Marek Żebrowski: Mein deutsches Abenteuer
Bei der nächsten Tournee, nach einer Probe in der Marburger Stadthalle, stattete ich meinem Künstlerfreund Bernd wie immer einen kurzen Besuch ab. Nachdem wir einen Tee getrunken und ein wenig geplaudert hatten, begab ich mich zurück zu meinem Auto, das gegenüber seiner Wohnung an der Uferstraße stand. Dabei fiel mir eine Dame mittleren Alters auf, die den Bürgersteig am Flussufer entlanglief. Ihr blondes Haar war präzise geflochten, sie trug einen traditionellen, grünen hessischen Rock, eine üppig bestickte Jacke aus weißer Wolle und in den Händen zwei randvolle Einkaufstaschen. Ich kam auf sie zu und bot ihr an, sie ein Stück mitzunehmen. Anfangs lehnte sie es strikt ab, gab dann schließlich aber doch nach. Als wir bei ihr angekommen waren und ich ihr geholfen hatte, die Einkaufstaschen hochzutragen, fragte sie mich nach meinem Namen. Ich stellte mich also vor und sie sagte prompt, den Namen hätte sie kürzlich irgendwo gelesen. Ich erwiderte: „Möglicherweise auf den Plakaten, die in der ganzen Stadt für mein anstehendes Recital werben.“ Auch sie stellte sich vor: „Mein Name ist Adelheid von Geyr.“ Und fügte hinzu: „Ich liebe Musik und würde Ihr Recital in der Stadthalle sehr gerne besuchen. Ich bringe auch ein paar Bekannte und Verwandte mit.“
Einige Tage später, als ich nach dem Konzert die Marburger Fans empfing, sah ich am Ende der Schlange Frau von Geyr, zufrieden lächelnd, umgeben von einer Gruppe Begleiter:innen unterschiedlichen Alters. Die Älteste unter ihnen war ihre zierliche Schwiegermutter, die sich mir als Ursula Geyr von Scheppenburg, Freiin von Rheinbaben vorstellte. Im Gespräch erwähnte sie recht bald, dass sie viele, viele Jahre zuvor mit einem Oberst Michał Żebrowski befreundet war, der damals in einem benachbarten Gutshof im heutigen Nordpolen wohnte. Sie pflegten sich zwischendurch zum Bridge zu treffen, mal bei ihr zu Hause, mal bei ihm. „Ist das zufällig ein Verwandter von Ihnen?“, fragte sie schnell. Tatsächlich, Michał Żebrowski war der jüngere Bruder meines Großvaters, den ich leider nie kennenlernen durfte, da er 1949 nach der Rückkehr aus einem Kriegsgefangenenlager in Deutschland verstorben war.
Seither lud mich Frau von Geyr des Öfteren zu einem Sonntagstee in ihre äußerst geschmackvolle, im Biedermeierstil eingerichtete Marburger Wohnung ein, die voller alter Gemälde, Grafiken und anderer wunderschöner Kunstgegenstände war. Ihre adeligen Bekannten und Verwandten versammelten sich bei diesem Anlass, um gemeinsam im Wechsel Gedichte der deutschen sowie der französischen Romantik vorzulesen. Anschließend trank man Tee und ließ sich die breite Auswahl an Kuchen schmecken, die auf stilvollen Porzellantellern, auf gemangelten Leinentüchern dargereicht wurden. Der Wind streichelte sanft die Musselinvorhänge in den halboffenen Fenstern; der sonnenverwöhnte Garten im Schatten des alten Kirschbaumes bereitete den hypnotisierenden Versen, die sacht durch Frau von Geyrs Salon flossen, die perfekte Kulisse. An diesen magischen Sonntagnachmittagen saßen die Gäste wie gebannt da und ließen sich von dem zarten Rhythmus der phantasieanregenden Gedichte in eine vergangene Zeit zurückversetzen.