Dichtung, Mythen, Europa: Zbigniew Herbert
Das zweite Mal nach Deutschland kam Herbert allerdings auf Einladung des Vereins Inter Nationes, einer Organisation, die deutsches Kulturgut im Ausland verbreiten sollte, also eine Art Goethe-Institut (mit dem der Verein im Jahr 2000 auch fusionierte). Der Verein stand dem Bundespresseamt nahe. Dass der polnische Dichter Mitte 1966 eingeladen wurde, ist deswegen bemerkenswert, da die offizielle Zäsur in der Polenpolitik der BRD erst im Dezember 1966 unter Willy Brandt erfolgen sollte. In dieser Zeit lernte Herbert Günter Grass, Günter Kunert und Ernst Jandl kennen. In den folgenden Jahren sollte Herbert selbst tatsächlich zum Kulturmittler werden. Er unterstützte seinen Verlag bei der Suche nach polnischen Autoren und übersetzte Max Frischs Drama „Triptychon“ in seine Muttersprache.
Als ihm 1997 der Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie verliehen wurde, war die Zeit des Reisens länger vorbei. Ein schweres Asthma setzte dem Dichter schwer zu, so dass für ihn Jurek Becker den Preis entgegennahm. Aus Anlass dieses Preises schrieb Herbert: „Es ist mir wirklich egal, ob sie mir die Anerkennung als Europäer verleihen. Ich habe nie aufgehört, Bürger dieser blutigen Halbinsel zu sein, die – mit wenigen Ausnahmen, so voll ist von Unfreiheit, Tyrannei, Leid, Ausbeutung, Heuchelei, Scheiterhaufen und Kriege.“ Diese Zeilen hat Becker freilich bei der Preisverleihung nicht vorgelesen. Sie sind auch ein erstaunlich hartes Urteil über Europa. Andernfalls hätte er wohl nicht diesen Preis verliehen bekommen – und würde heute generell nicht von vielen als polnischer Dichter, sondern als europäischer Dichter aus Polen angesehen werden.
Durs Grünbein, ein bekannter Dresdner Autor, schreibt in einem offenen Brief, wie er gereist ist nach Orvieto und Amsterdam, dem Ruf von Herberts Büchern folgend, um die Kunstwerke italienischer und niederländischer Meister zu sehen. Ist es nicht die Begeisterung, der Respekt, die Neugier auf die gemeinsame und doch fremde Geschichte und Kultur in Europa, die dieses Europa ausmacht? Dann ist jeder Grünbein, der reist, ein Erfolg. Doch was ist schon Erfolg? Dies könnte eine Frage von „Herrn Cogito“ sein. Herr Cogito ist eine wiederkehrende Figur in Herberts Werk. Als eine Art lyrisches Alter Ego des Autors reflektiert Herr Cogito über eine ganze Menge Dinge, die – typisch – gegensätzlich scheinen und doch zusammengehören: das Leben als Pole 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und grundlegende existenzielle Fragestellungen; Feigheit, Leid und Tod einerseits und sein Verhältnis zu seinen Eltern andererseits.
„Letztlich werden Cogitos ‚Schwächen‘ – seine Unfähigkeit zum abstrakten Denken, seine Ablehnung von Dogmatismus, seine sehr menschlichen, kleinlichen Ängste und Befürchtungen, seine Gefühle der Unzulänglichkeit und die damit einhergehende Selbstironie – zu seinen größten Stärken und Tugenden.“ So fasst der US-amerikanischer Literaturkritiker R. K. Wilson zusammen, was Zbigniew Herberts Gedichte so menschlich und damit so bedeutend macht.
Trotz seiner vielen internationalen Auszeichnungen blieb der Lemberger ein umgänglicher Mensch. Seine charmante Art betonen viele seiner Weggefährten aus Deutschland, Polen und den USA. Auch ein Lebemann soll er bisweilen gewesen sein, der einer Romanze nicht abgeneigt war, behauptet eine Biografin.[1]
Zbigniew Herbert verstarb am 28. Juli 1998 in Warschau (Warszawa). Postum wurde ihm der Orden des Weißen Adlers, Order Orła Białego, verliehen, die höchste zivile Auszeichnung Polens. 2008 und 2018, also zehn und zwanzig Jahre nach seinem Tod, wurde in Polen seiner mit Zbigniew-Herbert-Jahren gedacht, denen sich auch Veranstaltungen etwa in Österreich angeschlossen haben. 2010 wurde die Herbert-Stiftung (Fundacja im. Zbigniewa Herberta) gegründet, die seit 2013 jährlich einen internationalen Literaturpreis verleiht (2020 an den genannten Durs Grünbein). Seine Werke wurden in 38 Sprachen übersetzt (damit steht er unter den polnischen Autoren an fünfter Stelle) – ins Englische mehrmals. Sie werden auch heute noch verlegt und von Literaturwissenschaftler*innen und -liebhaber*innen gelesen und besprochen.
Marek Firlej, Januar 2021
[1] Kraszewski, Charles, Review: Joanna Siedlecka, Pan od poezji: o Zbigniewie Herbercie [Lord of Poetry: About Zbigniew Herbert], in: The Polish Review 47 (2002), 416–420. http://www.jstor.org/stable/25779351