Polenbilder in den deutschen Lebenswelten
Vorurteile werden am besten durch eigenes Erleben konterkariert, zumal dann, wenn die großen nationalen Meistererzählungen – etwa die antipolnischen Phantasien im wilhelminischen Kaiserreich – an Bedeutung verloren haben: Ein Gustav Freytag, der der jungen deutschen Nation mit seinem gegen Polen und Juden gleichermaßen eifernden Roman Soll und Haben Halt und Selbstvertrauen zu geben versprach, ist heute jenseits germanistischer Seminare weitgehend vergessen. Man kann mit diesem Roman aber vieles erklären: Er schildert eine Lebenswelt, in der sich eine deutsche „Herrenklasse“ in einer polnisch geprägten Umgebung zu behaupten sucht – Erinnerung daran, dass auch die Migrationen von Deutschen nach Osten, in mehrheitlich polnischsprachige Gebiete, Bilder geprägt haben: Da sie meist als Modernisierer, ja als Kolonisatoren kamen, entstanden gleichsam naturgemäß Stereotype über die angetroffene Bevölkerung – Polen, Juden und andere –, mit der man sich zudem erst einmal gar nicht verständigen konnte. Wenn dann noch die Verwaltung ins Spiel kam, widerwillig in den preußischen Osten versetzte Beamte mit zu scheitern drohender Karriere, dann erhielten Stereotype geradezu behördlichen Charakter: „Der Pole macht mal wieder Probleme.“ Im Zweiten Weltkrieg war schließlich zu besichtigen, wozu dieser oft gedankenlose Umgang mit dem (vermeintlich) Fremden, der Wunsch nach ungestörter Homogenität führen konnte.
Und damit wären wir schon in der Geschichte angelangt: Gelegenheit, um sich anhand einiger Beispiele zu vergegenwärtigen, wie sehr sich die Spuren, die das Thema „Polen“ in deutschen Köpfen hinterlassen hat, im Laufe der Zeit verändert und überlagert haben. Dabei waren sie keineswegs nur durch Migrationserfahrungen bestimmt, sondern durch viele Ereignisse der Beziehungsgeschichte. Ältere „negative Spuren“ sind daher durchaus noch präsent, gerade, weil sie in Familien und Freundeskreisen über mehrere Generationen tradiert wurden.
Lange waren die polnischen Spuren in deutschen Köpfen geprägt von gelegentlichen Begegnungen mit polnischer Adelskultur. Die orientalisch anmutenden Herren im Kontusch und mit merkwürdiger Haartracht wollten einem absolutistischen Herrscher wie Friedrich II. gar nicht gefallen: Seine antipolnischen Aussagen sind Legion und sein Begriff von „polnischer Wirtschaft“ als Synonym für Verlotterung prägte zwei Jahrhunderte. Reichsgründer Otto von Bismarck stand Friedrich dabei im 19. Jahrhundert in nichts nach: „Haut doch die Polen, daß sie am Leben verzagen, ich habe alles Mitgefühl der Welt für ihre Lage, aber wir können auch nichts dafür, daß der Wolf von Gott geschaffen ist, wie er ist, und man schießt ihn doch dafür tot, wenn man kann,“ schrieb er 1861 an seine Schwester.[1] So haben Persönlichkeiten, denen in preußisch-deutscher Geschichtserzählung eine große Rolle zukommt, eine antipolnische Seite, die heute in Deutschland allerdings oft ausgeblendet wird.
Als deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg nach Russisch-Polen einmarschierten, hatten sie die Aussagen dieser beiden „Großhelden“ der deutschen Geschichte sicher noch aus dem Schulunterricht im Kopf und brachten sie mit dem in Verbindung, was sie vor Ort sahen: die oft schrecklich ärmlichen Lebensverhältnisse in den kleinen Städten, zumal wenn im Spätherbst die Wege schlammig und die Menschen verfroren waren. Dass es sich nicht selten um geschlossene jüdische Milieus handelte, um jiddischsprachige „Schtetl“, konnten die deutschen Landser kaum wissen – und ebensowenig konnten sie zwischen Ruthenen und Polen, zwischen Polen und Litauern unterscheiden. Alles in einen Topf geworfen ergab ein Bild vom „Polen“, das sich für Generationen festsetzte, bewusst oder unbewusst, und die markigen antipolnischen Sprüche preußisch-deutscher Staatslenker mit eigenem Erleben (oder mit eigenen Vermutungen) unterfütterten.
[1] Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke, Band XIV/1: Briefe 1822-1861, hrsg. von Wolfgang Windelband und Werner Frauendienst, Berlin 1933, S. 567.