Johann von Mikulicz-Radecki – das vergessene Genie der Chirurgie
Medizinstudenten und Ärzte bringen Johann von Mikulicz-Radecki (poln. Jan Mikulicz-Radecki) sicher mit einer Operationsmethode oder mit seinem in der Chirurgie allgemein üblichen medizinischen Instrument, der sogenannten Mikulicz-Klemme, in Verbindung. Nur wenige aber wüssten mehr über seine Person. Indessen spiegelt sich in seiner Biographie die komplizierte Geschichte Mitteleuropas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wider.
Johann Anton von Mikulicz-Radecki wurde 1850 in Czernowitz geboren, der Hauptstadt der Bukowina, die damals im Kaiserreich Österreich lag. Sein Vater war Pole aus einer altpolnischen Adelsfamilie, seine Mutter, Emilia Freiin von Damnitz, entstammte dem preußischen Adel. Johann war das jüngste der fünf Kinder des Paars (sein Vater hatte noch drei weitere Kinder aus seiner vorherigen Ehe). „Er war von zarter, kleinwüchsiger Statur, schwächlicher Gesundheit, wortkarg, drängelte sich nicht nach vorn“[1] - so beschreiben die Biographen den späteren Chirurgen. Der Bukowina, dem multikulturellen Schmelztiegel, in dem unter anderem Polen, Russen, Moldauer, Juden, Deutsche und Rumänen lebten, verdankte Mikulicz-Radecki, dass er schon als Kind mehrere Sprachen lernte, darunter Polnisch, Deutsch, Russisch und Jiddisch.
Als Johann Anton acht wird, schickt ihn der Vater zusammen mit den Geschwistern und der Mutter nach Prag, damit die Kinder an Schulen kommen, deren Niveau deutlich über dem der Bildungseinrichtungen in Czernowitz liegt. Doch drei Jahre später kehrt die Familie in die Bukowina zurück, um sich nach einem Jahr, 1863, erneut aufzumachen - diesmal nach Wien. In der Metropole des Kaiserreichs besucht Mikulicz-Radecki zunächst als Externer das Theresianum, eine 1746 von Kaiserin Marie Therese gegründete exklusive Schule für adelige Jugendliche, die zum Staatsdienst herangezogen werden sollen.[2] Ein Jahr später wechselt er an das Benediktiner-Gymnasium in Klagenfurt, wo seine Schwester Karoline als Sängerin ein Engagement am Theater bekam. In dieser Zeit denkt Johann, der bei den Messen Kirchenorgel spielt, daran, einem Orden beizutreten. Der Vater, Andreas Mikulicz, ist strikt dagegen.
Er leistet abermals Widerstand, als sein Sohn ihm mitteilt, dass er beabsichtigt, Medizin zu studieren. Obwohl der Vater die Zukunft in einem Jurastudium sieht, widersetzt sich Johann diesmal seinem Willen. Der Ungehorsam des Sohnes zieht nach sich, dass der Vater ihm die weitere finanzielle Unterstützung seiner Ausbildung versagt. Trotzdem nimmt Johann 1869 an der Wiener Universität das Medizinstudium auf, während er seinen Lebensunterhalt anfangs mit Nachhilfeunterricht und Klavierstunden verdient. Bald darauf erhält er dank der Unterstützung eines Professors ein Stipendium der Silberstein-Stiftung, das ihm erlaubt, sich ganz auf das Lernen zu konzentrieren.
[1] Geleitwort von Wojciech Noszczyk zur polnischen Fassung, Was weiß ein durchschnittlicher Arzt von heute über Johann Mikulicz-Radecki?, [in:] Waldemar Kozuschek, Johann Mikulicz-Radecki 1850-1905. Mitbegründer der modernen Chirurgie, zweisprachige Ausgabe: polnisch-deutsch, Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego, Wrocław 2005, S. 11.
[2] https://www.theresianum.ac.at/ (aufgerufen am 10.03.2020).
