Polenbilder in den deutschen Lebenswelten

Karikatur in der Zeitschrift Kladderadatsch,1919
Karikatur in der Zeitschrift Kladderadatsch,1919

Würde man wahllos Deutsche danach fragen, was ihnen beim Wort „Polen“ so in den Sinn kommt, so käme in etwa folgende „wilde Sammlung“ von Stereotypen und Assoziationen heraus: Polen klauen, können nicht parken, sind faul und chaotisch, sehr emotional, individualistisch, ultrakatholisch, antisemitisch, verlogen, haben Minderwertigkeitskomplexe und Überlegenheitsgefühle, arbeiten schwarz und billig in Deutschland, haben gefährlich verführerisch-schöne Frauen. Außerdem verlieren sie immer im Fußball. „Der Pole“ ist in erster Linie Handwerker oder Bauarbeiter – und früher war er der adlige Prasser –, „die Polin“ ist Putzfrau oder Pflegerin, insgesamt sind es deutsche Arbeitsplätze gefährdende Armutsmigranten, sie sind ungemein fleißig und haben ein „goldenes Händchen“. Man spricht von „polnischer Wirtschaft“ und meinte das früher als Synonym für heruntergekommene Zustände, heute aber positiv als Lob anspruchsloser Strebsamkeit. Polnisches Essen ist fett, schwer und langweilig, aber auch deftig und lecker, Polen schauen gerne tief ins Wodkaglas und brauen immer besser Bier, buckeln bei Deutschen und treten die Ukrainer, sie sind nationalistisch, unterscheiden ständig zwischen „wir“ (die Guten) und „die anderen“ (die Bösen), sind unglaublich gastfreundlich und herzlich, flexibel, spontan und wenig mäklig, humorvoll. Allerdings ist ihre Sprache schwierig, ihre Namen sind für Deutsche unaussprechbar, aber sie haben Solidarność, Lech Wałęsa, „Kuba“ Błaszczykowski, Robert Lewandowski, Papst Johannes Paul II. und einen Klavierkomponisten mit dem wunderschön einfach über die Lippen gehenden Namen Chopin ...

Offensichtlich hängen viele dieser Spuren und Bilder in den Köpfen mit sozialem und materiellem Gefälle zusammen. Dieses Gefälle führt zu Migration, denn warum wandern, wenn es daheim besser ist als anderswo? Die wenigsten Polinnen und Polen siedelten schließlich aus kulturellem Interesse in deutsche Länder über, sondern aus materieller Not, um für geringen Lohn Arbeiten zu verrichten, für die man wenig Landes- und Sprachkenntnisse, wohl aber zwei Hände und oft auch zwei Beine benötigt. Die Arbeitsmigranten in die Industriezentren der Kaiserzeit, vor allem ins Ruhrgebiet (Ruhrpolen), die Saisonarbeiter in der ostelbischen Landwirtschaft, die ausgebeuteten Zwangsarbeiter im Ersten und besonders im Zweiten Weltkrieg, später dann Schwarzarbeiter auf dem Bau, Heerscharen polnischer Putzfrauen und Erntehelfer auf Spargel- und Erdbeerfeldern, bis hin zu den hunderttausenden polnischen Pflegekräften in den Haushalten deutscher Rentner – sie alle brachten Fremdheit in vielfach noch geschlosse deutsche Milieus, wirkten verstörend, lösten ganz selbstverständliche Abwehr- oder Distinktionsbestrebungen aus („die Polacken“), mit der Zeit aber trugen sie auch zum Wandel der Spuren in den Köpfen bei: Galten sie lange als ungeliebte Konkurrenten am Arbeitsmarkt, als Vertreter einer geburtenstarken Nation im Osten, die ihren demographischen Überschuss im Westen ablud, gar als „Sozialschmarotzer“, so sind Polinnen und Polen in Deutschland – nicht zuletzt durch den EU-Beitritt Polens und die damit einhergehende rechtliche Gleichstellung – hunderttausendfach zu unersetzlichen Helfern in Haushalt und Garten, auf Feldern und in den Betrieben geworden: Aus „Faulheit“ wurde „Fleiß“, aus „Schmutz“ wurde „Eleganz“, aus „Fremdheit“ – „Vertrautheit“, vor allem auch deshalb, weil Polen von allen Zuwanderern nach Deutschland sicherlich zu denjenigen gehören, die sich am wenigsten von der Mehrheitsgesellschaft abheben. Insofern hat die enorme gesellschaftliche Verflechtung von Deutschen und Polen massiv zur Veränderung jener „Kopfspuren“ geführt: Die alte Dame im Odenwald (oder auch Schwarzwald, Sachsenwald usw.), die nie viel von Polen hielt, deren Wissen über Polen aus wenigen unreflektierten Versatzstücken der NS-Propaganda ihrer Elterngeneration bestand sowie aus den Ressentiments ihrer aus Schlesien vertriebenen Nachbarn, diese alte Dame – deren einziger Sohn in London lebt – ist nun vollends auf die bei ihr wohnende polnische Pflegekraft angewiesen. Und siehe da, weil diese mittlerweile sehr passabel Deutsch spricht, kann sie sich mit ihr über Gartenarbeit und die jüngsten Ereignisse in Europas fürstlichen Familien austauschen und nimmt auch eng an allen Familiengeschehnissen im fernen Polen Anteil. Soviel Abbau von Stereotypen leistet kein Geschichtsbuch.

