Ein metropolitaner Geist – Der Theaterwissenschaftler, Dandy und Universalgelehrte Andrzej Wirth (1927–2019)
Besuchte man ihn in den folgenden Berliner Jahren in seiner weitläufigen Charlottenburger Altbauwohnung, stieß man überall auf seine Geschichte. Als ein Stück Kulturweltgeschichte. Schon im Flur einige Handskizzen, Tuschzeichnungen und Widmungsdrucke von Günter Grass, beispielsweise ein paar tanzende Nonnen von 1957. Mit diesen frühen Bildern habe Grass ein Jahr später seine erste Reise von Paris, wo er als Unbekannter an der „Blechtrommel“ schrieb, nach Deutschland zur ersten Lesung bei der Gruppe 47 finanziert. Der Gang dann zum Wohnzimmer, das großformatige Zeichnungen von Wilson schmückten und ein postexpressionistisches Ölporträt Wirths von der Malerin Edda Grossman; davor an der Tür zwei polnische Theaterplakate. Eines von der Warschauer Inszenierung des „Besuchs der alten Dame“. Zur Dürrenmatt-Übersetzung gemeinsam mit Freund Reich-Ranicki meinte Wirth einst mit seinem ironischen Lächeln und slawo-amerikanischem Akzent: „Marcels Deutsch war damals besser als meines, aber mein Polnisch besser als seines!“
Das zweite Plakat galt der polnischen Version von Peter Weiss’ „Marat/Sade“. Wirth hatte Weiss aber nicht nur früh ins Polnische übertragen. Was kaum jemand weiß: Als sich für die Uraufführung im Berliner Schillertheater im April 1964 zunächst kein geeigneter Inszenator fand, hatte Andrzej Wirth den genialen, hernach früh verstorbenen Regisseur Konrad Swinarski aus Polen empfohlen. Mit dessen umjubelter Inszenierung wurde das „Marat/Sade“-Drama schnell zum Welterfolg.
Kunst und Leben. Auch Überleben. Die theatralisch wirkenden Orden auf der Weltkriegsuniform seines Vaters rührten daher, dass dieser als Offizier der polnischen Legion mit den Amerikanern 1943/44 unter anderem bei der Schlacht um Monte Cassino Italien von den Deutschen befreit hatte. Als Vater Wirth in seiner Uniform dann einmal durch Siena lief, hielten ihn die Passanten dort freilich für einen Schauspieler. Andrzej, der Sohn, musste bei dieser Anekdote noch jedes Mal lachen: „Ein Schauspieler war mein Vater auf seine Weise. Er ist nämlich bei Beginn des Krieges in Polen aus einem deutschen Gefangenenlager nachts im Gewand einer Nonne entkommen!“ Eben hieran erinnerten ihn viel später die wie Räbinnen tanzenden Ordensschwestern auf der Zeichnung von Günter Grass.
Andrzej selbst hat sein Leben immer als „Flucht nach vorn“ verstanden. Das wurde auch der Titel seiner auf Gesprächen mit Thomas Irmer beruhenden, 2013 veröffentlichten Autobiografie. Auch zu migrieren empfand er als lebensbewegende, lebensrettende Flucht nach vorne. In seinem liebenswürdig selbstironischen Sarkasmus war er dabei frei von jeder Nostalgie. Auch Erinnerungen waren für ihn der Blick zurück nach vorn. Als universell gebildeter Kopf hatte er früh, vor Brecht, Grass oder Frisch, bereits den Lukrez und Horaz aus dem Lateinischen ins Polnische übersetzt. Wie für Walter Benjamin oder auch Heiner Müller waren für Andrzej Wirth die Geister der Vergangenheit auch die Gespenster der Zukunft: Lukrez als materialistischer Denker, Horaz als Vorbote moderner Liebesslyrik.
Wenn Wirth zuletzt immer weniger auf Deutsch, eher in seinem polnisch geprägten Amerikanisch von seiner so fernen, fast versunkenen Zeit als junger, den Kugeln und Bomben der Besatzer immer wieder entkommender Botengänger der Aufständischen in Warschau vor 75 Jahren erzählte, dann spürte man doch: Es war in ihm da ein Schmerz ganz jenseits des rettenden Scherzes. Eine tiefere Prägung. Und neben dem unwesentlich jüngeren Berliner „Künstlerzahnarzt“ Anatol Godfryd, der über seine Erfahrungen als jüdisch-polnischer Junge im Krieg in den Büchern „Himmel in Pfützen“ und „Der Himmel über Westberlin“ geschrieben hat, ist Andrzej Wirth wohl der letzte in Deutschland lebende Zeuge des Warschauer Aufstands gewesen. Zeuge zudem auch des Warschauer Ghettos, durch dessen Todeszone er einst mit der Straßenbahn zur Schule fahren musste.
Wirth hat in seinen späten Jahren noch in einem Dokumentarfilm über sich mitgewirkt – und viele von ihm selbst so genannte „Kurztexte“ geschrieben. Manchmal Epigramme, oft poetische Aphorismen, Gedankengedichte. Teils auf Deutsch, teils auf Amerikanisch, seltener polnisch. Eine dieser lyrischen Reflexionen hatte er Robert Wilson gewidmet, als er neben seiner Berliner Wohnung noch ein kleines Apartment in Venedig besaß:
„MY LAST TREE
Where shall I plant / My last tree? // Not in Poland: // My family forrest / Is cut in pieces / By three frontiers. // Not in Germany: // Hessische Wälder / Gave only shadow to my school. // And in Venice? // In Venice? // In Venice / No tree / Can produce firm roots.”
Drei Tage vor seinem Tod hat Andrzej mir dann noch den letzten dieser legendären „Kurztexte“ gemailt, eine ATW-Botschaft, die er Freunden für eine Fernreise mit auf den Weg geben wollte. Es waren nur zwei Zeilen:
„G O T T IS / A SUPERIOR ANIMAL“.
Überschrieben war der Text: „Eine bessere Welt“, auch dies in Versalien. Und jetzt ist er selbst fortgereist in eine – anderen Welt.
Peter von Becker, März 2019