat vermutlich erstmals in dem Buch des Historikers und Sohns von Mendelssohn, Carl/Karl Mendelssohn Bartholdy: Goethe und Felix Mendelssohn Bartholdy, Leipzig 1871, Seite 17, Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11001481?page=26,27&q=Szymanowska – Weitere Kritiken aus Zeitungen und Zeitschriften über Szymanowskas Konzert in Weimar sowie Äußerungen von Zeitgenossen bei Bischler 2017 (siehe Literatur), Seite 75-86

Szymanowskas Abreise aus Weimar am folgenden Tag stürzte Goethe erneut in seelische Bedrängnis und beschwor die vorangegangene Trennung von Ulrike von Levetzow wieder herauf. Kanzler von Müller berichtete: „Als ich Nachmittags zu Goethe kam, traf ich ihn noch mit Mad. Szymanowska zu Tische sitzend; sie hatte eben an die ganze Familie bis zu dem kleinen Wolf herab, ihrem Liebling, die zierlichsten kleinen Abschiedsgeschenke, zum Theil eigner Hände Arbeit, ausgetheilt, und der alte Herr war in der wunderbarsten Stimmung. Er wollte heiter und humoristisch sein, und überall blickte der tiefste Schmerz des Abschieds durch. – […] Um 5 Uhr war sie zur Abschiedsaudienz bei der Frau Großfürstin bestellt, wo sie, der Hoftrauer entsprechend, ganz schwarz gekleidet erschien, was für Goethe den Eindruck noch erhöhte. Der Wagen fuhr vor und ohne daß er es bemerkte war sie verschwunden. Es schien zweifelhaft, ob sie noch einmal wieder käme. – Da trat das Menschliche in Goethen recht unverhüllt hervor; er bat mich aufs Dringendste zu bewirken, daß sie nochmals wieder erscheinen, nicht ohne Abschied scheiden möchte. Einige Stunden später führten der Sohn und ich sie und ihre Schwester zu ihm. – ‚Ich scheide reich und getröstet von Ihnen […] Sie haben mir den Glauben an mich selbst bestätigt, ich fühle mich besser und würdiger, da Sie mich achten. Nichts von Abschied, nichts von Dank; lassen Sie uns vom Wiedersehen träumen‘ […] … alle Anstrengung des Humors half nicht aus, [bei Goethe] die hervorbrechenden Thränen zurückzuhalten, sprachlos schloß er sie und ihre Schwester in seine Arme und sein Blick begleitete sie noch lange, als sie durch die lange offene Reihe der Gemächer entschwand. – ‚Dieser holden Frau habe ich viel zu danken‘, sagte er mir später, ihre Bekanntschaft und ihr wundervolles Talent haben mich zuerst mir selbst wiedergegeben.“[62]

Szymanowskas Konzerte in Weimar und im Hause Goethe blieben lange Gesprächsthema und die Pianistin und der Dichter hielten über Jahre hindurch wenn auch nur brieflichen Kontakt. In einem Schreiben an den Kölner Gemäldesammler, Kunst- und Architekturschriftsteller Sulpiz Boisserée blickte Goethe im Dezember 1823 auf Szymanowska Besuch in Weimar zurück: „Zu gleicher Zeit langte Graf Reinhard mit Familie bey uns an, sein Geburtsfest ward fröhlich und anständig gefeyert […] Eine unvergleichliche Pianospielerin, Madame Szymanowska, deren anmuthige Gegenwart und unschätzbares Talent mir schon in Marienbad höchst erfreulich gewesen, kam gleich nach ihnen, und mein Haus war 14 Tage der Sammelplatz aller Musikfreunde, angelockt durch hohe Kunst und liebenswürdige Natur. Hof und Stadt, durch sie aufgeregt, lebte so fortan in Tönen und Freuden. – Unmittelbar nach ihr besuchte mich Herr Staatsminister von Humboldt, einer der echten alten Freunde aus der Schillerschen Zeit …“[63]