Vorurteile werden am besten durch eigenes Erleben konterkariert, zumal dann, wenn die großen nationalen Meistererzählungen – etwa die antipolnischen Phantasien im wilhelminischen Kaiserreich – an Bedeutung verloren haben: Ein Gustav Freytag, der der jungen deutschen Nation mit seinem gegen Polen und Juden gleichermaßen eifernden Roman Soll und Haben Halt und Selbstvertrauen zu geben versprach, ist heute jenseits germanistischer Seminare weitgehend vergessen. Man kann mit diesem Roman aber vieles erklären: Er schildert eine Lebenswelt, in der sich eine deutsche „Herrenklasse“ in einer polnisch geprägten Umgebung zu behaupten sucht – Erinnerung daran, dass auch die Migrationen von Deutschen nach Osten, in mehrheitlich polnischsprachige Gebiete, Bilder geprägt haben: Da sie meist als Modernisierer, ja als Kolonisatoren kamen, entstanden gleichsam naturgemäß Stereotype über die angetroffene Bevölkerung – Polen, Juden und andere –, mit der man sich zudem erst einmal gar nicht verständigen konnte. Wenn dann noch die Verwaltung ins Spiel kam, widerwillig in den preußischen Osten versetzte Beamte mit zu scheitern drohender Karriere, dann erhielten Stereotype geradezu behördlichen Charakter: „Der Pole macht mal wieder Probleme.“ Im Zweiten Weltkrieg war schließlich zu besichtigen, wozu dieser oft gedankenlose Umgang mit dem (vermeintlich) Fremden, der Wunsch nach ungestörter Homogenität führen konnte. 

Und damit wären wir schon in der Geschichte angelangt: Gelegenheit, um sich anhand einiger Beispiele zu vergegenwärtigen, wie sehr sich die Spuren, die das Thema „Polen“ in deutschen Köpfen hinterlassen hat, im Laufe der Zeit verändert und überlagert haben. Dabei waren sie keineswegs nur durch Migrationserfahrungen bestimmt, sondern durch viele Ereignisse der Beziehungsgeschichte. Ältere „negative Spuren“ sind daher durchaus noch präsent, gerade, weil sie in Familien und Freundeskreisen über mehrere Generationen tradiert wurden. 

Lange waren die polnischen Spuren in deutschen Köpfen geprägt von gelegentlichen Begegnungen mit polnischer Adelskultur. Die orientalisch anmutenden Herren im Kontusch und mit merkwürdiger Haartracht wollten einem absolutistischen Herrscher wie Friedrich II. gar nicht gefallen: Seine antipolnischen Aussagen sind Legion und sein Begriff von „polnischer Wirtschaft“ als Synonym für Verlotterung prägte zwei Jahrhunderte. Reichsgründer Otto von Bismarck stand Friedrich dabei im 19. Jahrhundert in nichts nach: „Haut doch die Polen, daß sie am Leben verzagen, ich habe alles Mitgefühl der Welt für ihre Lage, aber wir können auch nichts dafür, daß der Wolf von Gott geschaffen ist, wie er ist, und man schießt ihn doch dafür tot, wenn man kann,“ schrieb er 1861 an seine Schwester.[1] So haben Persönlichkeiten, denen in preußisch-deutscher Geschichtserzählung eine große Rolle zukommt, eine antipolnische Seite, die heute in Deutschland allerdings oft ausgeblendet wird. 

