Hamburger Klein-Warschau
Heute ist Wilhelmsburg ein Stadtteil von Hamburg, liegt mitten in der Stadt. Doch noch um 1900 war Wilhelmsburg eine selbständige Gemeinde, in der der Anteil polnischer Zuwanderer in der Bevölkerung kurzzeitig sogar auf über 20 Prozent stieg. Damals bekam die Straße “Alte Schleuse” in Wilhelmsburg den Namen “Klein Warschau”.
Offiziell konnten die Einwanderer nicht als Polen registriert werden, denn zwischen 1795 und 1918 verschwand Polen von der Landkarte Europas. Das Land wurde zwischen Preußen, dem Russischen und dem Habsburger Reich aufgeteilt. So sprachen die Einwanderer aus dem Osten polnisch, fühlten sich polnisch, pflegten die polnische Kultur und meistens die katholische Religion, hatten aber entweder einen russischen, österreichischen oder überwiegend preußischen Pass. Es waren größtenteils Arbeitsmigranten, auf der Suche nach einem besseren Leben. Nach Hamburg kamen sie vor allem aus dem Großraum Posen. Sie wurden meistens regelrecht angeworben. Doch eigentlich musste man um die Polen nicht großartig werben. Die politische Situation in ihrer Heimat war dramatisch, die wirtschaftliche Lage katastrophal. Eine Agrarkrise am Ende des 19. Jahrhunderts und die fortschreitende Industrialisierung machten viele Kleinbauern zu Landarbeitern und Tagelöhnern, die ein Dasein in Hunger und Elend fristeten. Da war die Hoffnung auf bessere Beschäftigungsmöglichkeiten in Berlin, im Ruhrgebiet oder eben in Hamburg groß.
Im Vergleich zum Ruhrgebiet kamen die polnischen Migranten relativ spät nach Hamburg, erst Ende der 1880er Jahre. Doch bereits Ende 1890er Jahre gab es im großhamburgischen Raum ca. 5000, meist junge polnische Einwanderer, 1908 waren es bereits 10 000 und fünf Jahre später über 20 000. Viele von ihnen wohnten auf der Elbinsel Wilhelmsburg – 1897 lebten dort 2000, 1906 über 3000 und 1913 über 6000 Einwanderer polnischer Herkunft.[1]
Die Männer schufteten als Hafen- und Fabrikarbeiter vor allem in der Fisch-, Chemie- und Ölindustrie. Oft verrichteten sie die schwersten oder gefährlichsten Arbeiten, wie z.B. das Reinigen der Schiffe von Muschelschalen und Algen. Sie schleppten Steine für das Baugewerbe und brannten Ziegelsteine in den Ziegelbrennereien. Ein Knochenjob in Zwölf-Stunden-Schichten. Die Frauen waren vor allem in der Wollkämmerei (Hamburger Wollkämmerei AG) beschäftigt. Auch hier waren es die härtesten und gefährlichsten Arbeiten, die die Polinnen verrichteten. Zwölf Stunden lang, ohne Pause, mit höchster körperlicher Anstrengung und ständig der Gefahr ausgesetzt durch Unfälle oder gesundheitsgefährdende Stoffe Schaden zu nehmen. Die meisten der Polinnen waren Arbeiterinnen, ein kleiner Teil arbeitete als Dienstmädchen. Nur sehr wenige arbeiteten als Verkäuferinnen oder im Handwerk.
Eine Polin erinnerte sich später an ihre Arbeit in Wilhelmsburg so: “Ich habe in der Wollkämmerei gearbeitet. Da haben fast nur Frauen gearbeitet. Männer brachten die Rohwolle, die kam mit großen Schiffen bis in den Reiherstieg. In der Wollkämmerei zu arbeiten, das war furchtbar, weil da eine große Hitze ist. […] Bei dem Maschinenlärm konnte man kein Wort verstehen oder sprechen. Diese vielen Maschinen, diese große Fabrik, das hat doch alles ein großes Geräusch gegeben! Wenn der Meister kam, hat er geschriehen – wir konnten sonst nichts verstehen. […] Zu Hause musste ich meine Arbeit ja auch noch machen, ich musste doch waschen und kochen. Wir Frauen haben uns schon oft gefragt, wie haben wir das geschafft? Wie haben wir bloß die Arbeit fertig gekriegt?”[2]
[1] Zahlenangaben nach: Joho, Michael: Polnisches Leben in Hamburg / Śladami Polaków w Hamburgu, Hamburg 2011, S. 20.
