Jesekiel Kirszenbaum – Ausstellung in Solingen
Eine Sammlung von persönlichen Dokumenten zeigt die wenigen Überreste, die von einem Leben zwischen Flucht und Verfolgung und im Exil geblieben sind und die somit besondere Schätze aus dem Besitz der Familie darstellen. Sie fungieren in der Ausstellung, in langer Reihe auf einem Pult unter Glas präsentiert, auch als Zeitleiste und als Ersatz für eine Biografie, die man sich am Beginn der Ausstellung gewünscht hätte. Zu sehen sind teils frühe Fotografien und eine maschinenschriftliche Autobiografie, aus der Erinnerungen an die Kindheit in Staszów zu lesen sind (Abb. 6, 7). Ausrisse aus Pariser Zeitungen und Zeitschriften von 1933 berichten über Ausstellungen, an denen Kirszenbaum nach seiner Flucht in Paris teilnahm und in denen er sich erfolgreich als junges Mitglied der École de Paris präsentierte. Schließlich sind Briefe zwischen Kirszenbaum und seiner Frau Helma aus dem Jahr 1940 zu sehen, nachdem er selbst 1939 bei Kriegsausbruch zunächst in ein Lager in Meslay du Maine östlich von Rennes deportiert worden war (Abb. 8). 1941 wurde er in ein Lager für ausländische Arbeiter in Bellac im Limousin abkommandiert. Auch seine Frau durchlief zunächst ein Lager in Gurs, wurde wieder entlassen, 1943 verhaftet und im Jahr darauf ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet.
Aus einem Brief nach Kriegsende, in dem sich der Künstler beim Generaldirektor der Königlichen Kunstmuseen in Brüssel nach einer Ausstellungsmöglichkeit erkundigte, ist herauszulesen, dass ihm 1942 die Flucht aus dem Arbeitslager gelang und er sich bis Kriegsende versteckte, während seine Wohnung in Paris mit sechshundert Kunstwerken von den Deutschen geplündert wurde. Über das Schicksal seiner Ehefrau habe er keine Nachricht, schrieb Kirszenbaum. Als er sich in einem weiteren Brief nach Brüssel über den Verbleib seines Freundes, des Malers Felix Nussbaum (1904-1944), erkundigte, erhielt er die Nachricht, dass Nussbaum und seine Frau von der Deportation in ein Konzentrationslager nicht zurückgekehrt seien (Abb. 9). Einladungskarten, Kataloghefte, Fotografien und das Plakat einer Retrospektive 1962 in der Pariser Galerie Karl Flinker berichten über Kirszenbaums künstlerische Tätigkeit bis zu seinem frühen Tod 1954 in Paris. Einzelausstellungen hatte er unter anderem 1946 in Lyon in der Maison de la Pensée Française, in Paris 1947 in der Galerie Quatre Chemins, 1951 in der Galerie André Weil und 1953 in der Galerie Au Pont des Arts. Vor allem aber kümmerte sich Baronin Alix de Rothschild, die nach dem Krieg verfolgten Künstlern half, um Kirszenbaum, nahm bei ihm Malunterricht, erwarb seine Werke und stellte dessen aktuelle Arbeiten, „Arts sacrés, sujets religieux“, 1947 in ihrem Anwesen in der Avenue Foch 21 in Paris aus. Außerdem nahm er 1946 an der Ausstellung der Künstlergruppe Salon de Mai teil, die sich 1943 während der deutschen Besetzung von Paris als Opposition zu den Nationalsozialisten gegründet hatte. Ebenfalls 1946 beteiligte er sich am Salon des Tuileries, 1947 an der Ausstellung der Künstlergruppe Les Surindépendants, deren Mitglied er im Jahr darauf wurde, und 1954 am Salon des peintres témoins de leur temps.
Durch den Verlust nahezu des gesamten Frühwerks sind in der Ausstellung lediglich ein Gemälde aus der Berliner Zeit, nämlich ein Porträt von Sigmund Freud aus dem Jahr 1930 (Abb. 10, rechts), sowie drei Gemälde aus der ersten Pariser Periode bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu sehen. Abhilfe hätten hier nur Leihgaben aus weit entfernten Museen schaffen können wie ein 1925 in Berlin entstandenes Selbstporträt im Frans Hals Museum in Haarlem oder jüdische Szenerien, die Kirszenbaum in den Dreißigerjahren in Paris malte und die in israelischen Museen aufbewahrt werden. Während das Freud-Porträt, zu dem nichts Näheres zu erfahren ist und das nach einer Fotografie gemalt sein kann, in seinem dunklen, fleckigen Malduktus, der steifen Haltung des Porträtierten und den grob ausgeführten Händen an Bildnisse von Oskar Kokoschka aus den Zehnerjahren oder von Chaim Soutine, eine Dekade später gemalt, erinnert, findet Kirszenbaum in Paris seinen eigenen Stil: Durch das Studium der Impressionisten in den Museen und Galerien und den Einfluss der École de Paris, die sich in dieser Zeit vor allem durch Zuwanderer aus Osteuropa beträchtlich erweiterte, wurde Kirszenbaum ein Meister der Grauwerte und der Zwischentöne, während einzelne leuchtende Farbereignisse seine Bilder gliedern. Der „Mann mit Zigarette“ (Abb. 10, Mitte), eine Farbtusche-Zeichnung von 1935, zeigt eine Alltagsszene aus Staszów. Die „Ankunft des Messias im Dorf“ (1939, Abb. 11) ist eine von mehreren ähnlichen Bildern des Künstlers, in denen er Jesus beim Einzug in Jerusalem so darstellt, als würde ein Chasside auf einem weißen Esel in Staszów oder in ein jüdisches Dorf hineinreiten. Kirszenbaum verbindet also die biblische Überlieferung mit der Erinnerung an das Leben im Stetl. Ein Bild von James Ensor, der „Einzug Christi in Brüssel“ (1888), mag bei der Idee Pate gestanden haben.
Nachdem der Künstler 1942 aus dem Arbeitslager in Bellac fliehen konnte, versteckte er sich in Limoges und schließlich bis zum Kriegsende in Lyon im unbesetzten Teil Frankreichs. Sowohl im Lager als auch im Untergrund entstanden Gemälde, von denen fünf in der Ausstellung zu sehen sind (Abb. 12): „Der Messias und die Engel erreichen das Dorf“ (1942, Abb. 13), auf dem eine große Menschenmenge und der Maler mit seiner Palette zu sehen sind, wie er die Szene im Bild festhält, ein „Wasserträger“ (1942, Abb. 14), wie Kirszenbaum ihn in seiner Kindheit in Staszów gesehen hat, ein „Jude auf einer winterlichen Straße“ (1942), ein „Holzsammler“ (1941) sowie eine Winterlandschaft von 1941, bei der unklar bleibt, ob sie eine Gegend in Polen oder in Frankreich zeigen soll. Drei Porträts: ein verschwommen, vermutlich aus der Erinnerung gezeichnetes Bildnis seiner verschollenen Frau Helma, ein Selbstporträt (1947) und ein um 1950 von Alix de Rothschild gezeichnetes Bildnis von Kirszenbaum (Abb. 15) leiten in die Nachkriegszeit über.