Helena Bohle-Szacki
Helena Bohle-Szacka kommt am 27. Februar 1928 in Białystok als Tochter einer polnischen Jüdin und eines Deutschen zur Welt. Eheverbindungen dieser Art sind damals nichts Ungewöhnliches – das Białystok der Zwischenkriegszeit ist ein Schmelztiegel der Kulturen, wo Juden, Polen, Deutsche, Russen, Weißrussen und Tataren nebeneinander leben. Helena Bohle-Szacka wird ihre Heimatstadt aufgrund der dort herrschenden Atmosphäre, mit vielen verschiedenen Identitäten und Traditionen später ein „multikulturelles polnisches Haus“ nennen. „Entgegen dessen, was man sich später erzählte, herrschte in diesem Gemenge zahlreicher Nationalitäten in gewisser Weise eine Symbiose. So etwas schafft eine bestimmte Atmosphäre, es ist wie ein Duft, der in der Luft liegt und von dem die Menschen durchdrungen werden.“[1]
Die kleine Helena wächst im Geiste der Toleranz auf. Obgleich evangelisch getauft, begeht sie häufig katholische Feiertage. Die Familie ihrer Mutter Maria Fanny, geborene Tobolska, ist vollständig assimiliert und pflegt die jüdischen Traditionen nicht. Davon zeugt beispielsweise die Tatsache, dass sich Helenas Mutter und ihr erster Ehemann kirchlich (evangelisch) trauen lassen. Die Ehe geht jedoch schnell in die Brüche und Maria Fanny, die mit der älteren Schwester Helenas, Irena, schwanger ist, lernt Alexander Bohle kennen, einen Absolventen der Akademie der Schönen Künste in Berlin, der in seiner Geburtsstadt Białystok als Vertreter ausländischer Textilunternehmen tätig ist. Helena übernimmt die künstlerischen Fähigkeiten von beiden Elternteilen – ihre Mutter ist Absolventin der Klavierklasse des Moskauer Konservatoriums.
Die ersten elf Lebensjahre von Lilka (so wird Helena von Freunden und Bekannten genannt) verstreichen sorgenfrei. Die Familie lebt in einem Holzhaus an der Jurowiecka-Straße. Der Familie geht es nicht schlecht – sie beschäftigt ein Kindermädchen und eine Haushaltshilfe. Hinter dem Haus befindet sich ein großer Garten – hier verbringt die kleine Helena ihre Zeit am liebsten. Die Kinder unternehmen Ausflüge nach Supraśl, im Sommer erholt sich die Familie am Meer. Zu Hause wird Polnisch gesprochen, es sei denn, die Eltern wollen nicht, dass die Kinder ein Gespräch mitbekommen, dann wechseln sie ins Russische. Jiddisch spricht Helenas Mutter gar nicht. Dagegen beherrscht ihr Vater, der zahlreiche geschäftliche Kontakte zu Juden unterhält, diese Sprache ganz passabel.
Die idyllische Kindheit wird durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jäh unterbrochen. Infolge des Ribbentrop-Molotow-Paktes wird Białystok der sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen. Die Schreckenszeit beginnt allerdings erst, als 1941 die Nationalsozialisten in die Stadt einmarschieren. Im Juli wird ein Ghetto eingerichtet, in das Helenas Mutter und Schwester Irena eingewiesen werden. Kurze Zeit später gelingt es ihnen, sich auf die „arische” Seite der Stadt durchzuschlagen und sich zu verstecken. Während des Versuchs, das Versteck zu wechseln, wird Irena 1941 oder 1942 von der Gestapo ermordet.
Helena gehört als Halbjüdin, die zudem evangelisch getauft wurde, zur sogenannten Gruppe „Mischling ersten Grades“, was ihr anfangs Schutz bietet. Ihr Vater Alexander unterzeichnet die Volksliste und engagiert so sehr er kann, Juden zu helfen, wovon spätere Berichte von Überlebenden zeugen.
[1] Das ausführliche Interview mit Helena Bohle-Szacki führte Ewa Czerwiakowska im Jahr 2005. Einige Jahre später wurde es in der Zeitschrift „Słowo/Das Wort” abgedruckt (Nr. 82, 2009).