Bronisław Huberman. Vom Wunderkind zum Kämpfer gegen den Nationalsozialismus
„Ich bin Pole, Jude, freier Künstler und Paneuropäer. In jeder dieser vier Eigenschaften von mir muss ich den Hitlerismus als meinen Todfeind ansehen, den mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen mir meine Ehre und mein Gewissen, meine Überlegung ebenso wie mein Impuls gebieten“, schrieb Huberman am 18. Oktober 1933 an einen Bekannten.[1] Als engagierter Verfechter der seit 1922 von dem japanisch-österreichischen Philosophen Richard Coudenhove-Kalergi (1894-1972) propagierten Paneuropa-Idee trat er selbst mit Schriften zu diesem Thema hervor und agitierte seit Anfang der Dreißigerjahre öffentlich gegen Adolf Hitler. Anlässlich des Erscheinens seiner Schrift „Vaterland Europa“ 1932 in Berlin schrieb er im Oktober des Jahres, während er seine letzten Konzerte in Deutschland gab, über Hitler in der Neuen Leipziger Zeitung: „Die ganze Richtung ist falsch. Sein Weg ist ein Holzweg.“[2] Als er im Mai 1933 in Wien von dem befreundeten Dirigenten Wilhelm Furtwängler (1886-1954) während des Johannes-Brahms-Festes gebeten wurde, in der kommenden Saison in Berlin zu konzertieren, lehnte Huberman ab. Auf Furtwänglers erneute, schriftliche Einladung hin publizierte Huberman in europäischen und US-amerikanischen Tageszeitungen einen Antwortbrief, in dem er die in Deutschland auf allen Kulturgebieten herrschende „Rassenauslese“ und die Situation „jener Museumsdirektoren, Kapellmeister und Musiklehrer“ anprangerte, „die wegen ihrer jüdischen Abstammung oder abweichenden politischen oder sogar nur apolitischen Einstellung entlassen wurden“, Gründe, so Huberman, „die mich augenblicklich von Deutschland trennen“ und die trotz der engen Verbindung zu deutschen Freunden und zur deutschen Musik einen „Gewissenszwang, Deutschland zu entsagen“ bewirkten.[3] Spätestens seit diesem Vorfall galt Huberman in offiziellen Publikationen der Nationalsozialisten „als fanatischer Hetzer gegen Deutschland“.[4]
Bronisław Huberman kam am 19. Dezember 1882 in Częstochowa im russisch regierten Kongresspolen als Sohn des Rechtsanwalts Jakub (Jankiel) Huberman und dessen Ehefrau Aleksandra, geborene Goldman, auf die Welt. Die Einkünfte des Vaters, der in einer Kanzlei angestellt war, reichten kaum um seiner Frau und den drei Söhnen den Lebensunterhalt zu sichern. Früh zeigte sich bei Bronisław ein außerordentliches musikalisches Talent, das die Familie – der Vater war nach Hubermans eigener Aussage ein leidenschaftlicher Musikfreund – trotz der finanziellen Probleme förderte. Als Sechsjähriger erhielt er Unterricht am Warschauer Konservatorium bei dem Geiger Mieczysław Michałowicz (1872-nach 1935), der ihn zwei Jahre lang ausbildete, sowie bei Izydor Lotto (1840-1927), Maurycy Rosen (1868?-nach 1938) und beim Konzertmeister des Warschauer Opernorchesters, Stanisław Barcewicz (1858-1929). Im Jahr darauf trat er erstmals öffentlich auf. (Abb. 1) Wieder sparte die Familie und ermöglichte ihm im Alter von neun Jahren eine Reise nach Berlin und ein Vorspiel bei dem Violinisten, Dirigenten und Komponisten Joseph Joachim (1831-1907), dem einflussreichsten Musiker seiner Zeit und Gründungsdirektor der Königlichen akademischen Hochschule für Musik in Berlin. Obwohl Joachim „Wunderkinder“ hasste, war er vom Talent des Jungen überzeugt und öffnete ihm alle Türen. Im Sommer 1892 konzertierte Bronisław in österreichischen Kurorten wie Karlsbad, Marienbad und Ischl und erhielt eine Audienz beim Kaiser in Wien.
