Ein metropolitaner Geist – Der Theaterwissenschaftler, Dandy und Universalgelehrte Andrzej Wirth (1927–2019)

Andrzej Wirth in seiner Berliner Wohnung
Andrzej Wirth in seiner Berliner Wohnung

Die Gedanken gehen jetzt zurück, nachdem Andrzej Wirth am Abend des 10. März in einem Berliner Krankenhaus gestorben ist, genau einen Monat vor seinem 92. Geburtstag. Wir waren Freunde und in Berlin-Charlottenburg fast Nachbarn. Eine Woche zuvor hatte er mich zuletzt angerufen mit seiner zwar leisen, etwas brüchig gewordenen Stimme, in der bis dahin noch immer eine Spur seines hellsichtigen schwarzen Humors, seiner weltweisen Ironie mitgeschwungen war. Diesmal klang er freilich ungewohnt traurig: „Ich bin auf den Kanaren, auf Lanzarote.“ Ich dachte, wie schön, doch Andrzej Wirth sagte: „Es ist kalt hier. Ich fühle mich allein und werde ein Flugzeug zurück nehmen.“ Wir wollten uns dann bald wieder zum Abendessen treffen. In Berlin aber bekam er Nierenschmerzen, seine amerikanische Ehefrau brachte ihn in die Klinik, wo ihn ein schneller Tod ereilte. 

Im Freundeskreis war von einem Herzversagen die Rede. Als Andrzej Wirth jedoch vor einigen Jahren schon eine schwere Operation am Herzen überstanden hatte, antwortete er auf meine Frage nach seinem Befinden: „Alles gut. Die Ärzte sagen, ich hätte kein Herz. Das haben die Frauen auch immer gesagt.“

Es war ein Scherz. Halb im Schmerz. Komödie und Tragödie gehörten für ihn als international berühmter Theaterwissenschaftler zusammen. Wie für Shakespeare oder Thomas Bernhard. Und das mit den Frauen? Andrzej war immer ein Homme à femmes, und selbst (oder gerade) als er gebrechlich wurde, begleiteten ihn abends ins Theater meist schöne Frauen als hilfsbereite Geister, zur Freude des bis zuletzt charmanten, hochpräsenten Geistesmenschen.

Auf seinem langen Weg durch die Weltgeschichte, die nicht nur Bühnenspiel war, bedurfte er am Ende tatsächlich der Gehhilfe – ob am Arm jener jüngeren Damen und dazu gestützt auf seinen smarten Silberknaufstock, oder nur solo hinter dem Rollator. Einem verblüffend schicken Teil, das sich im Abglanz seines Herrn in eine Art Fußgänger-Bentley zu verwandeln schien. Seit dem Tod des flamboyanten Kultursoziologen und Schriftstellers Nicolaus Sombart war Andrzej Wirth nämlich auch: Berlins letzter Dandy. 

Hierzu passt noch ein zweiter Wirth-Witz als Paarung von Scherz und Schmerz. Begegnete man ihm, neben den genannten Accessoires mit wehendem weißen Seidenschal, hochgeschlagenen Hemdkrägen und roten Golf- oder schwarzweißen Gigoloschuhen wie aus einem Hollywood-Nostalgiemovie angetan, im Café, auf dem Markt oder im Theater und fragte den alten Freund, wie es ihm gehe, da antwortete er gerne mit einer Anekdote aus seiner ehemaligen Heimat: „Ein jüdischer Kaufmann wird in einem Wald in Polen von Räubern überfallen und niedergestochen. Als man ihn findet und wissen will, ob ihm seine Wunden in Brust und Unterleib wehtun, erwidert der ausgeraubte Jude: Nur, wenn ich lache.“

Diese Pointe findet sich auch in George Taboris jüdisch-christlich-universeller Oster-Komödie „Goldberg-Variationen“, wo Jesus am Kreuz nach dem Lanzenstich durch den römischen Legionär, zu seinen Schmerzen befragt, die nämliche Antwort gibt. Nur wenn ich lache. Bei Andrzej Wirth erfuhr man freilich die Quelle. Wie man im Gespräch mit diesem hochgewitzten Kopf auch sonst immer wieder durch kultur- und zeithistorische Kulissen blickte.