1875 erlangt Mikulicz den Doktortitel in Medizin und wird an der Wiener Chirurgischen Klinik von Theodor Billroth, der heute in Österreich als Vater der modernen Chirurgie gilt, angenommen. „Billroths Vorlesungen dagegen entsprachen einem tief reichenden Wissen, einer umfangreichen Praxis und Erfahrung, sie waren schlicht genial. Man spürte, dass er die ausgetretenen Pfade der bisherigen chirurgischen Praxis verließ und ein bisher unzugängliches Neuland betrat.“[3] Ein Jahr nach seiner Heirat mit der Österreicherin Henriette Pacher muss Johann Mikulicz seine Klinikstelle freimachen, da ein verheiratete Assistent nach den damals geltenden Regeln keine Planstelle an der Uniklinik bekleiden durfte. Mikulicz übernimmt die Leitung der chirurgischen Poliklinik, darf aber keine wissenschaftliche Forschung betreiben. Zur Hilfe kommt ihm ein Wiener Fabrikant medizinischer Instrumente, so dass es dem jungen Chirurgen gelingt, den sogenannten Mikulicz-Gastroskop zu entwickeln. 1881 führt er damit erstmals weltweit einen Eingriff durch, bei dem er ein Karzinom der unteren Speiseröhre endoskopisch nachweisen konnte.[4]
1882 übernimmt Johann Mikulicz gefördert von Theodor Billroth den Lehrstuhl für Chirurgie in Krakau, obwohl er unter den Bewerbern nicht zu den Favoriten zählt. Die Kommission wirft ihm vor, zu wenig Polnisch zu können. Daraufhin schreibt sein Unterstützer Billroth an einen der Krakauer Professoren wie folgt: „Sehen Sie Mikulicz erst operieren, und Sie werden ihn zu gewinnen trachten, auch wenn er ein Taubstummer wäre.“[5] Der Kandidat wiederum bereitet sich fleißig auf die Übernahme des Lehrstuhls vor, indem er sein Polnisch verbessert. Seine Berufung wird von den medizinischen Kreisen in Krakau trotzdem nur widerwillig akzeptiert, da er als jemand betrachtet wird, der aus Wien protegiert worden war. In seiner Antrittsvorlesung, bei der Polizei im Vorlesungssaal zugegen ist, um eventuellen Protesten vorzubeugen,[6] nimmt der Chirurg darauf Bezug und sagt: „Ich bin beschuldigt worden, die polnische Sprache nicht zu kennen, obwohl sie genauso meine Muttersprache ist, wie für jeden hier anwesenden Herrn. Es ist wahr, dass ich durch meine langen Aufenthalte an deutschen Wissenschaftseinrichtungen unsere Muttersprache [...] vernachlässigt habe.“[7] Ob diese Aussage eine Erklärung zu seiner Nationalität war, ist heute schwer zu beurteilen, denn auf die Frage, ob er Pole, Deutscher oder Österreicher sei, antwortete Mikulicz gewöhnlich: „ich bin Chirurg“.
Die Krakauer Klinik entwickelt sich unter der Leitung von Johann Mikulicz jedenfalls rasch weiter und gilt schließlich als eine der besten im Kaiserreich. Sie wird auch von Ärzten aus Österreich aufgesucht, die hier ihr Wissen in der Chirurgie als Stipendiaten vertiefen. Trotz seiner hohen beruflichen Stellung gelingt es Mikulicz aber nicht, seinen größten Traum, den Bau einer neuen Klinik in Krakau, zu verwirklichen. Aus diesem Grund zögert er nicht lange, als er den Vorschlag bekommt, den chirurgischen Lehrstuhl in Königsberg zu übernehmen und nimmt die Berufung 1887 an. Hinter dieser Entscheidung verbirgt sich aber auch sein geheimer Plan, künftig den Lehrstuhl in Berlin oder in Wien zu erlangen. „Für ihn als Polen war die Aussicht auf einen derartigen Ruf eher gering. Er glaubte aber, dass sich ihm eine solche Möglichkeit eröffnen würde, wenn er vorher auf eine deutsche Universität wechselte.“[8] Was Mikulicz jedoch nicht vorhergesehen hatte, war die Reaktion der österreichischen Regierung auf seinen Schritt. Im Ministerium für Wissenschaft und Kultur der Monarchie beschied man ihm, dass er niemals mehr berufsbedingt nach Österreich zurückkehren dürfte, falls er dem Ruf nach Königsberg Folge leisten sollte.
