Polenbilder in den deutschen Lebenswelten

Karikatur in der Zeitschrift Kladderadatsch,1919
Karikatur in der Zeitschrift Kladderadatsch,1919

Die neuen Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg, die den polnischen Staat wiedererstehen ließen, in Deutschland aber quer durch die politischen Parteien als Ergebnis eines „Schandfriedens“ bewertet wurden, der ausgerechnet „die Polen“ begünstigte, verstärkte diese Spuren nur noch. Die von der deutschen Politik gerne abschätzig „Saisonstaat“ bezeichnete benachbarte Republik überlebte zwar eine ganze Reihe von Saisonen, wurde dann aber 1939 erneut von deutschen – und sowjetischen – Truppen überrollt. Die nun einsetzenden deutschen Verbrechen sind in ihrer Monstrosität kaum darstellbar und haben tiefe Spuren in den Köpfen der Beteiligten, von Opfern, Tätern und Zeugen hinterlassen. Paradoxerweise kam es durch die zahlreichen polnischen Zwangsarbeiter, die in fast allen Dörfern und Städten des Reiches anzutreffen waren, zu so vielen direkten Kontakten zwischen Deutschen und Polen wie nie zuvor. Diese reichten emotional von Hass bis Liebe und hinterließen ihrerseits Spuren, an die man dann nach dem Krieg deutscherseits partout nicht mehr erinnert werden wollte. 

Prägend war nun vielmehr die Erzählung der zugunsten des neuen polnischen Staates aus den deutschen Ostgebieten vertriebenen Menschen und ihrer Verbände. Sie klagten über Jahrzehnte hin ihr antipolnisches Leid, inszenierten sich als unschuldige Opfer und bestimmten damit über längere Zeit den bundesdeutschen Polendiskurs: Die Polen waren die „Vertreiber“, also die Täter, während man über die Ursachen der Vertreibung beredt schwieg. Gesagt werden muss aber auch, dass es häufig kleinere, engagierte – und häufig landsmannschaftlich gar nicht organisierte – Gruppen der Heimatvertriebenen waren, die Kontakt nach Polen suchten. Sie gehörten zu den ersten, die nach dem Krieg persönlichen Austausch mit dem Nachbarland pflegten und hinfuhren, nicht selten viele Male. Mehr noch trifft dies sicher auf viele der zwei Millionen Aussiedler aus Polen zu, die in beiden Sprachen kommunizieren konnten und viel „zwischen den Welten“ unterwegs waren.

Trotzdem blieb Europas Mittlerer Osten im deutschen Wirtschaftswunder-Westen ein recht unverstandener Teil des Kontinents, jenseits des „Eisernen Vorhangs“ gelegen, von Armut geprägt, während man selbst nur allzu gern die Zeit vor 1945 vergessen wollte. Da man dabei gleichzeitig auch vergessen wollte, was Deutsche in und mit Polen angerichtet hatten, förderte dies die Konservierung alter „Spuren im Kopf“. Gleichzeitig schwadronierte in der DDR die SED von der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ und dem „polnischen Brudervolk“ und gestattete zeitweise den visafreien Reiseverkehr, der immerhin einigen Bürgern des zweiten deutschen Staates den Blick in ein Land mit größeren kulturellen und politischen Freiheiten als daheim erlaubte. Abgesehen von der unermüdlichen Arbeit einzelner Übersetzer wie Karl Dedecius, die versuchten, den gebildeten Deutschen literarische Spuren aus Polen näher zu bringen, waren es deshalb vor allem massenmediale Ereignisse, die Breschen in diesen Kontinent des Un- und Halbwissens schlugen. An vorderster Stelle steht hier gewiß die in den 1970er Jahren im bundesdeutschen Fernsehen ausgestrahlte US-amerikanische Fernsehserie „Holocaust“. Hier und in vielen anderen Filmen tauchte das Land Polen in erster Linie als Ort der Vernichtung von Juden in Ghettos und Lagern auf, wofür „Auschwitz“ zum Symbol geworden ist, während das Schicksal der nichtjüdischen Polen unter deutscher Okkupation kaum eine Rolle spielte. Deutlich wird dies etwa daran, dass lange Zeit Deutsche, wenn sie vom „Warschauer Aufstand“ hörten, automatisch an den Ghettoaufstand von 1943 dachten, während der nichtjüdische Aufstand von 1944, der zur vollständigen Zerstörung der Stadt durch die Deutschen und zum Tod von über 200.000 Menschen führte, kaum bekannt war. Angesichts dieses Nicht- bzw. Wenigwissens ist es eigentlich kaum verwunderlich, dass nachlässige Journalisten in Deutschland und sonstwo auf der Welt von „polnischen Konzentrationslagern“ schreiben, womit sie in Polen regelmäßig und zu Recht für größte Empörung sorgen: Natürlich waren es „deutsche Konzentrationslager“, wenn auch auf geraubtem polnischem Boden angelegt. Diese Empörung hat wiederum Rückwirkungen auf die deutsche Öffentlichkeit, die nun zu meinen glaubt, ihre polnischen Nachbarn seien nicht nur überempfindlich, sondern auch meganationalistisch – was neue Spuren, neue Bilder erzeugt.