Als deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg nach Russisch-Polen einmarschierten, hatten sie die Aussagen dieser beiden „Großhelden“ der deutschen Geschichte sicher noch aus dem Schulunterricht im Kopf und brachten sie mit dem in Verbindung, was sie vor Ort sahen: die oft schrecklich ärmlichen Lebensverhältnisse in den kleinen Städten, zumal wenn im Spätherbst die Wege schlammig und die Menschen verfroren waren. Dass es sich nicht selten um geschlossene jüdische Milieus handelte, um jiddischsprachige „Schtetl“, konnten die deutschen Landser kaum wissen – und ebensowenig konnten sie zwischen Ruthenen und Polen, zwischen Polen und Litauern unterscheiden. Alles in einen Topf geworfen ergab ein Bild vom „Polen“, das sich für Generationen festsetzte, bewusst oder unbewusst, und die markigen antipolnischen Sprüche preußisch-deutscher Staatslenker mit eigenem Erleben (oder mit eigenen Vermutungen) unterfütterten. 

 

[1] Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Band XIV/1:  Briefe 1822-1861, hrsg. von Wolfgang Windelband und Werner Frauendienst, Berlin 1933, S. 567.

Die neuen Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg, die den polnischen Staat wiedererstehen ließen, in Deutschland aber quer durch die politischen Parteien als Ergebnis eines „Schandfriedens“ bewertet wurden, der ausgerechnet „die Polen“ begünstigte, verstärkte diese Spuren nur noch. Die von der deutschen Politik gerne abschätzig „Saisonstaat“ bezeichnete benachbarte Republik überlebte zwar eine ganze Reihe von Saisonen, wurde dann aber 1939 erneut von deutschen – und sowjetischen – Truppen überrollt. Die nun einsetzenden deutschen Verbrechen sind in ihrer Monstrosität kaum darstellbar und haben tiefe Spuren in den Köpfen der Beteiligten, von Opfern, Tätern und Zeugen hinterlassen. Paradoxerweise kam es durch die zahlreichen polnischen Zwangsarbeiter, die in fast allen Dörfern und Städten des Reiches anzutreffen waren, zu so vielen direkten Kontakten zwischen Deutschen und Polen wie nie zuvor. Diese reichten emotional von Hass bis Liebe und hinterließen ihrerseits Spuren, an die man dann nach dem Krieg deutscherseits partout nicht mehr erinnert werden wollte. 

Prägend war nun vielmehr die Erzählung der zugunsten des neuen polnischen Staates aus den deutschen Ostgebieten vertriebenen Menschen und ihrer Verbände. Sie klagten über Jahrzehnte hin ihr antipolnisches Leid, inszenierten sich als unschuldige Opfer und bestimmten damit über längere Zeit den bundesdeutschen Polendiskurs: Die Polen waren die „Vertreiber“, also die Täter, während man über die Ursachen der Vertreibung beredt schwieg. Gesagt werden muss aber auch, dass es häufig kleinere, engagierte – und häufig landsmannschaftlich gar nicht organisierte – Gruppen der Heimatvertriebenen waren, die Kontakt nach Polen suchten. Sie gehörten zu den ersten, die nach dem Krieg persönlichen Austausch mit dem Nachbarland pflegten und hinfuhren, nicht selten viele Male. Mehr noch trifft dies sicher auf viele der zwei Millionen Aussiedler aus Polen zu, die in beiden Sprachen kommunizieren konnten und viel „zwischen den Welten“ unterwegs waren.