Am 14. Februar des Folgejahrs notierte Goethe: „Nach Tische Herr Canzler von Müller, Nachrichten von Madame Szymanowska bringend, auch andere Politica durchsprechend“[64], am 27. März: „Nachrichten von Madame Szymanowska im Constitutionnel“,[65] einer Pariser Zeitung für Wirtschaft, Politik und Literatur. Szymanowska drückte in einem Brief aus London vom 2. Juli 1824 ihre Enttäuschung darüber aus, dass Goethe – wie sie von Kanzler von Müller erfahren habe – Marienbad in diesem Jahr nicht besuchen wolle. Mit ihrem Aufenthalt in London sei sie zufrieden. Bei ihrer Rückkehr nach Polen wolle sie einen Zwischenstopp in Weimar einlegen.[66] Im Juni 1829 ließ Szymanowska durch einen Brief von Zelter den Besuch zweier Polen in Weimar ankündigen, und zwar des Dichters Adam Mickiewicz, ihres späteren Schwiegersohns, und des Lyrikers, Dramatikers und Übersetzers Antoni Edward Odyniec: „Unsre Freundin Mad. Szymanowska empfiehlt einen talentvollen Polnischen Compatrioten und Dichter, besonders Dir als Prince des Poètes. Er heißt Mickiewicz und will eine Reise durch Deutschland nach Italien machen. Der junge Mann spricht schon ziemlich Deutsch und ist angelegentlich empfohlen. Das Uebrige magst Du von ihm selbst erfahren.“[67] Tatsächlich trafen Mickiewicz und Odyniec am 18. August 1829 in Weimar ein und blieben dort auf Goethes Einladung hin über dessen Geburtstag hinaus bis zum Monatsende.[68]

 

[62] Mittwochs, den 5. November. Goethes Unterhaltungen (siehe Anmerkung 60), Seite 72 f. – Der kleine Wolf: Goethes Enkel, der dreijährige Wolfgang Maximilian.

[63] An Sulpiz Boisserée [in Paris], Weimar, den 12. December 1823. Goethe: Briefe (siehe Anmerkung 32), Seite 276; auch in: Sulpiz Boisserée, 2. Band: Briefwechsel mit Goethe, Stuttgart: Cotta 1862, Seite 363 f., Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10061843?q=Szymanowska&page=370,371

[64] 14. Februar 1824. Goethe: Tagebücher (siehe Anmerkung 28), Seite 178

[65] 27. März 1824. Ebenda, Seite 197

[66] Neu aufgefundener Brief im Goethe-und-Schiller-Archiv in Weimar, vergleiche Stolarzewicz 2014 (siehe Online), Seite 124. Zu dem erneuten Treffen in Weimar kam es aus unbekannten Gründen offenbar nicht.

[67] An Goethe. Berlin, Freytag, den 12. Junius 1829. Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796 bis 1832, Band 5: Jahre 1828 bis 1830 Juny, herausgegeben von Friedrich Wilhelm Riemer, Berlin: Duncker und Humblot, 1834, Seite 246, Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10598617?q=Mickiewicz&page=248,249

[68] Ausführlicher Bericht über den Besuch von Mickiewicz und Odyniec bei Goethe in: Karpeles 1890 (siehe Literatur), Seite 70-97. – Zuvor bei Franz Thomas Bratranek: Zwei Polen in Weimar (1829). Ein Beitrag zur Goetheliteratur aus polnischen Briefen übersetzt und eingeleitet, Wien 1870, Seite 29 f.: „… an Goethe (so wie an seine Schwiegertochter Ottilie), hatte überdies Mickiewicz von Mad. Szymanowska, welche er kurz zuvor in einer Dichtung als ‚Königin der Töne‘ gefeiert, Empfehlungsbriefe erhalten, deren Wirksamkeit man an den Worten Goethe’s ermessen mag, welche er (1823) bei ihrem Abschiede gegen den Kanzler Müller äußerte: ‚Dieser holden Frau habe ich viel zu danken …‘“, Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11014107?q=Szymanowska&page=42,43

