Ein metropolitaner Geist – Der Theaterwissenschaftler, Dandy und Universalgelehrte Andrzej Wirth (1927–2019)

Andrzej Wirth in seiner Berliner Wohnung
Andrzej Wirth in seiner Berliner Wohnung

Im Tauwetter nach Stalins Tod war er unter anderem Redakteur der legendären Zeitschriften „Polityka“ und „Nowa Kultura“. Einer neuen stalinistischen Eiszeit entkam Andrzej Wirth in den 1960er Jahren durch ein Stipendium in den Westen. Dort lehrte er als Gastprofessor für Literatur, Kulturgeschichte und Theater vornehmlich in den USA, in Amherst, New York, Stanford und auf Empfehlung von Walter Höllerer an der Berliner TU; später oder zwischenrein kamen noch Oxford und in Berlin die Freie Universität dazu. Durch seine Verbindung zu Grass und Frisch gehörte Wirth alsbald auch zur Gruppe 47, deren Auslandstreffen er 1966 in Princeton organisieren half, mit dem dort aufsehenerregenden ersten Revoluzzer-Auftritt von Peter Handke. Dessen selbstreflexives Debütstück „Publikumsbeschimpfung“, in dem Handke an Stelle von einzelnen Charakteren einen sprechenden Chor installiert hatte, begriff Andrzej Wirth bald darauf schon avant lettreals ein Beispiel jenes „postdramatischen“ Theaters, das er selbst später zur maßgeblichen Methode (und manchmal Mode) der Moderne erklären würde.

Ein ganz anderer Sprung: Als auf der Berlinale 2017 Volker Schlöndorffs „Rückkehr nach Montauk“ Premiere hatte und wir über den Film und Max Frischs berühmte „Montauk“-Novelle als Vorlage sprachen, erzählte mir Wirth, dass eigentlich er hinter der ganzen Geschichte stecke: „Die Liebesgeschichte im Mai 1974, die Max Frisch dann in seiner Erzählung beschreibt, war die Affäre mit meiner Studentin Alice, die im Buch zu Lynn wurde. Ich machte in New York gerade ein Seminar über deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Als ich hörte, dass Max zu Lesungen kommen würde, habe ich ihn in mein Seminar eingeladen, und Alice hat ihn dann auch im Auftrag seines New Yorker Verlags betreut. So ist es passiert. Love happens.“

Wirth war überhaupt ein großer Vermittler, war als polnisch-amerikanisch-deutscher Professor mit Verbindungen von Venedig bis Venice/California ein wirklicher Kosmopolit. Vergleichbar insofern allein mit dem 2001 in Santa Monica verstorbenen Landsmann Jan Kott, der mit seinen Büchern als Exil-Pole alle Welt lehrte, Shakespeare neu zu verstehen. Wirth hat seinerseits die polnische (Theater-)Avantgarde von Witkiewicz und Gombrowicz bis Jerzy Grotowski mit in den Westen gebracht und seinen amerikanischen Freund Robert Wilson auf dem Weg zum Weltstar den Deutschen erklärt: indem er etwa bei der legendären Berliner Schaubühnen-Aufführung von „Death, Destruction & Detroit“ 1979 das Geheimnis der zwischen Gefängnis und Maschinenwelt changierenden Szenen als Wilsons Parabel über den Hitler-Intimus Albert Speer entschlüsselte. Für Deutschland entdeckte er, neben vielen anderen, auch den grandiosen jüdisch-galizischen Dichter Bruno Schulz, ein lange Zeit vergessenes Opfer des NS-Terrors.

Dieser Mann mit den zuletzt ganz kurz geschorenen weißen Haaren und einer dunklen Brille gegen das für ihn in den späten Jahren häufig zu grelle Licht, er war ein metropolitaner Geisteskopf. Auf seinen berühmten Hausfesten traten junge Damen gelegentlich in der wie ein Theaterkostüm wohlgehüteten, ordenübersäten Offiziersuniform seines Vaters auf, der im Zweiten Weltkrieg in London der polnischen Exilregierung angehört hatte. Das Detail freilich zeigt: Der Dandy Andrzej Wirth war kein Mann der gewöhnlichen Salons. Er hatte auch im Alltag Sinn fürs Spielerische, für dessen Subtext und Underground – und für den kosmopolitischen Dialog der Kulturen. Weshalb sich eine junge Generalin in der polnischen Kriegsuniform mal eben in eine feingliedrige japanische Butoh-Tänzerin verwandelte. Worauf im Wirths Wohnzimmer noch die die Präsentation einer venezianischen Modemacherin folgte oder die Short-Lecture einer New Yorker Ästhetikprofessorin.

Berühmt und nach eigener selbstironischer Einschätzung durchaus ein bisschen berüchtigt wurde er nach seiner Rückkehr aus den USA allerdings als Begründer des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen. Es stellte ab 1982 nach dem Vorbild der Drama Departments US-amerikanischer Universitäten die deutsche Theaterwissenschaft vom Theoriekopf auch auf die praktischen Füße. Doch dabei wurde es mit Wirths avantgardistischem Segen recht bald zur mitteleuropäischen Brutstätte jenes „postdramatischen“ Theaters, das literarische Stücktexte nurmehr als dekonstruierbares „Material“ für jedwede performative Spielart ansieht: Glanz und Elend der gegenwärtigen Szene. Aus dem Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, abgekürzt ATW wie sein Schöpfer (Andrzej Tadeusz Wirth), sind dann als „best of“ die Regisseure und Autoren René Pollesch, Tim Staffel, Hans-Werner Kroesinger, der Dramatiker (und demnach Anti-Postdramatiker) Moritz Rinke und die Köpfe der Gruppen Rimini Protokoll, She She Pop oder Gob Squat hervorgegangen. Und Wirth war es, der in seinen Gießener Jahren zwischen 1982 und 1992 für Workshops und Kurse Künstler und Geister wie Robert Wilson, Heiner Müller, George Tabori oder Marina Abramovic in die sonst eher stille hessische Provinz gebracht hat.

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  • Andrzej Wirth in seiner Berliner Wohnung

    Andrzej Wirth in seiner Berliner Wohnung.
  • Andrzej Wirth in seiner Berliner Wohnung

    Andrzej Wirth in seiner Berliner Wohnung neben der Offiziersuniform seines Vaters, der im Zweiten Weltkrieg in London der polnischen Exilregierung angehört hatte.
  • Der Berliner Schriftsteller und Kulturpublizist Peter von Becker

    Als langjähriger Freund und Vertrauter erinnert an Andrzej Wirths Leben und Wirken der Berliner Schriftsteller und Kulturpublizist Peter von Becker.