Trotzdem blieb Europas Mittlerer Osten im deutschen Wirtschaftswunder-Westen ein recht unverstandener Teil des Kontinents, jenseits des „Eisernen Vorhangs“ gelegen, von Armut geprägt, während man selbst nur allzu gern die Zeit vor 1945 vergessen wollte. Da man dabei gleichzeitig auch vergessen wollte, was Deutsche in und mit Polen angerichtet hatten, förderte dies die Konservierung alter „Spuren im Kopf“. Gleichzeitig schwadronierte in der DDR die SED von der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ und dem „polnischen Brudervolk“ und gestattete zeitweise den visafreien Reiseverkehr, der immerhin einigen Bürgern des zweiten deutschen Staates den Blick in ein Land mit größeren kulturellen und politischen Freiheiten als daheim erlaubte. Abgesehen von der unermüdlichen Arbeit einzelner Übersetzer wie Karl Dedecius, die versuchten, den gebildeten Deutschen literarische Spuren aus Polen näher zu bringen, waren es deshalb vor allem massenmediale Ereignisse, die Breschen in diesen Kontinent des Un- und Halbwissens schlugen. An vorderster Stelle steht hier gewiß die in den 1970er Jahren im bundesdeutschen Fernsehen ausgestrahlte US-amerikanische Fernsehserie „Holocaust“. Hier und in vielen anderen Filmen tauchte das Land Polen in erster Linie als Ort der Vernichtung von Juden in Ghettos und Lagern auf, wofür „Auschwitz“ zum Symbol geworden ist, während das Schicksal der nichtjüdischen Polen unter deutscher Okkupation kaum eine Rolle spielte. Deutlich wird dies etwa daran, dass lange Zeit Deutsche, wenn sie vom „Warschauer Aufstand“ hörten, automatisch an den Ghettoaufstand von 1943 dachten, während der nichtjüdische Aufstand von 1944, der zur vollständigen Zerstörung der Stadt durch die Deutschen und zum Tod von über 200.000 Menschen führte, kaum bekannt war. Angesichts dieses Nicht- bzw. Wenigwissens ist es eigentlich kaum verwunderlich, dass nachlässige Journalisten in Deutschland und sonstwo auf der Welt von „polnischen Konzentrationslagern“ schreiben, womit sie in Polen regelmäßig und zu Recht für größte Empörung sorgen: Natürlich waren es „deutsche Konzentrationslager“, wenn auch auf geraubtem polnischem Boden angelegt. Diese Empörung hat wiederum Rückwirkungen auf die deutsche Öffentlichkeit, die nun zu meinen glaubt, ihre polnischen Nachbarn seien nicht nur überempfindlich, sondern auch meganationalistisch – was neue Spuren, neue Bilder erzeugt.

Geradezu symptomatisch mutet hier der dreiteilige ZDF-Fernsehfilm „Unsere Mütter, unsere Väter“ von 2013 an, eine fiktionale Erzählung über das Schicksal junger Deutscher im Krieg. Während die deutschen Verbrechen an den Juden im Osten ausführlich thematisiert werden, wird der polnische Widerstand gegen die deutschen Besatzer nur sehr kurz behandelt und zudem als antisemitisch geprägt dargestellt. Abgesehen davon, dass das Drehbuch insgesamt recht absurd anmutet, wird an dem Film mit seiner hohen Einschaltquote deutlich, wie die Erinnerung an deutsche Verbrechen im östlichen Teil Europas in den letzten Jahrzehnten medial gewichtet wurde und welche „Konkurrenz der Opfer“ im „spurensichernden Gedenken“ so entstanden ist: Festgefügte Bilder im Kopf führen Spurensucher oft auf falsche Fährten. 

Wenn man den verschiedenen historischen Schichten polnischer Spuren in deutschen Köpfen nachgeht, so stößt man aber auch auf einige positive Beispiele: Die Polenbegeisterung von 1832 etwa, als der Durchzug der „geschlagenen Helden“ im Kampf gegen den russischen Zaren (Polendurchzug) von der liberalen Öffentlichkeit bejubelt wurde. Sie wird immer dann aus den Geschichtsbüchern hervorgeholt, wenn es etwas zu feiern gibt, sei es kommunistische Geistes- und Waffenbrüderschaft, seien es Versöhnung und gemeinsame Ziele (in Europa, in der Welt). Die gebetsmühlenartige Rückkehr zu derlei – gewiss rühmlichen und herausragenden – Erinnerungsritualen hat der Politikwissenschaftler Klaus Bachmann vor Jahren bereits „Versöhnungskitsch“ genannt. Dieser Kitsch hat natürlich auch damit etwas zu tun, dass das Repertoire positiv besetzter Bilder in der deutsch-polnischen Geschichte begrenzt ist und überlagert wird von Bildern der Konfrontation, der Feindschaft, des Entsetzens. Die Bildhaftigkeit spielt hier übrigens eine große Rolle: Während es vom Hambacher Fest, der großen liberalen Kundgebung Ende Mai 1832, keine authentische bildliche Darstellung gibt, auf der die Beteiligung von Polen sichtbar wird, herrscht an Schlachtengemälden und Kriegsfotografien aus der deutsch-polnischen Konfliktgeschichte kein Mangel. Als deshalb die DDR die Verbundenheit progessiver Traditionen in der deutschen und polnischen Vergangenheit hervorheben wollte, ließ man einen Maler auf der Grundlage zeitgenössischer Stiche kurzerhand ein Hambach-Gemälde anfertigen, auf dem stolz weiß-rot die polnische Fahne neben der Deutschen prangte, eine Darstellung, die es später bis auf eine bundesdeutsche Briefmarke schaffte ...