[1] Huberman an einen Bekannten, Brief vom 18.10.1933, Nachlass Huberman, Felicja Blumental Music Center, Tel-Aviv, zitiert nach von der Lühe 1997 (siehe Literatur), Seite 11
[2] Vaterland Europa. Bronislaw Huberman über den Weg zu Wohlstand, hohen Löhnen, Warenabsatz, Freiheit und Frieden in Europa, in: Neue Leipziger Zeitung, Nr. 297, 23.10.1932, zitiert nach von der Lühe 1997 (siehe Literatur), Seite 11
[3] Die Kunst im Dritten Reich. Hubermans Verzicht ..., Prager Tagblatt vom 13.9.1933 (siehe Quellen)
[4] „Seit 1933 ein fanatischer Hetzer gegen Deutschland.“ (Lexikon der Juden in der Musik 1940, siehe Antisemitische Publikationen)
Ein Stipendium ermöglichte es ihm, ab dem Winter 1892/93 in Berlin bei dem Joachim-Schüler und neuen Direktor der Musikhochschule, dem aus der Schweiz stammenden Geiger Carl Markees (1865-1926), und bei Charles Grigorowitsch, einem Schüler des polnischen Violinisten Henryk Wieniawski (1835-1880), zu studieren. Zu dem von Joachim ausgearbeiteten Lehrplan gehörten außerdem Unterricht bei Professoren für Harmonielehre und Klavier und ein Violinkurs bei Joachim selbst. Auf dessen Veranlassung besuchte er ein Konzert des polnischen Pianisten Artur Rubinstein (1887-1982) und musste diesem auch vorspielen. „Mit 12 Jahren hatte ich die letzte […] Unterrichtsstunde“, berichtete er später in seiner Schrift „Aus der Werkstatt des Virtuosen“.[5] Seitdem gab er Konzerte in den Niederlanden, Belgien, Rumänien, Paris und London. Wie es heißt, finanzierte der polnische Magnat, Unternehmer und Philanthrop Władysław Zamoyski (1853-1924) dem jungen Violinisten eine Stradivari-Geige, die zweimal, 1919 aus dem Hotel und endgültig 1936 aus der Garderobe, gestohlen wurde. Im Januar 1895 (Abb. 2) erregte er in Wien Aufsehen als Begleiter der spanischen Operndiva Adelina Patti (1843-1919), mit einem Solokonzert im Saal Bösendorfer[6] und mit dem Violinkonzert von Johannes Brahms, das er in Anwesenheit des Komponisten sowie von Anton Bruckner, Johann Strauß und Gustav Mahler im Großen Musikvereinssaal aufführte.[7] Einen Monat später erhielt er das Angebot, für ein garantiertes Honorar von unglaublichen 100.000 Österreichischen Gulden eine Konzerttournee durch die Vereinigten Staaten von Amerika zu unternehmen,[8] die er tatsächlich 1896 (Abb. 3) antrat und die bis ins Folgejahr dauerte. Im Winter 1897/98 schloss sich eine Russlandtournee an. Im Frühjahr 1898 waren die Kräfte des inzwischen Fünfzehnjährigen soweit erschöpft, dass er sich für vier Jahre aus der Öffentlichkeit zurückzog. (Abb. 4)
Ab 1902 trat Huberman wieder auf Orchesterbühnen in ganz Europa auf. Mehrfach war er in Breslau zu hören, wo er 1906 Solo-Werke von Johann Sebastian Bach aufführte.[9] Im Januar 1908 konzertierte er in Berlin zusammen mit dem Mozart-Orchester im Mozartsaal des Neuen Schauspielhauses.[10] Im Juli 1910 heiratete er in London die Berliner Schauspielerin Elsa Marguérite Galafrés (1879-1977). Die Ehe, aus der ein Sohn hervorging, wurde 1913 geschieden. Weltweite Tourneen führten ihn in den folgenden beiden Jahrzehnten in die europäischen Musikmetropolen, nach Russland, in die USA, nach Australien und Südostasien.[11] Während des Ersten Weltkriegs lebte er vorwiegend in Deutschland und unternahm nur gelegentlich Tourneen nach Polen und Österreich. An drei Tagen im April 1917 führte er in der Berliner Sing-Akademie gemeinsam mit dem Pianisten und Komponisten Eugen d’Albert (1864-1932) sämtliche Sonaten für Violine und Klavier von Beethoven auf.[12] Außerdem konzertierte er regelmäßig mit den Berliner Philharmonikern, die ab 1922 von Furtwängler geleitet wurden.