Nach Szymanowskas Abreise aus Weimar am 5. November 1823[69] fuhr die Pianistin zunächst nach Halle und anschließend nach Dessau, wo sie vor der herzoglichen Familie von Anhalt-Dessau konzertierte. Dann reiste sie weiter nach Berlin, wo sie am 10. Dezember und am 7. Januar des Folgejahrs Konzerte gab. Über das erste Konzert, das am Nachmittag stattfand und für das fünfhundertfünfzig Eintrittskarten verkauft wurden, berichtete der Kurjer Warszawski, dass der preußische König zusammen mit Prinzen, ausgewählten Persönlichkeiten und führenden Künstlern die Aufführung besucht habe. Szymanowskas Schnelligkeit, Strenge und ihr Gefühl beim Vortrag der Stücke von Beethoven, Field und dem preußischen Prinzen Louis Ferdinand sei von einem Berliner Rezensenten gelobt worden. Man habe die Pianistin gebeten, auf ihrem Weg nach Paris auch in Hannover, Braunschweig, Kassel und Frankfurt aufzutreten (PDF 6).[70] Das Konzert am 7. Januar 1824 fand, wie die Allgemeine musikalische Zeitung schrieb, anlässlich einer „Morgenunterhaltung“ statt, bei der ein Quintett für Bläser und Klavier von Beethoven, ein Trio für Klavier, Violine und Violoncello von Prinz Louis Ferdinand sowie ein „Rondo alla Polacca“ von Field „nicht ohne Beyfall der zahlreichen Anwesenden“ aufgeführt wurden.[71] Während ihres Berliner Aufenthalts stand Szymanowska in brieflichem Kontakt mit Kanzler von Müller, dem sie von ihren künftigen Reiseplänen berichtete, den sie Goethe grüßen ließ und von dem sie ein Empfehlungsschreiben nach Braunschweig erbat. Am 1. Januar traf sie Ottilie von Goethe in Berlin.[72]

Tatsächlich machte Szymanowska auf ihrer anschließenden Reise nach Paris Halt in den angekündigten Städten. Goethe vermerkte am 26. Januar 1824 in seinem Tagebuch: „Brief von Madame Szymanowska von Frankfurt“[73] und berichtete noch am selben Tag seiner Schwiegertochter Ottilie: „Freundin Szymanowska war in Braunschweig freundlich aufgenommen, flog durch Hannover durch, gelangte pfeilschnell nach Frankfurt, wo Schlossers ihr gefällig waren …“[74] Nach ihren Konzerten in Braunschweig und Hannover erhielt sie, wie der Kurjer Warszawski berichtete, eine Einladung für eine Konzertreise nach London. In Kassel traf sie den dort als Dirigent und Chorleiter tätigen Violinisten und Komponisten Ludwig Spohr, der sich wie viele andere berühmte Musiker zuvor mit einem für sie komponierten „Rätselkanon“ und einer Widmung in ihr Poesie- und Sammelalbum eintrug.[75]

Im März und April 1824 trat sie in Paris auf, wo sie Fürst Radziwill traf, von Mai bis Juni in London, im Oktober in Mailand, im November in Florenz und bis zum Januar 1825 in Rom, Neapel und Venedig. Von Februar bis September 1825 konzertierte sie erneut in London, anschließend bis zum Jahresende in Paris und Amsterdam. (Abb. 11) In der ersten Jahreshälfte 1826 war sie erneut in London und Paris und kehrte dann nach Warschau zurück. Im Januar und Februar 1827 gab sie Abschiedskonzerte in Warschau und Vilnius, im März und April in Riga und St. Petersburg, um sich anschließend mit ihren Töchtern Helena und Celina in St. Petersburg niederzulassen. 1828 unternahm sie noch einmal eine Konzertreise nach Kiew, Warschau, Moskau und St. Petersburg, die im März des Jahres endete.[76]