Diese Ambivalenz des Erinnerns prägt vieles im deutsch-polnischen Bereich. Johannes Paul II. etwa, der „polnische Papst“: Aus deutscher Warte erscheint er als Lordsiegelbewahrer katholischer Tradition, aber auch als Vertreter eines polnischen Traditionalismus, der wesentliche Teile politischer Kultur und kultureller Existenz unserer Nachbarn jenseits von Oder und Neiße zu prägen scheint. Immerhin hat er es vermocht, Sympathie für ein Land zu wecken, über das so viel Halb- und Nichtwissen, ja Nichtwissenwollen im Umlauf war. Die Solidarność, Polens große Freiheitsbewegung, ließ eine Welle der Bewunderung und Solidarität durch deutsche Lande rollen, gleichzeitig aber löste sie Unsicherheit aus: Da höhlte eine von einem schnurrbärtigen Elektriker geführte Gewerkschaftsbewegung den Ostblock von innen aus, würde das gutgehen? 

Immerhin haben sich Papst und Solidarność ein wenig über die allgegenwärtigen Bilder des Kriegs gelegt. Wenn sie aber dazu dienen, deutsch-polnische Geschichte nur noch in höchsten Tönen zu schildern und alles, was trennt, irritiert und ärgert, unter den Teppich zu kehren, dann ist Gefahr im Verzug: Denn längst nicht alles ist gold was glänzt, weder in Polen noch in Deutschland. Schwierigkeiten in der praktischen Zusammenarbeit – womit wir wieder in der Gegenwart angekommen wären – werden gerne ignoriert, anstatt fehlerhafte Strukturen zu hinterfragen. Diese Ignoranz trifft im Übrigen auch auf versteckte oder offene Armut als grenzüberschreitendes Phänomen zu. Deshalb stellt sich durchaus die Frage, ob man – wie Brigitte Jäger-Dabek – für die politische Bildung tatsächlich sonnig verbrämte Reiseführerprosa schreiben muss: „Warschau hat sich zu einer wahren Boomstadt wie aus dem Hochglanzmagazin entwickelt, die Investoren und Firmen aus aller Welt anzieht, nur geringe Arbeitslosigkeit kennt und Immobilienpreise wie in Westeuropa hat. [...] Erstaunt stellt man fest, dass die Menschen in den polnischen Metropolen sich inzwischen mit ähnlichen Problemen herumschlagen, wie in deutschen Großstädten: Suche nach bezahlbarem Wohnraum, gut bezahlte Jobs finden, Infrastrukturprobleme im Verkehrssektor. Dazu sind sie nicht fremdenfeindlich wie vermutet, sondern weltoffene Gastgeber, die selbst mitten in Warschau deutsche Fans mit wehender Deutschlandfahne umarmten.“[2]

 

[2] Brigitte Jäger-Dabek: Die Bilder in unseren Köpfen. Deutsche Polenbilder – Polnische Deutschlandbilder, Stade 2013, S. 6 f. (e-book).

Boshaft könnte man die Autorin fragen, ob sie sich schon einmal mit einer schlecht bezahlten polnischen Krankenschwester unterhalten hat oder bei einer jungen Familie im Warschauer Stadtteil Praga zu Gast war, die sich zu viert einem Raum teilt? Ernsthaft stellt sich jedoch die Frage, ob hier nicht eine gut gemeinte positive Berichterstattung in den Medien kontraproduktiv wirkt, denn die negativen Berichte von Migranten, Pendlern und Saisonarbeitern in Deutschland über das Leben in Polen stehen dazu in einem krassen Gegensatz, der bei vielen Lesern und Zuschauern gewiß die Frage nach der Wahrhaftigkeit und Ausgewogenheit der Medien aufwerfen dürfte.

Kritisches Beobachten und gut begründete Kritik an den Nachbarn sind daher sicher oft ein größerer Freundschaftsdienst als verzuckerte Komplimente, selbst wenn sich ein Land, das sich traditionell eher überheblich bis abschätzig über Polen geäußert hat, immer noch schwer damit tut. Umgekehrt reagiert man in Polen auf Kritik aus Deutschland oft mimosenhaft und mit Abwehrreflexen, die eher von mangelndem Selbstbewußtsein zeugen. Das zeigte sich zum Beispiel, als im Sommer des Jahres 2015 die Flüchtlingskrise eskalierte: Während Deutschland bereit war, viele hunderttausend Verfolgte und Entwurzelte aus den Kriegsgebieten dieser Welt aufzunehmen, sperrte sich Polen gegen Zuwanderung. In Polen – und anderswo – warf man Deutschland moralischen Imperialismus und ökonomische Erpressung der Staaten Ostmitteleuropas vor, während die deutsche Öffentlichkeit die Reaktionen jenseits von Oder und Neiße mit Unverständnis zur Kenntnis nahm und dort Neonationalismus, katholischen Fundamentalismus oder provinziellen Egoismus verortete. Da schienen sie wieder hervorzubrechen, jene Spuren aus längst vergangen geblaubter Vergangenheit, die im gemeinsamen deutsch-polnischen Haus gespenstergleich im Keller lauern und nur darauf warten, bedient und gefüttert zu werden. 

