Johann von Mikulicz-Radecki – das vergessene Genie der Chirurgie

Jan Mikulicz-Radecki, 1890
Jan Mikulicz-Radecki, 1890

1875 erlangt Mikulicz den Doktortitel in Medizin und wird an der Wiener Chirurgischen Klinik von Theodor Billroth, der heute in Österreich als Vater der modernen Chirurgie gilt, angenommen. „Billroths Vorlesungen dagegen entsprachen einem tief reichenden Wissen, einer umfangreichen Praxis und Erfahrung, sie waren schlicht genial. Man spürte, dass er die ausgetretenen Pfade der bisherigen chirurgischen Praxis verließ und ein bisher unzugängliches Neuland betrat.[3] Ein Jahr nach seiner Heirat mit der Österreicherin Henriette Pacher muss Johann Mikulicz seine Klinikstelle freimachen, da ein verheiratete Assistent nach den damals geltenden Regeln keine Planstelle an der Uniklinik bekleiden durfte. Mikulicz übernimmt die Leitung der chirurgischen Poliklinik, darf aber keine wissenschaftliche Forschung betreiben. Zur Hilfe kommt ihm ein Wiener Fabrikant medizinischer Instrumente, so dass es dem jungen Chirurgen gelingt, den sogenannten Mikulicz-Gastroskop zu entwickeln. 1881 führt er damit erstmals weltweit einen Eingriff durch, bei dem er ein Karzinom der unteren Speiseröhre endoskopisch nachweisen konnte.[4]

1882 übernimmt Johann Mikulicz gefördert von Theodor Billroth den Lehrstuhl für Chirurgie in Krakau, obwohl er unter den Bewerbern nicht zu den Favoriten zählt. Die Kommission wirft ihm vor, zu wenig Polnisch zu können. Daraufhin schreibt sein Unterstützer Billroth an einen der Krakauer Professoren wie folgt: „Sehen Sie Mikulicz erst operieren, und Sie werden ihn zu gewinnen trachten, auch wenn er ein Taubstummer wäre.[5] Der Kandidat wiederum bereitet sich fleißig auf die Übernahme des Lehrstuhls vor, indem er sein Polnisch verbessert. Seine Berufung wird von den medizinischen Kreisen in Krakau trotzdem nur widerwillig akzeptiert, da er als jemand betrachtet wird, der aus Wien protegiert worden war. In seiner Antrittsvorlesung, bei der Polizei im Vorlesungssaal zugegen ist, um eventuellen Protesten vorzubeugen,[6] nimmt der Chirurg darauf Bezug und sagt: „Ich bin beschuldigt worden, die polnische Sprache nicht zu kennen, obwohl sie genauso meine Muttersprache ist, wie für jeden hier anwesenden Herrn. Es ist wahr, dass ich durch meine langen Aufenthalte an deutschen Wissenschaftseinrichtungen unsere Muttersprache [...] vernachlässigt habe.“[7] Ob diese Aussage eine Erklärung zu seiner Nationalität war, ist heute schwer zu beurteilen, denn auf die Frage, ob er Pole, Deutscher oder Österreicher sei, antwortete Mikulicz gewöhnlich: „ich bin Chirurg“.

Die Krakauer Klinik entwickelt sich unter der Leitung von Johann Mikulicz jedenfalls rasch weiter und gilt schließlich als eine der besten im Kaiserreich. Sie wird auch von Ärzten aus Österreich aufgesucht, die hier ihr Wissen in der Chirurgie als Stipendiaten vertiefen. Trotz seiner hohen beruflichen Stellung gelingt es Mikulicz aber nicht, seinen größten Traum, den Bau einer neuen Klinik in Krakau, zu verwirklichen. Aus diesem Grund zögert er nicht lange, als er den Vorschlag bekommt, den chirurgischen Lehrstuhl in Königsberg zu übernehmen und nimmt die Berufung 1887 an. Hinter dieser Entscheidung verbirgt sich aber auch sein geheimer Plan, künftig den Lehrstuhl in Berlin oder in Wien zu erlangen. „Für ihn als Polen war die Aussicht auf einen derartigen Ruf eher gering. Er glaubte aber, dass sich ihm eine solche Möglichkeit eröffnen würde, wenn er vorher auf eine deutsche Universität wechselte.[8] Was Mikulicz jedoch nicht vorhergesehen hatte, war die Reaktion der österreichischen Regierung auf seinen Schritt. Im Ministerium für Wissenschaft und Kultur der Monarchie beschied man ihm, dass er niemals mehr berufsbedingt nach Österreich zurückkehren dürfte, falls er dem Ruf nach Königsberg Folge leisten sollte.

 

[3] Der Schüler von Billroth, [in:] Kozuschek, Johann Mikulicz-Radecki..., S. 55.

[4] Ebenda, S. 73.

[5] Briefe von Theodor Billroth, S. 171, zitiert nach: Kozuschek, Johann Mikulicz-Radecki..., S. 81.

[6] Lehrstuhlinhaber in Krakau, [in:] Kozuschek, Johann Mikulicz-Radecki..., S. 85.

[7] Jan Mikulicz, O wpływie chirurgii nowoczesnej na kształcenie uczniów w klinice chirurgicznej, [in:] Przegląd Lekarski, Nr. 43, S. 569-572. Zitiert nach: Hans-Detlev Saeger u.a. (Hrsg.), Chirurgisches Forum 2006 für Experimentelle und Klinische Forschung: Berlin, 02.05. -05.05.2006, Bd. 35, Konferenzschrift, Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2006, S. IX. [Anm. d. Übers.]

[8] Lehrstuhlinhaber in Krakau, [in:] Kozuschek, Johann Mikulicz-Radecki..., S. 91 und 93.

Mediathek
  • Jan Mikulicz-Radecki

    Jan Mikulicz-Radecki, 1890
  • Im Operationssaal der Warschauer Universität

    Johann von Mikulicz-Radecki im Operationssaal der Warschauer Universität, 1899.
  • Beim Kegelabend

    Johann von Mikulicz-Radecki beim Kegelabend des Vereins für wissenschaftliche Heilkunde in Königsberg
  • Johann von Mikulicz-Radecki in Königsberg

    Johann von Mikulicz-Radecki in Königsberg, Reprint aus dem Buch von Waldemar Kozuschek „Johann von Mikulicz-Radecki 1850-1905“.