Wanda Landowska
1899 debütierte sie bei den Leipziger Gewandhaus-Konzerten mit einem der drei Klavierparts in Bachs D-Moll-Konzert für drei Klaviere mit Streichorchester. Im September des Jahres lernte sie in Warschau den fünf Jahre älteren Journalisten, Schauspieler und Ethnologen Henri Lew (1874-1919) kennen. Sie beschloss, ihre Komponistenkarriere in Paris fortzusetzen, wo sie Lew im darauffolgenden Jahr heiratete. Ihr Interesse an der Alten Musik bewegte sie dazu, sich dem Musikerkreis der 1896 in Paris gegründeten Schola Cantorum anzuschließen, dem auch der Theologe, Organist und Bach-Forscher Albert Schweitzer (1875-1965), der spätere Missionsarzt und Gründer des Urwaldhospitals Lambarene, angehörte. Mit ihm pflegte sie einen intensiven Austausch über die Interpretation der Werke Bachs.
Seit 1903 begann sie, auf dem Cembalo zu konzertieren. Sie studierte, unterstützt von Henri Lew, Originalquellen des 16. bis 18. Jahrhunderts, um Fingersätze, Registrierungen, Tempi und Verzierungen zu rekonstruieren, und arbeitete mit der Firma Pleyel zusammen, deren Cembalos sie fortan propagierte. Ihre Kompositionstätigkeit trat mit der Zeit zurück. Stattdessen führten sie Konzerttourneen nach Großbritannien, Deutschland, in die Schweiz, zurück nach Paris und schließlich nach Moskau, wo sie 1907 in der Salle Pleyel anlässlich eines Empfangs für russische Künstler spielte und Leo Tolstoi kennenlernte. Mit ihrem Cembalo reiste sie im November des Jahres zu Tolstoi nach Jasnaja Poljana (siehe PDF; Abb.), wo sie ihn 1909 erneut besuchte und anschließend in St. Petersburg und Moskau konzertierte. Im selben Jahr erschien in Paris ihr gemeinsam mit Henri Lew-Landowski verfasstes 270-seitiges Buch „Musique ancienne. Style - Interprétation - Instruments - Artistes“. 1910 spielte sie bei einem Bach-Fest in Duisburg.
Unangefochten war Landowskas Stellung in der Musikwelt jedoch keineswegs. Schon in Paris wurde ihre Entscheidung zur Neubelebung der Cembalo-Musik mit Skepsis aufgenommen, da ähnliche Bestrebungen zuvor an der geringen Qualität der Instrumente gescheitert waren. Wer sie als Pianistin kannte, so schreibt sie in ihrer Biographie, war besorgt, sie könnte „das Klavier zu Gunsten eines ‚Klimperkastens‘ vernachlässigen“.[5] Noch ein Jahr nach ihrem Dienstantritt an der Musikhochschule in Charlottenburg sah sie sich im Mai 1914 zu einem verteidigenden Artikel über „Die Renaissance des Cembalos“ in der Vossischen Zeitung veranlasst, denn „das Cembalo hat zwar noch viele und hartnäckige Gegner, aber diese bestehen meistens aus Klavierpädagogen und ‑virtuosen des alten Stils“.[6]
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs machte die unter russischer Herrschaft geborene Pianistin in Deutschland zur Staatsfeindin. Zwei Wochen nach der deutschen Kriegserklärung an Russland sah sie sich im Berliner Tageblatt als „russische Untertanin … an der königlichen Hochschule für Musik“ verunglimpft und antwortete vier Tage später in einem Leserbrief, „dass ich keine Russin bin. Ganz im Gegenteil - ich bin Polin. Während der Hass der Deutschen gegen die russische Regierung kaum zwei Wochen alt ist - ist der unsrige mindestens hundertjährig.“ (siehe PDF) Als auch die Leipziger Zeitschrift Signale für die musikalische Welt und die Tägliche Rundschau für Landowska und die ausländischen Lehrkräfte an der Hochschule eintraten,[7] schien sich die Lage zu normalisieren.
Landowska und ihr Mann führten während der Kriegsjahre eine herrschaftliche Wohnung in Berlin-Wilmersdorf, in die sie nach Konzerten zum Diner einluden. Rainer Maria Rilke und Gerhart Hauptmann waren zu Gast. Noch ein Jahrzehnt später berichtete Lotte Zavrel in der Vossischen Zeitung von unbeschreiblichen Speisen, herrlichem altem Porzellan, orientalischen und spanischen Tänzerinnen und einer Landowska, die unermüdlich Boston und Tango spielte. (siehe PDF) Im April 1919 endete alles in einer Katastrophe: Nachdem rechts gerichtete Kreise Landowska und ihrem Mann bolschewistische Aktivitäten unterstellt hatten, wurde Henri Lew unweit der Wohnung von einem Automobil überfahren und starb. Ein Attentat kann nicht ausgeschlossen werden. Zavrel resümierte: „Wir verloren den einzigartigsten Salon, einen Mittelpunkt internationaler Kultur.“
1920 ging sie wieder nach Paris und nahm eine Wohnung im 18. Arrondissement. Auch dort war Rilke zu Gast. Sie nahm ihre Komponisten- und Konzerttätigkeit wieder auf, hielt Vorträge an der Sorbonne und gab Meisterkurse an der École normale de musique. 1921 unternahm sie eine Konzerttournee durch Spanien, während der sie mit Pablo Casals musizierte, Federico García Lorca, Manuel de Falla und Andrès Segovia kennen lernte. 1923 und 1924 führten sie zwei Konzerttourneen in die USA. Im darauffolgenden Jahr bezog sie ein Haus in Saint-Leu-la-Forêt nördlich von Paris, an das sie zwei Jahre später einen Konzertsaal anbauen ließ und das ihre ständig wachsende Sammlung an historischen Instrumenten und ihre Bibliothek aufnahm. Bis 1939 hielt sie dort Meisterkurse ab.
[5] Wanda Landowska: Autobiographische Anmerkungen, Text aus einem Schallplatten-Beiheft, 1958, übersetzt aus dem Französischen, in: Martin Elste (Hrsg.) 2010, S. 18.
[6] Wanda Landowska: Die Renaissance des Cembalos, in: Vossische Zeitung, Berlin, Nr. 259, vom 24.5.1914, abgebildet bei Martin Elste (Hrsg.) 2010, S.14
[7] Weitere Dokumente zu diesem Vorgang bei Martin Elste (Hrsg.) 2010, S. 74-76.