[5] Huberman 1912 (siehe Eigene Schriften), Seite 21
[6] „ […] überraschendes Feuer aber strömte von dem kleinen und doch wieder so großen Violinvirtuosen Bronislaw Hubermann [sic!] aus, der einer glücklichen, ehrenreichen Zukunft entgegenschreitet. […] Der kleine Hubermann erschien uns und allen Anderen wie ein Zaubermännchen und nicht wie ein Wunderknabe herkömmlicher Factur […] er ist in Wirklichkeit ein außergewöhnliches Talent, das jetzt schon Großes leistet, für die Zukunft aber Gewaltiges verspricht.“ (Deutsches Volksblatt, Wien, 1.2.1895, Morgenausgabe, Seite 1, Online-Ressource: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=dvb&datum=18950201&query=%22Bronislaw%22+%22Huberman%22&ref=anno-search&seite=1). – Am 20. März 1895 gastierte er erneut im Saal Bösendorfer in Wien, wo er unter anderem das 2. Violinkonzert von Henryk Wieniawski aufführte (Konzertprogramm Saal Bösendorfer, VI. Concert vom 20.3.1895, online: http://bronislawhuberman.com/wp-content/uploads/2012/01/BN079_W.jpg)
[7] Platzer 2019 (siehe Literatur), Seite 60
[8] „Dem jungen Geigenvirtuosen Bronislaw Hubermann [sic!] wurde der verlockende Antrag unterbreitet, gegen die Sicherstellung eines Ertrages von 100.000 fl. eine Konzerttournée durch Amerika zu unternehmen. Die Mutter und die Freunde Hubermann’s haben bisher noch keinen Entschluß gefaßt.“ (Neuigkeits-Welt-Blatt, Wien, 22. Jahrgang, Nr. 44, 22.2.1895, Seite 12, Online-Ressource: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nwb&datum=18950222&seite=12&zoom=33&query=%22Bronislaw%22%2B%22Huberman%22&ref=anno-search) – Der Betrag von 100.000 Gulden soll nach aktuellen Tabellen einer Kaufkraft von 1 Million Euro entsprochen haben.
[9] Maria Zduniak: Bachrezeption in Breslau im 19. Jahrhundert, in: Alte Musik als ästhetische Gegenwart. Bach, Händel, Schütz, herausgegeben von Dietrich Berke und Dorothee Hanemann, Kassel 1987, Seite 147 f.
[10] Konzertprogramm vom 22.1.1908, Ernst Henschel Collection, British Library, London, http://www.concertprogrammes.org.uk/html/search/verb/GetRecord/4575/
[11] Von der Lühe 1997 (siehe Literatur), Seite 10; von der Lühe 2017 (siehe Online)
[12] Konzertprogramme vom 19., 21. und 23.4.1917, Ernst Henschel Collection, British Library, London, http://www.concertprogrammes.org.uk/html/search/verb/GetRecord/4580/
Hubermans Popularität in Deutschland dokumentieren auch zwischen 1915 und 1921 entstandene Porträts der in Berlin ansässigen Maler und Grafiker Emil Orlik (1870-1932, Abb. 5), Lesser Ury (1861-1931, Abb. 6) und Eugen Spiro (1874-1972). Von 1923 an begleitete ihn für zwölf Jahre und auch auf den weltweiten Konzertreisen der in Berlin ansässige Pianist Siegfried Schultze (1897-1989). Musikalisch widmete sich Huberman den großen Violinkonzerten und ‑sonaten, mit besonderer Leidenschaft aber auch der Kammermusik. Trios und Quartetts führte er zusammen mit Artur Schnabel (1882-1951), Pablo Casals (1876-1973) und Paul Hindemith (1895-1963) auf. Im November 1926 brachte er in Wien zusammen mit den Berliner Philharmonikern das 1. Violinkonzert des polnischen Komponisten Karol Szymanowski (1882-1937) zur Erstaufführung.