Seitdem unterrichtete und verkehrte sie in St. Petersburg in einem Kreis von Freunden und Bekannten, zu denen berühmte Dichter und Musiker wie Mickiewicz, Alexander Puschkin, Michael Glinka und John Field gehörten. Im Juli 1831 starb sie als Opfer einer Cholera-Epidemie, die ganz Europa und Russland erfasst hatte.[77] Ihre Kompositionen hielten noch einige Jahre die Erinnerung an sie wach. Die führenden europäischen Musiklexika verzeichnen sie seit ihrem Ableben bis in die neueste Zeit.[78] Der Komponist Robert Schumann schrieb 1836 über Szymanowska und die von ihr komponierten Etüden: „Der Name wird vielen eine schöne Erinnerung sein. Wir hörten diese Virtuosin oft den weiblichen Field nennen, worin, diesen Etuden nach zu schließen, etwas Richtiges liegen mag. Zarte blaue Schwingen sind’s, die die Wagschale weder drücken noch heben und die Niemand hart angreifen möchte. […] An Erfindung und Charakter heißen wir sie jedenfalls das Bedeutendste, was die musikalische Frauenwelt bis jetzt geliefert …“[79]
 

Axel Feuß, September 2021

[69] An ihrem Abreisetag trugen sich Goethes Schwiegertochter Ottilie und die mit Goethe befreundete Schriftstellerin Johanna Schopenhauer, Mutter des Philosophen Arthur Schopenhauer, in Szymanowskas Sammel- und Poesiealben ein (heute in der Bibliothèque polonaise in Paris); vergleiche Bischler 2017, siehe Literatur, Seite 87.

[70] Nowosci Warszawskie, in: Kurjer Warszawski, Nr. 14, 16. Januar 1824, Seite 1, Spalte 1 f. (siehe PDF 6), Online-Ressource: https://jbc.bj.uj.edu.pl/dlibra/publication/744609/edition/706449/content) – Vergleiche auch Kijas 2010 (siehe Literatur), Seite 55 (dort falsch: 10. Januar)

[71] Berlin. Uebersicht des Januar, in: Allgemeine musikalische Zeitung, No. 7, Leipzig, 12. Februar 1824, Spalte 107, Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10527974_00069_u001?q=Szymanowska&page=4,5

[72] Bischler 2017 (siehe Literatur), Seite 92 f.

[73] 26. Januar 1824. Goethe: Tagebücher (siehe Anmerkung 28), Seite 171

[74] An Ottilie von Goethe. Weimar, Montag, den 26. Jenner 1824. Goethe: Briefe (siehe Anmerkung 32), Seite 32

[75] Erstmals publiziert von Józef Mirski 1953 (siehe Literatur). – Vergleiche auch Kijas 2010 (siehe Literatur), Seite 56

[76] Verzeichnis der Konzertreisen bei Kijas 2010 (siehe Literatur), Seite XIII-XV. – Kijas hat Briefe und Tagebücher aus der Familie von Szymanowska akribisch ausgewertet.

[77] „Notiz. Nach zuverlässigen Nachrichten ist leider auch die grosse Pianoforte-Virtuosin und liebenswürdige Frau Szymanowska in Petersburg an der Cholera gestorben.“ (Allgemeine musikalische Zeitung, Nr. 35, Leipzig, 31.8.1831, Spalte 584, Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10527981_00331_u001?q=Szymanowska&page=8

[78] Verzeichnis der frühen Lexika bei Bischler 2017 (siehe Literatur), Seite 209 f. Zuletzt Irena Poniatowska: Szymanowska, Maria (Agata), in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), 2. Auflage, Personenteil, Band 16, Kassel/Stuttgart 2006; MGG online 2016, https://www.mgg-online.com/article?id=mgg12647&v=1.0&rs=mgg12647 (Abonnement)

[79] 1836. Maria Szymanowska, 12 Etuden. [Heft 1. 2.], in: Robert Schumann: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, 2. Band, Leipzig, 1854, Seite 17 f., Online-Ressource: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10599478?q=Szymanowska&page=20,21

Literatur:

