Polenbilder in den deutschen Lebenswelten

Karikatur in der Zeitschrift Kladderadatsch,1919
Karikatur in der Zeitschrift Kladderadatsch,1919

Boshaft könnte man die Autorin fragen, ob sie sich schon einmal mit einer schlecht bezahlten polnischen Krankenschwester unterhalten hat oder bei einer jungen Familie im Warschauer Stadtteil Praga zu Gast war, die sich zu viert einem Raum teilt? Ernsthaft stellt sich jedoch die Frage, ob hier nicht eine gut gemeinte positive Berichterstattung in den Medien kontraproduktiv wirkt, denn die negativen Berichte von Migranten, Pendlern und Saisonarbeitern in Deutschland über das Leben in Polen stehen dazu in einem krassen Gegensatz, der bei vielen Lesern und Zuschauern gewiss die Frage nach der Wahrhaftigkeit und Ausgewogenheit der Medien aufwerfen dürfte.

Kritisches Beobachten und gut begründete Kritik an den Nachbarn sind daher sicher oft ein größerer Freundschaftsdienst als verzuckerte Komplimente, selbst wenn sich ein Land, das sich traditionell eher überheblich bis abschätzig über Polen geäußert hat, immer noch schwer damit tut. Umgekehrt reagiert man in Polen auf Kritik aus Deutschland oft mimosenhaft und mit Abwehrreflexen, die eher von mangelndem Selbstbewusstsein zeugen. Das zeigte sich zum Beispiel, als im Sommer des Jahres 2015 die Flüchtlingskrise eskalierte: Während Deutschland bereit war, viele hunderttausend Verfolgte und Entwurzelte aus den Kriegsgebieten dieser Welt aufzunehmen, sperrte sich Polen gegen Zuwanderung. In Polen – und anderswo – warf man Deutschland moralischen Imperialismus und ökonomische Erpressung der Staaten Ostmitteleuropas vor, während die deutsche Öffentlichkeit die Reaktionen jenseits von Oder und Neiße mit Unverständnis zur Kenntnis nahm und dort Neonationalismus, katholischen Fundamentalismus oder provinziellen Egoismus verortete. Da schienen sie wieder hervorzubrechen, jene Spuren aus längst vergangen geglaubter Vergangenheit, die im gemeinsamen deutsch-polnischen Haus gespenstergleich im Keller lauern und nur darauf warten, bedient und gefüttert zu werden. 

Was lässt sich daraus nun lernen? Die Wahrnehmung von Spuren und das Entstehen von Bildern in den Köpfen ist trotz vieler Überlagerungen sicher zu einem Gutteil generations-, bildungs- und einkommensabhängig. Es macht eben einen Unterschied, ob man als Schülerin oder Student mit seinen polnischen Freunden auf Facebook, Tumblr oder Instagram genau so vernetzt ist wie mit Menschen aus allen möglichen anderen Winkeln der Welt, ganz selbstverständlich auf polnische Rockfestivals fährt, Youtube den nationalen Fernsehkanälen vorzieht und nur wenig bis gar nichts mit Namen wie Otto von Bismarck oder Gustav Freytag anfangen kann. Oder ob man regelmäßig Veranstaltungen zur deutsch-polnischen Geschichte und Kultur besucht, sich neben die vielen grau- und weißbehaarten Herrschaften setzt und zustimmend murmelnd den Kopf wiegt, wenn die neueste Übersetzung des Romanciers und Osteuropa-Erklärers Andrzej Stasiuk gefeiert oder die letzte Bildungsreise nach Galizien diskutiert wird. Oder ob man Polinnen und Polen als die permanten „Helfer“ wahrnimmt, die bei „uns“ für wenig Geld putzen oder die alternde Bevölkerung pflegen, weil sie dadurch wenigstens die Familie zu Hause ernähren können, was mit ähnlicher Arbeit in Polen kaum möglich ist, es sei denn, man arbeitet in Kurhäusern und verwöhnt gut betuchte deutsche Rentner vor Ort. Scheinbar drei Welten mit je eigenen Bildern, Kommunikationskanälen und Rezeptionsritualen, dennoch nicht voneinander abgelöst, sondern aufgehoben in einem sehr beweglichen Kosmos des Austauschs, an dem Arbeitsvermittler, kleine Handwerkerfirmen, Tourismusbüros, Institute, Kulturforen, Universitäten, Kommissionen und Vereine als „Stereotypenbrecher“ – jeder auf seine Art – seit Jahren mitwirken. 

Ganz ohne Stereotype ist Nachbarschaft gerade bei dem nach wie vor vorhandenen Wohlstandsgefälle dennoch nicht denkbar. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht, gerade, wenn man schon so lange „Tür an Tür“ lebt und die Marotten und Eigenheiten des jeweils anderen bis zum Überdruss kennt. Um nicht an Phrasen zu ersticken, war und ist deshalb das offene Gespräch auf Augenhöhe wichtig, in dem alle Themen möglichst vorurteilsfrei und ohne Minderwertigkeits- oder Überlegenheitsgefühle an- und ausgesprochen werden können – ganz ohne falschverstandene politische Korrektheit und ohne bei jedem zweiten Satz beleidigt zu sein. Nur dadurch lassen sich voreilige Spureninterpretationen vermeiden, eingefahrene Sichtweisen abbauen und Bilder im Kopf „updaten“. Bestes Mittel dazu scheinen nach aller Erfahrung direkte Begegnungen zu sein, so wie sie in den vergangen zweieinhalb Jahrzehnten zunehmend stattgefunden haben. Es steht zu hoffen, dass die dadurch entstandenen positiven Bilder – trotz kultureller und wirtschaftlicher Unterschiede – die vielen oben aufgezählten negativen Bilder einst gänzlich verdrängen werden. Dass dies möglich ist, hat sehr schön ein deutscher Jugendlicher bei einem Schüleraustausch bewiesen, als er auf die besorgte Nachfrage seiner Mutter, ob es ihm bei der polnischen Gastfamilie auch wirklich gut gehe, leicht genervt ins Telefon rief: „Mensch, Mama! Die leben hier besser als wir ...!“  

 

Matthias Barełkowski, Peter Oliver Loew, Juni 2018