Erschüttert von den politischen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs begann Huberman Anfang der Zwanzigerjahre sich für die große Politik zu interessieren. Während er die Wintermonate der Jahre 1920 bis 1924 auf Konzerttourneen in den USA verbrachte, meinte er im föderalen System der Vereinigten Staaten mit ihrer wirtschaftlichen Prosperität das Vorbild für ein friedliches und vereintes Europa zu erkennen. Seine in Nordamerika gewonnenen Eindrücke und Erfahrungen führten ihn zu einem öffentlichen Engagement für ein föderales, bundesstaatlich verfasstes Europa, also einen europäischen Bundesstaat, den er dem damaligen Sprachgebrauch folgend als Paneuropa bezeichnete. Ab 1924 wurde er in Reden und Zeitungsbeiträgen politisch aktiv. Mit Coudenhove-Kalergi, der seit 1922 die Paneuropa-Idee propagiert und 1924 die Paneuropa-Union gegründet hatte, entwickelte sich eine enge Freundschaft, die bis zu Hubermans Tod hielt. Als am 10. Juli 1925 im Berliner 8 Uhr-Abendblatt ein Interview mit Huberman erschien, schrieb Coudenhove-Kalergi ihm einen Brief: „Ich bin gerührt von der Entschiedenheit, mit der Sie sich darin für Paneuropa einsetzen.“[13] In seinem Antwortschreiben konnte Huberman berichten, dass die Pariser Ausgabe des New York Herald „das Berliner Interview in sensationeller Aufmachung nachgedruckt hat.“[14] Es entwickelte sich ein reger Briefverkehr, in dem Huberman und Coudenhove-Kalergi europapolitische Fragen erörterten, Informationen austauschten und Reisepläne abstimmten um Treffen zu arrangieren.
1925 verfasste Huberman eine erste Schrift zu diesem Thema, „Mein Weg zu Paneuropa“, die Coudenhove-Kalergi im zweiten Jahrgang der Zeitschrift Paneuropa veröffentlichte und die offenbar auch als Sonderdruck erschien.[15] Als Triebfedern des europäischen Einigungsprozesses, wie Huberman ihn sah, sollten vorrangig ökonomische und wohlfahrtspolitische Erwägungen wirken, die er im US-amerikanischen Fordismus der Zwanzigerjahre, also in der arbeitsteiligen industriellen Warenproduktion innerhalb eines großen, einheitlichen Wirtschaftsraums, verwirklicht sah, während sich Europa seiner Ansicht nach durch eine von Zollgrenzen bestimmte Kleinstaaterei selbst blockierte. Im US-amerikanischen Vorbild sah er eine hohe ökonomische Produktivität, relativen Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten und ein ausgeprägtes Mäzenatentum einzelner wohlhabender Bürger verwirklicht, das der Bildung und der Kultur zugutekam, „Einschätzungen, die – zumal aus heutiger Sicht – als Idealisierung oder gar als politisch naiver Enthusiasmus erscheinen mögen“, so der Politikwissenschaftler Hans-Wolfgang Platzer (*1953), aber „unter zeitgenössischen USA-Beobachtern keineswegs eine Außenseiterposition“ einnahmen.[16]
[13] Brief Coudenhove-Kalergi an Huberman vom 10.7.1925, Nachlass Huberman (siehe Anmerkung 1), zitiert nach Platzer 2019 (siehe Literatur), Seite 122
[14] Brief Huberman an Coudenhove-Kalergi vom 21.7.1925, ebenda
[15] Bibliografische Angaben siehe unter Eigene Schriften
[16] Platzer 2019 (siehe Literatur), Seite 80 f.