[3] Der Schüler von Billroth, [in:] Kozuschek, Johann Mikulicz-Radecki..., S. 55.
[4] Ebenda, S. 73.
[5] Briefe von Theodor Billroth, S. 171, zitiert nach: Kozuschek, Johann Mikulicz-Radecki..., S. 81.
[6] Lehrstuhlinhaber in Krakau, [in:] Kozuschek, Johann Mikulicz-Radecki..., S. 85.
[7] Jan Mikulicz, O wpływie chirurgii nowoczesnej na kształcenie uczniów w klinice chirurgicznej, [in:] Przegląd Lekarski, Nr. 43, S. 569-572. Zitiert nach: Hans-Detlev Saeger u.a. (Hrsg.), Chirurgisches Forum 2006 für Experimentelle und Klinische Forschung: Berlin, 02.05. -05.05.2006, Bd. 35, Konferenzschrift, Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2006, S. IX. [Anm. d. Übers.]
[8] Lehrstuhlinhaber in Krakau, [in:] Kozuschek, Johann Mikulicz-Radecki..., S. 91 und 93.
Zu dieser Zeit ist die Ausstattung der Chirurgischen Klinik der Albertus-Universität Königsberg besser als die der Klinik in Krakau, auch wenn sie über keinen OP-Saal verfügt und die Eingriffe im Hörsaal durchgeführt werden, in den die Patienten hineingetragen werden. In Königsberg ist Mikulicz vor allem mit der Chirurgie der Bauchhöhle befasst. Er arbeitet unter anderem an der Modifikation der Magenresektion und er beschreibt Krankheitssymptome, die später als Mikulicz-Syndrom bezeichnet werden. Aus wissenschaftlicher Sicht war der dreijährige Aufenthalt in Königsberger für den Chirurgen äußerst fruchtbar, doch die wichtigste Zeit seiner herausragenden Karriere sollte erst noch beginnen.
1890 wird Johann Mikulicz zum Direktor der neu erbauten Chirurgischen Klinik in Breslau berufen. Bevor er aber diese Stelle annimmt, muss er eine Verpflichtungserklärung unterschreiben, dass er das preußische Territorium mindestens fünf Jahre lang nicht verlassen wird. Das nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft errichtete Klinikgebäude ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollendet, so dass sich der neue Direktor mit seinen Vorstellungen vor allem hinsichtlich des OP-Saals einbringen kann. Dieser wird in den Folgejahren mehrfach ausgebaut, bis 1897 ein vollständig aseptischer OP-Trakt in Breslau zur Verfügung steht, der damals als der größte und modernste in Europa galt. Vier Jahre später wird die Klinik unter der Leitung des polnischen Chirurgen um eine orthopädische Abteilung und einen Physiotherapieraum erweitert. 1899 eröffnet Mikulicz darüber hinaus eine Privatklinik, die den neuesten medizinischen Standards entspricht.