Auf einem Landgut in Włodawa 1927 im Dreiländereck zwischen Ostpolen, Weißrussland und der Ukraine geboren, nahe dem späteren NS-Vernichtungslager Sobibor, hatte der junge Andrzej mit 17 Jahren im Sommer 1944 schon am Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzer teilgenommen und danach den Stalinismus überlebt. Nach dem Krieg studierte er in Warschau Philosophie und Literatur und hatte über Brecht promoviert. 1956-58 lebte er als Hospitant und dramaturgischer Berater auf Einladung des Berliner Ensembles eine Weile in Ostberlin, dann kehrte er zurück nach Warschau.  Einer seiner Freunde war der einige Jahre ältere Marcel Reich-Ranicki. Mit ihm hat Wirth damals Kafkas „Schloss“, Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, den frühen Günter Grass oder auch Max Frisch aus dem Deutschen ins Polnische übersetzt.

Im Tauwetter nach Stalins Tod war er unter anderem Redakteur der legendären Zeitschriften „Polityka“ und „Nowa Kultura“. Einer neuen stalinistischen Eiszeit entkam Andrzej Wirth in den 1960er Jahren durch ein Stipendium in den Westen. Dort lehrte er als Gastprofessor für Literatur, Kulturgeschichte und Theater vornehmlich in den USA, in Amherst, New York, Stanford und auf Empfehlung von Walter Höllerer an der Berliner TU; später oder zwischenrein kamen noch Oxford und in Berlin die Freie Universität dazu. Durch seine Verbindung zu Grass und Frisch gehörte Wirth alsbald auch zur Gruppe 47, deren Auslandstreffen er 1966 in Princeton organisieren half, mit dem dort aufsehenerregenden ersten Revoluzzer-Auftritt von Peter Handke. Dessen selbstreflexives Debütstück „Publikumsbeschimpfung“, in dem Handke an Stelle von einzelnen Charakteren einen sprechenden Chor installiert hatte, begriff Andrzej Wirth bald darauf schon avant lettreals ein Beispiel jenes „postdramatischen“ Theaters, das er selbst später zur maßgeblichen Methode (und manchmal Mode) der Moderne erklären würde.

Ein ganz anderer Sprung: Als auf der Berlinale 2017 Volker Schlöndorffs „Rückkehr nach Montauk“ Premiere hatte und wir über den Film und Max Frischs berühmte „Montauk“-Novelle als Vorlage sprachen, erzählte mir Wirth, dass eigentlich er hinter der ganzen Geschichte stecke: „Die Liebesgeschichte im Mai 1974, die Max Frisch dann in seiner Erzählung beschreibt, war die Affäre mit meiner Studentin Alice, die im Buch zu Lynn wurde. Ich machte in New York gerade ein Seminar über deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Als ich hörte, dass Max zu Lesungen kommen würde, habe ich ihn in mein Seminar eingeladen, und Alice hat ihn dann auch im Auftrag seines New Yorker Verlags betreut. So ist es passiert. Love happens.“

Wirth war überhaupt ein großer Vermittler, war als polnisch-amerikanisch-deutscher Professor mit Verbindungen von Venedig bis Venice/California ein wirklicher Kosmopolit. Vergleichbar insofern allein mit dem 2001 in Santa Monica verstorbenen Landsmann Jan Kott, der mit seinen Büchern als Exil-Pole alle Welt lehrte, Shakespeare neu zu verstehen. Wirth hat seinerseits die polnische (Theater-)Avantgarde von Witkiewicz und Gombrowicz bis Jerzy Grotowski mit in den Westen gebracht und seinen amerikanischen Freund Robert Wilson auf dem Weg zum Weltstar den Deutschen erklärt: indem er etwa bei der legendären Berliner Schaubühnen-Aufführung von „Death, Destruction & Detroit“ 1979 das Geheimnis der zwischen Gefängnis und Maschinenwelt changierenden Szenen als Wilsons Parabel über den Hitler-Intimus Albert Speer entschlüsselte. Für Deutschland entdeckte er, neben vielen anderen, auch den grandiosen jüdisch-galizischen Dichter Bruno Schulz, ein lange Zeit vergessenes Opfer des NS-Terrors.

