Polnisches Theater Kiel
Gimpel ist eine extreme Figur. Er ist nicht nur ein Narr, wie Isaac Bashevis Singer in seiner gleichnamigen Erzählung schreibt. Seit seiner Schulzeit trägt er auch noch weitere Namen: Schwachkopf, Esel, Tor, Trottel, Dämlack und Tropf. Seit jeher konnte man ihm Lügengeschichten erzählen, die er alle glaubte. Wenn er vor einem bellenden Hund weglief, den es gar nicht gab, dann brüllte der ganze Marktplatz vor Lachen. Der Rabbi redete ihm ein, dass nicht er, sondern die anderen die Narren wären, und schließlich heiratete er eine Frau, die ihren unehelichen Sohn für ihren Bruder ausgab. Doch Gimpel ist nicht wirklich dumm. Er hat nur ein allzu großes Herz, will anderen, die ihn betrügen, keinen Ärger bereiten. Das Kind, das siebzehn Wochen nach der Hochzeit geboren wird und nicht seines sein kann, liebt er abgöttisch, seine Frau aus ganzer Seele und jeden weiteren ihrer heimlichen Liebhaber tut er als Sinnestäuschung ab. Als er sich schließlich zur Scheidung entschließt, betrügt ihn seine Frau während der vom Rabbi angeordneten Wartezeit von neun Monaten mit dem Gesellen aus der Bäckerei, in der er arbeitet. Dennoch bleibt er noch zwanzig Jahre lang bei ihr und die Bäckerei, die inzwischen ihm gehört, macht ihn zu einem reichen Mann. Als seine immer noch junge Frau viel zu früh auf dem Sterbebett liegt, gesteht sie ihm, damit sie Frieden in der jenseitigen Welt finde, dass alle von ihr geborenen sechs Kinder nicht von ihm sind. Nun bricht doch seine kleine heile Welt für ihn zusammen. Er verschenkt sein Vermögen an die Kinder und zieht in die Welt hinaus, wird selbst zum Geschichtenerzähler, der von Almosen lebt, und erkennt schließlich, dass es bei der Frage, ob wahr oder unwahr, nur auf den Standort ankomme. Sein eigenes Leben ist offenbar immer nur Liebe gewesen. Seine geliebte Frau wird er im Jenseits mit großer Gewissheit wiedersehen und dort drüben, so Singer, „kann selbst Gimpel nicht mehr zum Narren gehalten werden.“[1]
Singers Erzählung „Gimpel der Narr“ spielt im polnischen Frampol, vierzig Kilometer südlich von Lublin. Wie in allen Romanen und Erzählungen des jüdisch-polnischen Autors, der 1902 in Leoncin in Masowien geboren wurde, 1935 in die USA auswanderte und dort 1991 starb, bildet auch hier das für immer verlorene Leben im Schtetl, also in den jüdischen Siedlungen im östlichen Europa vor der Auslöschung durch die Nationalsozialisten, den Hintergrund. Doch die Hauptthemen sind das Menschlich-Allzumenschliche, der Widerstreit von Geist und Körper, Tugend und Laster und vor allem der beiden Geschlechter. 1978 erhielt Singer den Nobelpreis für Literatur. „Gimpel der Narr“ wurde unter dem Titel „Gimpel the Fool“ erstmals 1957 in New York veröffentlicht. 1968 folgte bei Rowohlt die erste deutsche, im Jahr 2000 die siebte und offenbar letzte Auflage der gleichnamigen Sammlung von Erzählungen. Ursprünglich auf Jiddisch geschrieben, liegt ihr nach dem Wunsch des Autors der amerikanische Text zugrunde. Auf nicht mehr als neunzehn Taschenbuchseiten gelingt es Singer meisterlich, die Höhenflüge und Abgründe eines ganzen Lebens zu schildern. Der Leser wird in ihnen eigene Verhaltensweisen, vor allem die des Selbstbetrugs, erkennen oder er wird die Tragikomödie als Sittenbild aus einer längst vergangenen Welt abtun. Aber wird dieser relativ kurze Text einen ganzen Theaterabend tragen?
[1] Isaac Bashevis Singer: Gimpel der Narr. Ausgewählte Erzählungen. Deutsch von Wolfgang von Einsiedel, Hamburg: Rowohlt 1982, Seite 24