Besonderes Vertrauen und besondere Sympathie, die fast an Bewunderung grenzt, bringen Johann Mikulicz die aus Polen, Russland und Galizien stammenden Juden. Das hat sicher damit zu tun, dass er Jiddisch spricht, und es belegt, wie groß die Autorität des Chirurgen war. „Sie hielten ihn fast für einen Heiligen, der eine besondere Gnade Gottes besitze. Schon die Berührung seiner Kleidung könnte Heilung bringen. (…) Die ihn verehrenden Juden pflegten unter sich zu sagen: Erst kommt der liebe Herrgott und dann der Herr Perfesser Mikulicz.“[9]
Auch im Ausland genießt Professor Johann von Mikulicz-Radecki große Wertschätzung. 1903 reist er auf Einladung der amerikanischen Wissenschaftler in die USA, um dort in Kliniken Schauoperationen durchzuführen, Vorträge zu halten und in Philadelphia die Ehrendoktorwürde zu empfangen. Das hohe Ansehen der Breslauer Chirurgenschule unter seiner Leitung belegen Ärzte aus der ganzen Welt, die hier ausgebildet werden, unter anderem aus den Vereinigten Staaten, aus England und Japan. Breslau war damals Kaderschmiede für viele herausragende Chirurgen, die anschließend in Kliniken in ganz Europa gearbeitet haben. Der wohl bekannteste Schüler von Johann Mikulicz war Ferdinand Sauerbruch, der auch für seine in Breslau mit Unterdruckkammer durchgeführten Operationen am offenen Brustkorb sowie als Erfinder der Hand- und Unterschenkelprothese für Amputierte bekannt geworden ist. Sauerbruch leitete später viele Jahre die Chirurgische Abteilung der Berliner Charité. In Deutschland gilt er als wichtigste Persönlichkeit der Medizingeschichte.
[9] Auf dem Höhepunkt der Karriere in Breslau, [in:] Kozuschek, Johann Mikulicz-Radecki..., S. 121.
Die beruflichen Pläne von Johann Mikulicz durchkreuzt eine Krebserkrankung. In dem Wissen, dass er bald stirbt, arbeitet der geniale Chirurg fast bis zu seinem letzten Atemzug. Kurz vor seinem Tod schreibt er an seinen Freund Professor Eiselsberg in Wien: „Ich scheide ohne Groll und mit Befriedigung aus dem Leben. Ich habe gearbeitet, was ich konnte und dabei viel Anerkennung gefunden und war glücklich.“[10] Professor Mikulicz stirbt im Alter von 55 Jahren am 14. Juni 1905. Anlässlich der Beerdigung säumten Tausende Breslauer die Straße, um ihn zu verabschieden. Die Beisetzung fand auf Wunsch des Verstorbenen auf dem Friedhof in Świebodzice statt.
Das Lebenswerk von Professor Mikulicz ist heute trotz seiner großen Verdienste für die Medizin nahezu unbekannt oder es wird nicht mit seiner Person in Verbindung gebracht. Dies liegt möglicherweise daran, dass Mikulicz uneindeutige Angaben zu seiner Nationalität gemacht hat, oder es ist der Tatsache geschuldet, dass die damaligen Deutschen ihn für einen Polen hielten, und die Polen in ihm fast einen Deutschen sahen.[11] Dass er zu seiner Zeit sehr geachtet wurde belegt auch folgende Aussage von Professor Hermann Küttner, seinem Nachfolger am Lehrstuhl für Chirurgie in Breslau: „Männer, die wie Johann von Mikulicz mit ursprünglicher Kraft der Wissenschaft neue Tore öffnen, die für Generationen nachlebender Menschen segenbringend sind – solche Männer sind unersetzlich. Unter allen lebenden Chirurgen hat Mikulicz den größten Anteil am Fortschritt der Chirurgie auf der Welt.“[12]
Monika Stefanek, März 2020
[10] Aus dem Brief an Prof. Anton von Eiselsberg vom 10. Juni 1905, zitiert nach: Auf dem Höhepunkt der Karriere in Breslau..., [in:] Kozuschek, Johann Mikulicz-Radecki..., S. 131.
[11] Auf dem Höhepunkt der Karriere in Breslau..., [in:] Kozuschek, Johann Mikulicz-Radecki..., S. 141.
[12] Ebenda, S. 143.