Dieser Mann mit den zuletzt ganz kurz geschorenen weißen Haaren und einer dunklen Brille gegen das für ihn in den späten Jahren häufig zu grelle Licht, er war ein metropolitaner Geisteskopf. Auf seinen berühmten Hausfesten traten junge Damen gelegentlich in der wie ein Theaterkostüm wohlgehüteten, ordenübersäten Offiziersuniform seines Vaters auf, der im Zweiten Weltkrieg in London der polnischen Exilregierung angehört hatte. Das Detail freilich zeigt: Der Dandy Andrzej Wirth war kein Mann der gewöhnlichen Salons. Er hatte auch im Alltag Sinn fürs Spielerische, für dessen Subtext und Underground – und für den kosmopolitischen Dialog der Kulturen. Weshalb sich eine junge Generalin in der polnischen Kriegsuniform mal eben in eine feingliedrige japanische Butoh-Tänzerin verwandelte. Worauf im Wirths Wohnzimmer noch die die Präsentation einer venezianischen Modemacherin folgte oder die Short-Lecture einer New Yorker Ästhetikprofessorin.

Berühmt und nach eigener selbstironischer Einschätzung durchaus ein bisschen berüchtigt wurde er nach seiner Rückkehr aus den USA allerdings als Begründer des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen. Es stellte ab 1982 nach dem Vorbild der Drama Departments US-amerikanischer Universitäten die deutsche Theaterwissenschaft vom Theoriekopf auch auf die praktischen Füße. Doch dabei wurde es mit Wirths avantgardistischem Segen recht bald zur mitteleuropäischen Brutstätte jenes „postdramatischen“ Theaters, das literarische Stücktexte nurmehr als dekonstruierbares „Material“ für jedwede performative Spielart ansieht: Glanz und Elend der gegenwärtigen Szene. Aus dem Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, abgekürzt ATW wie sein Schöpfer (Andrzej Tadeusz Wirth), sind dann als „best of“ die Regisseure und Autoren René Pollesch, Tim Staffel, Hans-Werner Kroesinger, der Dramatiker (und demnach Anti-Postdramatiker) Moritz Rinke und die Köpfe der Gruppen Rimini Protokoll, She She Pop oder Gob Squat hervorgegangen. Und Wirth war es, der in seinen Gießener Jahren zwischen 1982 und 1992 für Workshops und Kurse Künstler und Geister wie Robert Wilson, Heiner Müller, George Tabori oder Marina Abramovic in die sonst eher stille hessische Provinz gebracht hat.

Besuchte man ihn in den folgenden Berliner Jahren in seiner weitläufigen Charlottenburger Altbauwohnung, stieß man überall auf seine Geschichte. Als ein Stück Kulturweltgeschichte. Schon im Flur einige Handskizzen, Tuschzeichnungen und Widmungsdrucke von Günter Grass, beispielsweise ein paar tanzende Nonnen von 1957. Mit diesen frühen Bildern habe Grass ein Jahr später seine erste Reise von Paris, wo er als Unbekannter an der „Blechtrommel“ schrieb, nach Deutschland zur ersten Lesung bei der Gruppe 47 finanziert. Der Gang dann zum Wohnzimmer, das großformatige Zeichnungen von Wilson schmückten und ein postexpressionistisches Ölporträt Wirths von der Malerin Edda Grossman; davor an der Tür zwei polnische Theaterplakate. Eines von der Warschauer Inszenierung des „Besuchs der alten Dame“. Zur Dürrenmatt-Übersetzung gemeinsam mit Freund Reich-Ranicki meinte Wirth einst mit seinem ironischen Lächeln und slawo-amerikanischem Akzent: „Marcels Deutsch war damals besser als meines, aber mein Polnisch besser als seines!“

Das zweite Plakat galt der polnischen Version von Peter Weiss’ „Marat/Sade“. Wirth hatte Weiss aber nicht nur früh ins Polnische übertragen. Was kaum jemand weiß: Als sich für die Uraufführung im Berliner Schillertheater im April 1964 zunächst kein geeigneter Inszenator fand, hatte Andrzej Wirth den genialen, hernach früh verstorbenen Regisseur Konrad Swinarski aus Polen empfohlen. Mit dessen umjubelter Inszenierung wurde das „Marat/Sade“-Drama schnell zum Welterfolg.

Kunst und Leben. Auch Überleben. Die theatralisch wirkenden Orden auf der Weltkriegsuniform seines Vaters rührten daher, dass dieser als Offizier der polnischen Legion mit den Amerikanern 1943/44 unter anderem bei der Schlacht um Monte Cassino Italien von den Deutschen befreit hatte. Als Vater Wirth in seiner Uniform dann einmal durch Siena lief, hielten ihn die Passanten dort freilich für einen Schauspieler. Andrzej, der Sohn, musste bei dieser Anekdote noch jedes Mal lachen: „Ein Schauspieler war mein Vater auf seine Weise. Er ist nämlich bei Beginn des Krieges in Polen aus einem deutschen Gefangenenlager nachts im Gewand einer Nonne entkommen!“ Eben hieran erinnerten ihn viel später die wie Räbinnen tanzenden Ordensschwestern auf der Zeichnung von Günter Grass. 