[2] Diese und nachfolgende Lebenserinnerungen zitiert nach: Einwanderer - Einwohner -Einheimische? Begleittext zur gleichnamigen Ausstellung. Hrsg. v. Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg & Hafen, Hamburg 2008 abrufbar unter http://www.geschichtswerkstatt-wilhelmsburg.de/geschichte-wilhelmsburgs
Durch schwerste körperliche Arbeit und unmenschliche Arbeitbedingungen wuchs bei den Frauen Unzufriedenheit und Wut, die schließlich im Februar 1906 in einem Streik in der Wollkämmerei eskalierten. Zwar brachte der Streik keine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, stärkte aber das Selbstbewusstsein der polnischen Arbeiter. Stanislaus Svoboda, Sohn einer Einwandererfamilie, früher Kleinbauern in Posen, erinnert sich so an die politische Stimmung unter den polnischen Einwanderern: “Wenn du anfingst mit arbeiten, da war das erste: gleich in die Gewerkschaft. Die Polen waren genauso organisiert wie die deutschen Arbeiter. Das sage ich heute noch, obwohl manches zu bemängeln ist an der Gewerkschaft: ohne Gewerkschaft geht das einfach nicht! Die polnischen Einwanderer, die sind, kann man sagen, in die Sozialdemokratie hineingewachsen. Die haben sich automatisch mit eingegliedert.”
Nicht nur für die Gewerkschaften waren die polnischen Arbeiter interessant. Als Posener waren sie Staatsbürger des Deutschen Reiches, hatten somit auch Wahlrecht und wurden auch von den politischen Parteien umworben. Zwar waren die Posener katholisch, wählten also eher konservativ, aber die Industrialisierung führte auch in diesem Punkt zu Veränderungen. Die polnischen Arbeiter suchten in den für sie schweren Zeiten nicht mehr nur in der Kirche Rat, sondern auch bei der Sozialdemokratie. Dies erkannte auch die SPD und schickte 1903 Rosa Luxemburg nach Wilhelmsburg in den Wahlkampf, die auf Polnisch um die Stimmen der Arbeiter warb. Viel musste Rosa Luxemburg ja nicht tun, um die Polen für die Sozialdemokratie zu begeistern, denn trotz ihrer harten Arbeit gehörten die Polen zu den Ärmsten der Stadt. Sie hatten kaum Geld, lebten in menschenunwürdigen Wohnungen, Kellern und Verschlägen. Nicht selten teilten sich gleich zwei Familien eine kleine, dunkle und feuchte Wohnung. Ein Zeitzeuge erinnert sich an die Wohnungsnot so: “Mutter hat gearbeitet, wir waren drei Kinder...Was hat man damals verdient? Hungerlöhne! Da haben wir einen Mann in die Wohnung aufgenommen. Der hatte Nachtschichten in der Fabrik. Wenn wir in der Schule waren, schlief er im Kinderzimmer. In der Industriestraße, im letzten Haus auf der rechten Seite, da haben wir gewohnt. Stühle? Kannte ich gar nicht. Wir haben eine Bank gehabt, da saßen wir drei Kinder, und Mutter auf der anderen Seite. Und dann hat man so gegessen. Wir hatten zwei Zimmer, eine Schlafstube und die Küche. Drei Zimmer konnte man nicht bezahlen. In der Küche stand ein Küchenschrank und die Kohlenkiste. Einen Tisch hatten wir und zwei Bänke.”