Was läßt sich daraus nun lernen? Die Wahrnehmung von Spuren und das Entstehen von Bildern in den Köpfen ist trotz vieler Überlagerungen sicher zu einem Gutteil generations-, bildungs- und einkommensabhängig. Es macht eben einen Unterschied, ob man als Schülerin oder Student mit seinen polnischen Freunden auf Facebook, Tumblr oder Instagram genau so vernetzt ist wie mit Menschen aus allen möglichen anderen Winkeln der Welt, ganz selbstverständlich auf polnische Rockfestivals fährt, Youtube den nationalen Fernsehkanälen vorzieht und nur wenig bis gar nichts mit Namen wie Otto von Bismarck oder Gustav Freytag anfangen kann. Oder ob man regelmäßig Veranstaltungen zur deutsch-polnischen Geschichte und Kultur besucht, sich neben die vielen grau- und weißbehaarten Herrschaften setzt und zustimmend murmelnd den Kopf wiegt, wenn die neueste Übersetzung des Romanciers und Osteuropa-Erklärers Andrzej Stasiuk gefeiert oder die letzte Bildungsreise nach Galizien diskutiert wird. Oder ob man Polinnen und Polen als die permanten „Helfer“ wahrnimmt, die bei „uns“ für wenig Geld putzen oder die alternde Bevölkerung pflegen, weil sie dadurch wenigstens die Familie zu Hause ernähren können, was mit ähnlicher Arbeit in Polen kaum möglich ist, es sei denn, man arbeitet in Kurhäusern und verwöhnt gut betuchte deutsche Rentner vor Ort. Scheinbar drei Welten mit je eigenen Bildern, Kommunikationskanälen und Rezeptionsritualen, dennoch nicht voneinander abgelöst, sondern aufgehoben in einem sehr beweglichen Kosmos des Austauschs, an dem Arbeitsvermittler, kleine Handwerkerfirmen, Tourismusbüros, Institute, Kulturforen, Universitäten, Kommissionen und Vereine als „Stereotypenbrecher“ – jeder auf seine Art – seit Jahren mitwirken. 

Ganz ohne Stereotype ist Nachbarschaft gerade bei dem nach wie vor vorhandenen Wohlstandsgefälle dennoch nicht denkbar. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht, gerade, wenn man schon so lange „Tür an Tür“ lebt und die Marotten und Eigenheiten des jeweils anderen bis zum Überdruss kennt. Um nicht an Phrasen zu ersticken, war und ist deshalb das offene Gespräch auf Augenhöhe wichtig, in dem alle Themen möglichst vorurteilsfrei und ohne Minderwertigkeits- oder Überlegenheitsgefühle an- und ausgesprochen werden können – ganz ohne falschverstandene politische Korrektheit und ohne bei jedem zweiten Satz beleidigt zu sein. Nur dadurch lassen sich voreilige Spureninterpretationen vermeiden, eingefahrene Sichtweisen abbauen und Bilder im Kopf „updaten“. Bestes Mittel dazu scheinen nach aller Erfahrung direkte Begegnungen zu sein, so wie sie in den vergangen zweieinhalb Jahrzehnten zunehmend stattgefaunden haben. Es steht zu hoffen, dass die dadurch entstandenen positiven Bilder – trotz kultureller und wirtschaftlicher Unterschiede – die vielen oben aufgezählten negativen Bilder einst gänzlich verdrängen werden. Dass dies möglich ist, hat sehr schön ein deutscher Jugendlicher bei einem Schüleraustausch bewiesen, als er auf die besorgte Nachfrage seiner Mutter, ob es ihm bei der polnischen Gastfamilie auch wirklich gut gehe, leicht genervt ins Telefon rief: „Mensch, Mama! Die leben hier besser als wir ...!“  

 

Matthias Barełkowski, Peter Oliver Loew, Juni 2018