Andrzej selbst hat sein Leben immer als „Flucht nach vorn“ verstanden. Das wurde auch der Titel seiner auf Gesprächen mit Thomas Irmer beruhenden, 2013 veröffentlichten Autobiografie. Auch zu migrieren empfand er als lebensbewegende, lebensrettende Flucht nach vorne. In seinem liebenswürdig selbstironischen Sarkasmus war er dabei frei von jeder Nostalgie. Auch Erinnerungen waren für ihn der Blick zurück nach vorn. Als universell gebildeter Kopf hatte er früh, vor Brecht, Grass oder Frisch, bereits den Lukrez und Horaz aus dem Lateinischen ins Polnische übersetzt. Wie für Walter Benjamin oder auch Heiner Müller waren für Andrzej Wirth die Geister der Vergangenheit auch die Gespenster der Zukunft: Lukrez als materialistischer Denker, Horaz als Vorbote moderner Liebesslyrik. 

Wenn Wirth zuletzt immer weniger auf Deutsch, eher in seinem polnisch geprägten Amerikanisch von seiner so fernen, fast versunkenen Zeit als junger, den Kugeln und Bomben der Besatzer immer wieder entkommender Botengänger der Aufständischen in Warschau vor 75 Jahren erzählte, dann spürte man doch: Es war in ihm da ein Schmerz ganz jenseits des rettenden Scherzes. Eine tiefere Prägung. Und neben dem unwesentlich jüngeren Berliner „Künstlerzahnarzt“ Anatol Godfryd, der über seine Erfahrungen als jüdisch-polnischer Junge im Krieg in den Büchern „Himmel in Pfützen“ und „Der Himmel über Westberlin“ geschrieben hat, ist Andrzej Wirth wohl der letzte in Deutschland lebende Zeuge des Warschauer Aufstands gewesen. Zeuge zudem auch des Warschauer Ghettos, durch dessen Todeszone er einst mit der Straßenbahn zur Schule fahren musste.

Wirth hat in seinen späten Jahren noch in einem Dokumentarfilm über sich mitgewirkt – und viele von ihm selbst so genannte „Kurztexte“ geschrieben. Manchmal Epigramme, oft poetische Aphorismen, Gedankengedichte. Teils auf Deutsch, teils auf Amerikanisch, seltener polnisch. Eine dieser lyrischen Reflexionen hatte er Robert Wilson gewidmet, als er neben seiner Berliner Wohnung noch ein kleines Apartment in Venedig besaß:

„MY LAST TREE

Where shall I plant / My last tree? // Not in Poland: // My family forrest / Is cut in pieces / By three frontiers. // Not in Germany: // Hessische Wälder / Gave only shadow to my school. // And in Venice? // In Venice? // In Venice / No tree / Can produce firm roots.”

Drei Tage vor seinem Tod hat Andrzej mir dann noch den letzten dieser legendären „Kurztexte“ gemailt, eine ATW-Botschaft, die er Freunden für eine Fernreise mit auf den Weg geben wollte. Es waren nur zwei Zeilen:

„G O T T  IS / A SUPERIOR ANIMAL“. 

Überschrieben war der Text: „Eine bessere Welt“, auch dies in Versalien. Und jetzt ist er selbst fortgereist in eine – anderen Welt. 

 

Peter von Becker, März 2019

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  • Andrzej Wirth in seiner Berliner Wohnung

    Andrzej Wirth in seiner Berliner Wohnung.
  • Andrzej Wirth in seiner Berliner Wohnung

    Andrzej Wirth in seiner Berliner Wohnung neben der Offiziersuniform seines Vaters, der im Zweiten Weltkrieg in London der polnischen Exilregierung angehört hatte.
  • Der Berliner Schriftsteller und Kulturpublizist Peter von Becker

    Als langjähriger Freund und Vertrauter erinnert an Andrzej Wirths Leben und Wirken der Berliner Schriftsteller und Kulturpublizist Peter von Becker.