Doris Bischler: „Ein weiblicher Hummel mit der leichten polnischen Fazilität“. Konzertreisen und kompositorisches Werk der Klaviervirtuosin Maria Agata Szymanowska (1789-1831), zugleich Dissertation Hochschule für Musik Würzburg, Berlin 2017

Maria Stolarzewicz: Goethe‘s connections with Maria Szymanowska and her sister Kazimiera Wołowska. Several comments, in: Annales. Académie Polonaise des Sciences à Paris, Band 16, Paris/Warschau 2014, Seite 115-124

Anna E. Kijas: Maria Szymanowska (1789-1831). A Bio-Bibliography, Lanham/Toronto/Plymouth 2010

Dagmar von Gersdorff: Goethes späte Liebe. Die Geschichte der Ulrike von Levetzow (Insel-Bücherei, 1265), Leipzig 2005

Anne Swartz: Goethe and Szymanowska. The years 1823–1824 in Marienbad and Weimar, in: Germano-Slavica. A Canadian journal of Germanic and Slavic comparative studies, Band 4, Nr. 6 (Herbst), Waterloo, Ontario 1984, S. 321–330

Johannes Urzidil: Goethe in Böhmen (1932/1962), Zürich, München, 3. Auflage 1981

Józef Mirski: Maria Szymanowska 1789-1831. Album. Materiały biograficzne, sztambuchy, wybór kompozycji, Krakau 1953

Maria Iwanejko: Maria Szymanowska, Krakau 1959

Gustav Karpeles: Goethe in Polen. Ein Beitrag zur allgemeinen Literaturgeschichte, Berlin 1890

Gustav von Loeper: Zu Goethes Gedichten „Trilogie der Leidenschaft“, in: Goethe-Jahrbuch, herausgegeben von Ludwig Geiger, Band 8, Frankfurt am Main 1887, Seite 165-186

 

Online:

Webseite der Société Maria Szymanowska, Paris: http://www.maria-szymanowska.eu/index-de (mehrere Sprachen)

Jacqueline Leung: Maria Szymanowska – The Polish Pioneer, in: Revisiting History, Band 5, Frühjahr 2017, auf: Piano Performer Magazine (mit Musikbeispiel), http://magazine.pianoperformers.org/revisiting-history-maria-szymanowska-the-polish-pioneer/

Maria Stolarzewicz: Goethe‘s connections with Maria Szymanowska and her sister Kazimiera Wołowska. Several comments, 2014, http://www.maria-szymanowska.eu/pub/files/Maria_Stolarzewicz.pdf

Danuta Gwizdalanka: Maria Szymanowska, auf: MUGi Musik und Gender im Internet (Hochschule für Musik und Theater Hamburg), https://mugi.hfmt-hamburg.de/old/A_lexartikel/lexartikel.php%3Fid=szym1789.html

Jasmin Jablonski: Szymanowska, Maria (Europäische Instrumentalistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts, 2011), auf: Sophie Drinker Institut für musikwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung, https://www.sophie-drinker-institut.de/szymanowska-maria

Sylwia Zabieglińska: Maria Szymanowska 1789-1831 (englisch/polnisch), auf: Dziedzictwo Muzyki Polskiej, https://portalmuzykipolskiej.pl/en/osoba/6777-Maria-Szymanowska

(Alle hier und in den Anmerkungen zitierten Links wurden zuletzt im September 2021 aufgerufen.)

Mediathek
  • Abb. 1: Szymanowska, 1816

    Zofia Woyno (um 1810-1830): Porträt der Pianistin Maria Szymanowska, Miniatur, 1816. Gouache über Bleistift auf Papier, 14 x 10,4 cm, Inv. Nr. Min.628 MNW, Nationalmuseum Warschau/Muzeum Narodowe w Wa...
  • Abb. 2: Serenade für Anton Radziwiłł, 1819

    Marie Szymanowska: Serenade für Klavier und begleitendem Violoncello, komponiert für und gewidmet seiner Hoheit, dem Prinzen Anton Radziwiłł, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1819, Nationalbibliothek War...
  • Abb. 3: Marienbad um 1815