In Wilhelmsburg zeigte sich das soziale Elend der polnischen Bevölkerung. Erst allmählich verbesserte sich die Situation. Langsam entstand so etwas wie ein polnisches Gemeinschaftsleben auf der Elbinsel. Das verbindende Element war die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche. Schnell wurde der Wunsch nach einer katholischen Gemeinde und einem polnischen Seelsorger laut. So beteiligten sich die polnischen Zuwanderer finanziell am Bau der St. Bonifatius-Kirche, die in Wilhelmsburg (Groß-Sand / Veringstraße) 1898 fertig gestellt wurde und noch heute steht. Der katholischen Gemeinde ist es auch zu verdanken, dass am Groß-Sand in Wilhelmsburg im Oktober 1893 eine private katholische Schule mit Polnischunterricht eröffnet wurde. Gleichzeitig organisierten sich die Polen in den polnisch-katholischen Vereinen “St. Stanislaus” (seit 1892) und “St. Joseph” (seit 1894). 1906 wurde die St. Bonifatiusgemeinde zu einer eigenständigen Pfarrei. Der erste Geistliche war der Pfarrer Styrinski aus Krakau. Er war zugleich der einzige polnischsprachige Pfarrer der Gemeinde. Seine Nachfolger, die von dem bischhöflichen Generalvikariat in Hildesheim geschickt wurden, sprachen kein Polnisch. Dies führte zu einem offenen Streit zwischen der Gemeinde und dem bischhöflichen Generalvikariat in Hildesheim, zuständig für die Einsetzung der Pfarrer. Unterstützt wurden die Gemeindemitglieder von den Arbeitgebern, die in besseren sozialen Strukturen der Arbeiter auch Vorteile für sich sahen. Jahrelang forderte die Gemeinde Seelsorge in polnischer Sprache, ihre Bemühungen blieben jedoch erfolglos.
Zu dieser Zeit entstanden auch nicht konfessionelle Vereine. Der 1887 gegründete “Klub Polski”, seit 1888 in “Nadzieja” (Hoffnung) umbenannt, mied politische sowie religiöse Themen und war eher ein Geselligkeitsverein. Neben dem in der damaligen Zeit fast schon obligatorischen polnischen Turnverein “Sokół” (dt. Falke, in Wilhelmsburg seit 1905), waren vor allem die Frauenvereine und -organisationen präsent. Bereits 1885 gründeten die Polinnen den Verein “Wieniec” (Kranz), später die Vereine “Wanda”, “Cecylia”, und “Halka”. Diese Vereine kümmerten sich vor allem um die Pflege der polnischen Sprache und Kultur. Insgesamt kann man wohl sagen, dass die polnischen Frauen viel aktiver waren als die Männer. In Wilhelmsburg gehörten den polnischen Frauenvereinen im Jahre 1922 insgesamt 605 Frauen an. Im Vergleich dazu hatte “Sokół” gerade mal 50 Mitglieder. Das Vereinsleben spielte eine zentrale Rolle für die nationale und kulturelle Identität der Polen in Wilhelmsburg. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte jeder zweite polnische Zuwanderer einem der in Wilhelmsburg vertretenen polnischen Vereine an.
Nach dem Ende des I. Weltkrieges veränderte sich die Situation der polnischen Bevölkerung grundlegend, auch für die in Deutschland lebenden “preußischen Polen”. Nach 123 Jahren ohne einen selbständigen Staat wurde am 11. November 1918 die polnische Republik proklamiert. Nach Artikel 91 des Versailler Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 waren die Polen in Preußen verpflichtet, sich innerhalb von zwei Jahren für die Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit oder für die polnische Staatsangehörigkeit und damit den Umzug nach Polen zu entscheiden. Die Abstimmung dauerte jedoch de facto bis 1922. Der Großteil der polnischen Zuwanderer entschied sich für den polnischen Staat. Nie wieder war Wilhelmsburg so polnisch geprägt wie vor 1922. Vom einstigen “Klein Warschau” in der damaligen Straße “Alte Schleuse” ist heute nicht viel zu sehen. Dennoch ist Wilhelmsburg heute ein multikultureller Bezirk mit einem Migrantenanteil von über 50 Prozent, in dem die polnischen, oft stark eingedeutschten Namen auf den Klingelschildern wie “Wischynsky” oder “Pschybilla” mindestens so oft vorkommen wie die türkischen “Ölmez” oder “Çiftçi”. Aber nicht nur die Spuren der “alten” Polen sieht man noch heute in Hamburg-Wilhelmsburg. Der einst so polnische Ort zieht auch die neuen polnischen Migranten magisch an. Vielleicht liegt für sie etwas Heimatliches in der Luft vom alten “Klein Warschau”.