1926 stellten wohlhabende Gönner Huberman eine Wohnung in Wien im staatlich verwalteten Schloss Hetzendorf zur Verfügung, woraufhin dieser sich für das folgende Jahrzehnt dort niederließ. Zu dieser Zeit galt Huberman bereits als „einer der interessantesten und geistreichsten Köpfe unserer Zeit“, wie die Wiener Allgemeine Zeitung am 2. Februar 1926 berichtete: „Namentlich für die Paneuropa-Bewegung hat der Künstler durch die Autorität seiner Persönlichkeit unerhört viel geleistet, ja noch mehr, durch wirklich schöpferische Ideen hat er dieser jungen Bewegung neue Wege gewiesen“.[17] Auf dem ersten Paneuropa-Kongress, der im Oktober 1926 in Wien mit zweitausend Teilnehmern und vor sechshundert Pressevertretern aus dem In- und Ausland im großen Saal des Konzerthauses stattfand, gehörte Huberman zu den Hauptrednern. In seinem Wortbeitrag, der erneut in seiner zweiten, 1932 in Berlin verlegten Schrift, „Vaterland Europa“ (Abb. 7), abgedruckt wurde, skizzierte er die für die europäische Einigung notwendigen Integrationsziele und ‑prozesse wie eine Zoll- und Währungsunion, Rechtsangleichung, Aufstellung einer übernationalen Armee, Minderheitenschutz und das Unsichtbarmachen der Grenzen. Während sich der deutsche Gesandte in Wien, Hugo Graf Lerchenfeld (1871-1944), in seinem Bericht an den Außenminister in Berlin, Hugo Stresemann (1878-1929), abfällig äußerte, schrieb die Frankfurter Zeitung: „ […] man wunderte sich, dass er redete statt zu geigen. Doch gerade das stimmte ernst, dass ein großer Künstler […] den Drang fühlt, sich mit Politik zu befassen. […] Die Not des alten Europa muss groß sein, wenn sie selbst dem Musiker keine Ruhe mehr lässt.“[18] Den Kongress beendete ein Geigensolo von Huberman.[19]
Unterdessen hatte dieser es durch seine internationale Konzerttätigkeit zu großem Wohlstand gebracht, was ihm ermöglichte, junge Musiker zu unterstützen sowie Konzerteinnahmen und eigene Gelder für wohltätige Zwecke zu spenden. Er stellte Geldmittel für die Wiener Nationalbibliothek und 1928 für den öffentlichen Ankauf eines Anwesens in Żelazowa Wola westlich von Warschau zur Verfügung, auf dem Chopins Geburtshaus steht und für dessen Erwerb in ganz Polen gesammelt wurde. Zeitgenössische Komponisten förderte er durch Aufführung ihrer Werke. War Polen auf dem ersten Paneuropa-Kongress unter anderem durch einen Führer der polnischen Studenten, den Sozialisten und Delegierten der Völkerbund-Ligen, Władysław Landau, vertreten,[20] so initiierte und begleitete Huberman in Polen die Gründung eines nationalen Paneuropa-Komitees. Diesem traten Intellektuelle, Adlige, linksgerichtete Aktivisten und junge Akademiker bei, darunter Pazifisten und Freunde des Völkerbunds.[21]
[17] Zeitungsartikel im Nachlass Huberman (siehe Anmerkung 1), zitiert nach Platzer 2019 (siehe Literatur), Seite 61 f.
