Hamburger Klein-Warschau
Durch schwerste körperliche Arbeit und unmenschliche Arbeitbedingungen wuchs bei den Frauen Unzufriedenheit und Wut, die schließlich im Februar 1906 in einem Streik in der Wollkämmerei eskalierten. Zwar brachte der Streik keine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, stärkte aber das Selbstbewusstsein der polnischen Arbeiter. Stanislaus Svoboda, Sohn einer Einwandererfamilie, früher Kleinbauern in Posen, erinnert sich so an die politische Stimmung unter den polnischen Einwanderern: “Wenn du anfingst mit arbeiten, da war das erste: gleich in die Gewerkschaft. Die Polen waren genauso organisiert wie die deutschen Arbeiter. Das sage ich heute noch, obwohl manches zu bemängeln ist an der Gewerkschaft: ohne Gewerkschaft geht das einfach nicht! Die polnischen Einwanderer, die sind, kann man sagen, in die Sozialdemokratie hineingewachsen. Die haben sich automatisch mit eingegliedert.”
Nicht nur für die Gewerkschaften waren die polnischen Arbeiter interessant. Als Posener waren sie Staatsbürger des Deutschen Reiches, hatten somit auch Wahlrecht und wurden auch von den politischen Parteien umworben. Zwar waren die Posener katholisch, wählten also eher konservativ, aber die Industrialisierung führte auch in diesem Punkt zu Veränderungen. Die polnischen Arbeiter suchten in den für sie schweren Zeiten nicht mehr nur in der Kirche Rat, sondern auch bei der Sozialdemokratie. Dies erkannte auch die SPD und schickte 1903 Rosa Luxemburg nach Wilhelmsburg in den Wahlkampf, die auf Polnisch um die Stimmen der Arbeiter warb. Viel musste Rosa Luxemburg ja nicht tun, um die Polen für die Sozialdemokratie zu begeistern, denn trotz ihrer harten Arbeit gehörten die Polen zu den Ärmsten der Stadt. Sie hatten kaum Geld, lebten in menschenunwürdigen Wohnungen, Kellern und Verschlägen. Nicht selten teilten sich gleich zwei Familien eine kleine, dunkle und feuchte Wohnung. Ein Zeitzeuge erinnert sich an die Wohnungsnot so: “Mutter hat gearbeitet, wir waren drei Kinder...Was hat man damals verdient? Hungerlöhne! Da haben wir einen Mann in die Wohnung aufgenommen. Der hatte Nachtschichten in der Fabrik. Wenn wir in der Schule waren, schlief er im Kinderzimmer. In der Industriestraße, im letzten Haus auf der rechten Seite, da haben wir gewohnt. Stühle? Kannte ich gar nicht. Wir haben eine Bank gehabt, da saßen wir drei Kinder, und Mutter auf der anderen Seite. Und dann hat man so gegessen. Wir hatten zwei Zimmer, eine Schlafstube und die Küche. Drei Zimmer konnte man nicht bezahlen. In der Küche stand ein Küchenschrank und die Kohlenkiste. Einen Tisch hatten wir und zwei Bänke.”
In Wilhelmsburg zeigte sich das soziale Elend der polnischen Bevölkerung. Erst allmählich verbesserte sich die Situation. Langsam entstand so etwas wie ein polnisches Gemeinschaftsleben auf der Elbinsel. Das verbindende Element war die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche. Schnell wurde der Wunsch nach einer katholischen Gemeinde und einem polnischen Seelsorger laut. So beteiligten sich die polnischen Zuwanderer finanziell am Bau der St. Bonifatius-Kirche, die in Wilhelmsburg (Groß-Sand / Veringstraße) 1898 fertig gestellt wurde und noch heute steht. Der katholischen Gemeinde ist es auch zu verdanken, dass am Groß-Sand in Wilhelmsburg im Oktober 1893 eine private katholische Schule mit Polnischunterricht eröffnet wurde. Gleichzeitig organisierten sich die Polen in den polnisch-katholischen Vereinen “St. Stanislaus” (seit 1892) und “St. Joseph” (seit 1894). 1906 wurde die St. Bonifatiusgemeinde zu einer eigenständigen Pfarrei. Der erste Geistliche war der Pfarrer Styrinski aus Krakau. Er war zugleich der einzige polnischsprachige Pfarrer der Gemeinde. Seine Nachfolger, die von dem bischhöflichen Generalvikariat in Hildesheim geschickt wurden, sprachen kein Polnisch. Dies führte zu einem offenen Streit zwischen der Gemeinde und dem bischhöflichen Generalvikariat in Hildesheim, zuständig für die Einsetzung der Pfarrer. Unterstützt wurden die Gemeindemitglieder von den Arbeitgebern, die in besseren sozialen Strukturen der Arbeiter auch Vorteile für sich sahen. Jahrelang forderte die Gemeinde Seelsorge in polnischer Sprache, ihre Bemühungen blieben jedoch erfolglos.