Jesekiel Kirszenbaum – Ausstellung in Solingen
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Ausstellung unter der Überschrift „Kunst nach der Shoa“ (Abb. 16) zusammengefasst, betrug nur neun Jahre in Kirszenbaums Leben. Aus ihr stammen aber zwangsläufig die meisten Werke. Anders als in den vorangegangenen Kapiteln stehen sie beispielhaft für größere Werkgruppen, die heute noch in Museen und Privatsammlungen vorhanden sind. Kirszenbaums persönliche Situation, so ist in der Literatur nachzulesen, war verzweifelt. Ohne Geld und Familie, am Boden zerstört durch den Verlust seiner Frau und seines Lebenswerks, musste er sich an den französischen Staat wenden um zu überleben. Er fand Freunde wie Alix de Rothschild, die ihm aus finanzieller und psychischer Not heraushalfen, ihn motivierten wieder künstlerisch zu arbeiten und an Ausstellungen teilzunehmen.
In seinen Gemälden beschäftigte er sich mit den Auswirkungen des Krieges. „Flucht einer Mutter mit zwei Kindern“ (1945, Abb. 16, links) variiert das Thema der ewig wandernden, heimatlosen und fliehenden Juden, das ihn schon seit 1938 in Zeichnungen, Radierungen und Gemälden beschäftigte. Mehrfach malte er Engel, die die „verloren Seelen des Stetls“, für die es „auf der Erde keinen Platz mehr gibt“ (Abb. 17), in die Ewigkeit tragen. Er malte Musiker (Abb. 18), die ebenso wie ein „Sitzender Hausierer“ und ein „Jüdischer Mann mit Tallit“ (beide um 1945, Abb. 19) die Erinnerung an die Volkstypen aus Staszów und der für immer verlorenen Welt des Stetls wachrufen. Einen „Trompeter“ (1946, Abb. 20) und einen „Violinisten“ (1949), beide im Galakostüm, könnte er auch in Paris gesehen haben. Beide verweisen auf ein anderes Thema, das Kirszenbaum in dieser Zeit bearbeitete, Clowns oder allgemeiner den Zirkus (in der Ausstellung nicht vertreten), das von den Malern der École de Paris häufig gewählt wurde, vor allem von Georges Rouault (1871-1958), mit dem Kirszenbaum befreundet gewesen sein soll. Die flächige, leuchtende Farbigkeit dieser Figurenbilder verweist auf die Gruppe der Fauves, vielleicht auf André Derain. Französischen Einfluss, offenbar den des jung verstorbenen Amedeo Modigliani (1884-1920), verrät auch das 1946 gemalte Porträt des jugendlichen Journalisten Robert Giraud (1921-1997, Abb. 21), den Kirszenbaum in Limoges kennen gelernt haben könnte, wo dieser als Mitglied der Résistance von den Deutschen verhaftet und mit dem Tod bedroht worden war und der seit Kriegsende in Paris lebte.
Kirszenbaums Rückbesinnung auf die Kindheit in Staszów führte in diesen Jahren auch zu einer verstärkten Beschäftigung mit dem Alten Testament und anderen religiösen Themen. Unter anderem schuf er ein monumentales Triptychon mit den Propheten Moses, Elija und Jeremias in lebensgroßen Formaten (1947), heute im Tel Aviv Museum of Art (nicht in der Ausstellung). In dieses Umfeld gehört auch eine Gruppe mit Bildnissen von christlichen Heiligen und jüdischen Denkern (1945-47), darunter von seinem eigenen Vater, teils in expressionistischem Duktus, teils im flächigen Stil der Fauves, jedoch meist in dunkleren Farben (Abb. 22-23). Auch die Projektion religiöser Thematiken auf den Ort seiner Kindheit nimmt er wieder auf, jetzt jedoch in prägnanter Farbigkeit: Wieder ist die „Ankunft des Messias im Stetl“ zu sehen, daneben ein „Vorüberfliegender Engel“ über den Gebäuden und Bewohnern der Stadt (beide von 1946), vor ähnlicher Kulisse die Entrückung des Propheten Elija auf einem geflügelten Pferd in einer aquarellierten Zeichnung von 1954, schließlich Juden „Vor einer christlichen Statue in der Stadt“ (um 1947) und kniende „Betende Frauen“ vor einer Mariensäule (1949) (Abb. 24). Erneut in den feinen Grautönen der frühen Pariser Zeit mit kleineren Farbereignissen erscheinen hingegen eine „Versammlung unter dem Baum“, vermutlich ebenfalls eine Erinnerung an Staszów, sowie eine nicht zu lokalisierende „Landschaft“, beide um 1947 entstanden, die in der Ausstellung aufgrund der stilistischen Kongruenz mit einem Blumenstillleben und einer „Landschaft mit Haus“ aus der Zeit der ersten Lagerhaft in Meslay du Maine von 1940 zusammengehängt worden sind (Abb. 25).
Eine wesentliche stilistische Erweiterung erreichte Kirszenbaum, als er am Ende der Vierzigerjahre in einigen Arbeiten mit Wasserfarben die Grenze zur Abstraktion überschritt. Freie, eher organische Formen, wie sie Piet Mondrian und Wassily Kandinsky schon um 1910 erfanden, setzte Kirszenbaum jetzt zu abstrakten Geweben und Arabesken zusammen. Roger Bissière (1886-1964), Mitglied der École de Paris, fand in dieser Zeit zu Tableaus, in denen sich gegenständliche und abstrakte Formen mischen, wie es in Kirszenbaums „Abstraktem Garten“ (1949) und seinem „Fisch mit abstraktem Hintergrund“ (um 1948, Abb. 26, 27), der Fall ist. Deutlich ist der Einfluss von Paul Klee zu sehen, zu dem Kirszenbaum während seines Studiums am Bauhaus eine kollegial-freundschaftliche Beziehung pflegte und dessen Bedeutung für sein Schaffen er in seinen Erinnerungen festhielt. Auch Bissière hat sich in frühen Jahren an Klee orientiert.