    Der Kreuzbrunnen zu Marienbad, um 1815. Aus: Franz Satori, Oesterreichs Tibur, oder Natur- und Kunstgemählde aus dem oesterreichischen Kaiserthume, Wien 1819, Frontispiz, Österreichische Nationalbibli...
  • Abb. 4: Marienbad um 1820

    Ansicht von Marienbad, um 1820. Kupferstich, 8 x 13 cm. Titelblatt zu: Liste der angekommenen respectiven Brunnengäste zu Marienbad im Jahre 1823, Eger 1823
  • Abb. 5: Marienbad um 1820

    Ludwig Ernst von Buquoy (1783-1834): Ansicht von Marienbad, um 1820. Kupferstich, koloriert, 28,5 x 44 cm, Privatbesitz
  • Abb. 6: Goethe, 1823

    Orest Adamowitsch Kiprensky (1782-1836): Porträt Johann Wolfgang von Goethe, Marienbad 1823. Lithographie nach einer Bleistiftzeichnung
  • Abb. 7: Goethe, 1823/26

    Henri Grévedon (1776-1860): Porträt Johann Wolfgang von Goethe, Paris 1826. Nach einer Zeichnung von Orest Adamowitsch Kiprensky (1782-1836) von 1823, Lithographie, Inv. Nr. his-Port-G-0077, Universit...
  • Abb. 8: Goethe, 1828

    Joseph Karl Stieler (1781-1858): Johann Wolfgang von Goethe, 1828. Öl auf Leinwand, 78 x 63,8 cm, Inv. Nr. WAF 1048, Bayerische Staatsgemäldesammlungen – Neue Pinakothek München
  • Abb. 9: Brösigke’sches Haus, um 1821

    Unbekannt: Brösigke’sches Haus (Palais Klebelsberg) in Marienbad, um 1821, kolorierte Lithographie, 44,9 x 65,1 cm, Klassik Stiftung Weimar
  • Abb. 10: Ulrike von Levetzow, um 1821

    Unbekannt: Bildnis Theodore Ulrike Sophie von Levetzow, um 1821. Pastell, 43,4 x 33,5 cm, Klassik Stiftung Weimar
  • Abb. 11: Szymanowska, 1825

    Aleksander Kokular: Bildnis Maria Szymanowska/Portret Marii Szymanowskiej, 1825. Öl auf Leinwand, Inv. Nr. K.839, Muzeum Literatury im. Adama Mickiewicza, Warschau
  • PDF 1: Liste der Marienbader Kurgäste, 1823

    Liste der angekommenen respectiven Brunnengäste zu Marienbad im Jahre 1823, Eger 1823 (Titelblatt fehlt), Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar
  • PDF 2: Kurjer Warszawski, 1822

    Nowości Warszawskie. Kurjer Warszawski, Nr. 77, 31. März 1822, Seite 1, Biblioteka Jagiellońska w Krakowie
  • PDF 3: Kurjer Warszawski, 1823

    Nowości Warszawskie, in: Kurjer Warszawski, Nr. 183, 3. August 1823, Seite 1, Spalte 2, Biblioteka Jagiellońska w Krakowie
  • PDF 4: Allgemeine musikalische Zeitung, 1824

    Nachrichten. Leipzig, vom Michael 1823 bis zum März 1824, in: Allgemeine musikalische Zeitung, Nr. 13, 25. März 1824, Spalte 204, Münchner Digitalisierungs-Zentrum
  • PDF 5: Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, 1823

    Madam Szymanowska – zu Weimar. Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, Jahrgang 38, Nr. 109, November 1823, Seite 889-892, Klassik Stiftung Weimar
  • PDF 6: Kurjer Warszawski, 1824

    Nowości Warszawskie, in: Kurjer Warszawski, Nr. 14, 16. Januar 1824, Seite 1, Spalte 1 f., Biblioteka Jagiellońska w Krakowie