Helena Bohle-Szacki
Die Situation beginnt sich 1944 zu verschlechtern. Eines Tages sucht die Gestapo die Familie auf und nimmt die 16-jährige Helena zu einem Verhör mit. Sie fragen sie nach ihrer Mutter, die sich die ganze Zeit in einem Versteck hinter einem Schrank in der Wohnung aufhält, wo Lilka mit ihrem Vater wohnt. Das Mädchen wird festgenommen, ohne dass dafür ein Grund bekannt wird. Vielleicht wurde sie als Halbjüdin denunziert. Ihr völlig aufgelöster Vater versucht, jegliche Hebel in Bewegung zu setzen, um sie aus dem Gefängnis freizubekommen. Ohne Erfolg. Einen Monat später wird Helena mit einer Gruppe von etwa 400 Frauen in einem Viehwaggon in das Konzentrationslager Ravensbrück gebracht. Sie wird als „Asoziale“ eingestuft und muss einen gelb-schwarzen Winkel als Zeichen tragen. Zu jener Zeit sind in diesem größten deutschen Konzentrationslager für Frauen etwa 30.000 (Frauen) interniert. Sie leiden an Hunger, Krankheiten und Läusebefall.
Der Lagerrealität zum Trotz beginnt Helena in Ravensbrück, Szenen, Heiligenbilder und kleine Porträts ihrer Leidensgenossinnen zu zeichnen. Sie malt auch die Muttergottes – zart, mädchenhaft, mit langen Wimpern und einer hübschen Nase. Die Zeichnung übersteht den Krieg, und ihre Schöpferin wird Jahre später auf diese Art und Weise Modelle für ihre Modekollektionen für die größten Modehäuser skizzieren. Sie selbst wird – ihrem unvergleichbaren Sinn für Humor entsprechend – ihr Lagerbildnis der Muttergottes später mit Pola Negri vergleichen.
In Ravensbrück meldet sich Helena freiwillig für den nächsten Transport. Sie soll in ein Außenlager des KZ-Flossenbürg in Bayern kommen und dort bei der Waffenproduktion arbeiten. Aus unbekannten Gründen wird sie dort der Kategorie politische Gefangene zugeordnet und erhält einen neuen Aufnäher für ihre Kleidung – ein rotes Dreieck. Im April 1945 wird das Konzentrationslager evakuiert. Für die internierten Frauen beginnt ein Todesmarsch zum Außenlager Zwodau (Svatava, heute Tschechische Republik). Dort werden sie am 7. Mai von den Amerikanern befreit. Nach der Befreiung macht sich Helena auf in die Heimat, um ihre Eltern zu suchen.
Maria Fanny und Alexander Bohle wohnen nach Kriegsende vorübergehend in Łódź. Die Rückkehr der Tochter betrachten sie als ein Wunder. Helena leidet an Tuberkulose und anderen Beschwerden, überdies muss sie die traumatischen Erlebnisse verarbeiten. Es wird einige Zeit vergehen, bis sie wieder in einem Bett schlafen kann und nicht mehr auf dem Fußboden übernachtet. In den Erlebnissen der Lagerhaft sind auch die Gründe für die späteren gesundheitlichen Probleme zu suchen – eine Herzkrankheit, Unfruchtbarkeit und abnehmende Seestärke.
Im Jahr 1947 wird Lilka zum Studium an der Hochschule für bildende Künste zugelassen. Sie studiert Grafik, unter anderem beim berühmten Maler Władysław Strzemiński, der großen Einfluss auf ihr künstlerisches Schaffen haben wird. Kurze Zeit später geht sie im Alter von 19 Jahren mit dem wesentlich älteren Arzt Benedykt Winer zum ersten Mal die Ehe ein: „Meine erste Ehe war nur von unheimlich kurzer Dauer. Vielleicht wollte ich nach all den schlimmen Erlebnissen, Krankheiten und der Zeit im Lager etwas nachholen. Irgendetwas in mir war unterdrückt (worden), dann aber kam es allmählich zum Vorschein. Plötzlich begann ich damit, alles nachzuholen, was mir genommen worden war.“[2] Kurz darauf lernt sie ihren zweiten Ehemann, Jerzy Urbanowicz, kennen.
Die Freude über die wiedererlangte Jugend endet zu Beginn der 1950er Jahre, als es zur nächsten Familientragödie kommt. Der von der Staatssicherheit (Urząd Bezpieczeństwa, UB) festgenommene Vater stürzt sich aus unbekannten Gründen im Arrest aus dem Fenster. Zu seinem Begräbnis kommen zahlreiche Trauergäste – er war überaus bekannt und geschätzt in Łódź. Nach diesem Ereignis reist Helenas Mutter, die sich mit dem Tod des Ehemannes nicht abfinden kann, aus Polen aus. Als Ziel ihres Exils wählt sie zunächst Israel, später zieht sie nach Brüssel.
[2] Czerwiakowska, Ewa: Między Łodzią i Warszawą. Z pamięci, in: Różyc, Marcin (Hg.): Helena Bohle-Szacka. Lilka, Białystok 2017, S. 318.