Kollegialität und Solidarität bei Opel in Bochum. Erinnerungen von Bochumer Opelanern mit transnationalem Hintergrund
Geopolitische Konflikte im 19. Jahrhundert, zwei Weltkriege im 20. Jahrhundert und schließlich der Zerfall der kommunistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa zum Ende der 1980er Jahre sind die Ursachen dafür, dass Familien durch immer neue Grenzziehungen zwischen Polen und Deutschland über viele Generationen hinweg unterschiedliche Nationalitäten als Deutsche, als Polen oder als Tschechen zugeschrieben wurden. Diese Zuschreibungen vollzogen sich, obwohl die Mehrheit der Familienmitglieder ihren Heimatort in der Regel selten verlassen hatte, durch banale Grenzverschiebungen. Währenddessen migrierten Generationen von vornehmlich männlichen Haushaltsmitgliedern aus den Grenzregionen in das – seit dem 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung – rasch wachsende Ruhrgebiet.
So ereignete es sich, dass der Urgroßvater als Deutscher aus Oberschlesien vor dem Ersten Weltkrieg temporär in das Ruhrgebiet – also innerhalb des Deutschen Reiches – hin- und zurückwanderte, um in den Wintermonaten im Bergbau und während des Sommers wieder auf den heimischen Feldern zu arbeiten. Der Großvater arbeitete in der Zeit der Weimarer Republik dann als Pole in den Unternehmen der Montanwirtschaft und der Vater bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges dann wiederum als Deutscher – neben polnischen und osteuropäischen Zwangsarbeitern – auf den Schachtanlagen und in den Rüstungsschmieden des Ruhrgebietes. Der Sohn nahm schließlich in den 1960er Jahren als polnischer Arbeitsmigrant eine Beschäftigung bei Opel in Bochum auf und führte schließlich die Familie aus Oberschlesien in Bochum zusammen. Seine im Ruhrgebiet geborenen Kinder schafften den Aufstieg durch Bildung, machten Abitur und studierten an der Ruhr-Universität, gründeten Familien, arbeiten heute als Akademiker in der Main-Rhein-Region und verreisen in den Ferien allesamt immer wieder gern nach Schlesien. Bis zum Abschluss des Oder-Neiße-Grenzvertrages im Jahre 1990 stellten Zugewanderte aus Polen, insbesondere aus der Grenzregion des ehemals deutschen Oberschlesiens, die größte Gruppe der Aussiedler im Ruhrgebiet dar. Ihre Lebens- und Arbeitswelten bewegen sich bis heute im transnationalen Raum zwischen der Integration in den deutschen Arbeits- und Lebensalltag, tiefer kultureller Verbundenheit mit der Heimatregion Oberschlesiens und ihrer überwiegenden Sozialisierung in Polen. Ihre Nationalität – ob Deutsche, Deutscher oder Polin, Pole – war über Jahrhunderte lediglich das Ergebnis äußerer Zuschreibungen und ein wechselnder Eintrag in den Passdokumenten. Ihre Identitäten waren vielmehr transnational geprägt.
Dieses Verständnis von transnationalen Räumen und hierin entwickelten Identitäten als ein Bündel von Phänomenen, die aus sozialen Interaktionen über Grenzen von Nationalstaaten hinweg resultieren, ist entscheidend für die Charakterisierung von Mitarbeiter*innen mit grenzüberschreitenden, polnisch-deutschen Wurzeln bei Opel Bochum. Die Opel-Werke selbst stellen sich schließlich als transnationale, soziale Räume dar, die besondere soziale Strukturen der Kollegialität herausbildeten, durchaus Konflikte zwischen unterschiedlichen Beschäftigungsgruppen schufen, aber auch Solidarität zwischen den Kolleginnen und Kollegen im Kontext des Betriebes erzeugten, in dem schließlich die bloße formale Zuschreibung einer nationaler Herkunft gegenüber den alltäglichen Erfahrungen von Kollegialität im gemeinsamen sozialen Raum des Betriebes an Bedeutung verlor.