Adam Gusowski, März 2016
Zusatzinformation:
Wie leidenschaftlich sich die Wilhelmsburger Polen im Streit mit dem bischöflichen Generalvikariat für eine Seelsorge in ihrer Muttersprache einsetzten, dokumentiert ihr Brief von 1896: “Euer Hochehrwürden! Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass uns Ihre Predigt vom 26.4. vorigen Monats auf keinen Fall nicht gefallen kann […] In erster Linie sind Sie diejenige Person, wovon der meiste Ärger kommt. […] Nur um des Geldes wegen wird hier gearbeitet, aber nicht um die ewige Seeligkeit […] Nur um des Geldes wegen haben Sie sich schon manche Sohlen kaputtgerissen, hier keinen polnischen Geistlichen rein zu lassen. Denken Sie ja nicht, dass uns das nicht drückt, wie Sie sich hier ausgedrückt haben, mit solchen Worten, die in ein Gotteshaus nicht passen: "Wem das nicht passt, der kann sich eine andere Stellung suchen." Hiermit fragen wir Sie, wo wir dieselbe suchen sollen? Ein Arbeitgeber sind Sie nicht, das Sie sowas anbitten. Die Arbeitgeber wollen selbst, dass wir in der Kirche unsere Genugtuung finden sollen, was wir der Direktion der Wollkämmerei verdanken und keinem anderen; denn sie weiß, dass wir ihr dafür in der Arbeit dankbar sind. Wir würden dasselbe noch mehr fühlen, wenn ein polnischer Geistlicher hier wäre […] Ja, jetzt kommt in erster Linie die Germanisation und der Geldsack. Warum ist der heilige Geist auf die Apostel herab gesendet worden? Doch wohl nicht wegen der Germanisation, sonst wäre es nicht nötig. Warum werden die Missionare so viele Sprachen gelernt, ehe sie die Wahrheit den Heiden verkünden können? Und weshalb soll uns die Muttersprache noch im Gotteshaus gar nicht sein? Gott muss wohl die Polen nicht erschaffen haben? […] Durch Ihre schöne Predigt sind wir alle durchweg noch mehr aufgehetzt und nicht zufrieden, wie Sie sich wohl einbilden. Sie kriegen noch mehr zu wissen, wenn es nicht bald anders wird; Wir haben von den vier verflossenen Jahren ganze Akten voll notiert, wie es hier getrieben wird […] Die Germanisation muss wenigstens in der Kirche beiseite geschafft werden, […] denn da vor dem Throne des Allerhöchsten soll jeder seine richtige Zufriedenheit finden und nicht Ärgernis […] Zu guter Letzt werden Sie uns wohl noch verbieten, dass wir in der Muttersprache nicht beten sollen, wie der Herr Rektor Wedig schon den Kindern verboten hat, und unseren Gesang mit polnischem Quatsch beschimpft hat. […] Ja, Herr Pfarrer, die Schweißpfennige, die Sie von hier bekommen, waren für den polnischen Geistlichen bestimmt, ja wir haben das sogar unterschrieben. Da er sie jetzt nicht bekommt, sind sie ihm wie gestohlen. Ihnen werden sie zur letzten Stunde ein schwerer Stein auf der Brust. Wir brauchen hier einen polnischen Geistlichen, das wissen Sie ganz gut. Folgedessen können Sie nicht sagen, das habe ich nicht gewusst. Heute wollen wir mit den Worten schließen: groß, ja riesig groß ist Ihre Verantwortung. Gezeichnet wir Polen in Wilhelmsburg.”