[18] Frankfurter Zeitung vom 9.10.1926, Nachlass Huberman (siehe Anmerkung 1), zitiert nach Platzer 2019 (siehe Literatur), Seite 125
[19] Neue Freie Presse, Wien, Nr. 22294, vom 7.10.1926, Morgenblatt, Seite 3, Online-Ressource: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nfp&datum=19261007&seite=3&zoom=33&query=%22Huberman%22&ref=anno-search
[20] Landau sprach sich für die deutsch-polnische Freundschaft aus: „Die Jugend Deutschlands und Polens muss sich finden; denn es ist eine Schande für das zwanzigste Jahrhundert, dass wir Polen und Deutschen nicht in engster Verbindung sind, dass wir noch einen Zollkrieg führen müssen und dass wir in unserem Herzen noch einen inneren Krieg führen. Ich bitte, dem Gerücht, dass Polen einen Krieg haben will, nicht zu glauben.“ (Neue Freie Presse vom 7.10.1926, ebenda). Vergleiche auch Dagmara Jajeśniak-Quast: Polish Economic Circles and the Question of the Common European Market After World War I = Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, Band 23, Warschau 2010, Seite 136, Digitalisat: https://perspectivia.net/servlets/MCRFileNodeServlet/ploneimport_derivate_00011467/jajesniak-quast_circles.pdf
[21] Platzer 2019 (siehe Literatur), Seite 127
Außer mit ökonomischen und politischen Fragen beschäftigte sich Huberman in seinen Schriften und Reden zu Paneuropa ausführlich mit den kulturellen Problemstellungen. Was bis heute im Rahmen einer integrationspolitischen Debatte als „kulturelle Identität Europas“ diskutiert wird, beschäftigte Huberman unter dem Stichwort einer gemeinsamen „Mentalität“.[22] Dass ein „Paneuropa der Mentalität“ tatsächlich existiere, begründete er mit Beispielen aus der gemeinsamen Kulturgeschichte Europas und mit eigenen Erfahrungen: „Das deutsche Theater unter Max Reinhardts Leitung unternahm während des Krieges staatlich subventionierte Propagandareisen ins neutrale Ausland mit Stücken des ‚feindlichen‘ Staatsangehörigen Maxim Gorki, in Wien und Budapest wurde, während die Schlachten am Isonzo tobten, in Staatstheatern Puccini, in Pariser Konzerten Wagner und Brahms aufgeführt; ich, der Pole, führte trotz meines offiziellen Status als feindlicher Staatsangehöriger in Berlin im Jahre 1917 das Meisterstück des Russen Taneieff, die Konzertsuite, auf, und in Paris im ersten Jahre nach dem Waffenstillstand spielte ich die Sonate des Deutschen Richard Strauss. […] Es hat keine Zeit gegeben, auch nicht während der schlimmsten deutsch-polnischen Verhetzung, in der man nicht deutsche Künstler in Polen und polnische Künstler in Deutschland mit Begeisterung aufgenommen hätte.“[23]
Neben dem gemeinsamen kulturellen Erbe betonte er aber auch die Vielfalt der Nationalkulturen, denen Europa „die Neunte Symphonie, den Faust, die Sixtinische Madonna, die Chopinschen Balladen und so weiter“ verdanken würde, in deren Genuss jedoch aufgrund der überall in Europa herrschenden restriktiven, die Reichen bevorzugenden Kulturvermittlung nur eine verschwindende Minderheit gelangen würde: „Immer wieder erlebt man es in Europa: Dieser Hamlet, diese Neunte Symphonie versammelt um sich nicht alle ihrer würdigen und bedürftigen Zuhörer, sondern nur jenes kleine Häuflein, das bei dem periodisch wiederkehrenden Zusammenprall der europäischen Völker dank einem glücklichen Zufall dem wirtschaftlichen Ruin entgangen ist. Eine Kultur, die zu ihrer Voraussetzung sich gegenseitig zerfleischende Nationen hat, infolgedessen 99 von 100 Europäern unzugänglich ist und daher eine reine Klassenkultur bleibt“.[24] Auch der Sprachenfrage widmete sich Huberman und empfahl die gleichberechtigte Verwendung der jeweiligen Landessprache sowie dreier Weltsprachen.
[22] Ebenda, Seite 113 f.
[23] Huberman 1925 (siehe Eigene Schriften), Seite 20
[24] Huberman 1932 (siehe Eigene Schriften), Seite 44 f.
Aufgrund seines jahrelangen Engagements für die paneuropäische Idee und seiner eigenen politischen Überzeugungen hatte Huberman, der während seiner Konzerttourneen durch zahlreiche deutsche Städte reiste, ein feines Gespür für die dortige politische Entwicklung. In Berlin sei Huberman einer der wenigen Solisten gewesen, „die die Philharmonie in einer Saison mehrere Male mit einem Solo-Abend füllen konnten“,[25] erinnerte sich Dr. Berta Geissmar, Chefsekretärin und „rechte Hand“ von Furtwängler.[26] Der seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 in Deutschland wachsende Antisemitismus in Kreisen des Kleinbürgertums, der Deutschnationalen Volkspartei und natürlich der Nationalsozialisten konnte Huberman also nicht verborgen bleiben. Die feindliche Haltung gegenüber Juden nahm beim Angriff auf das Berliner Warenhaus Wertheim durch Anhänger der NSDAP anlässlich der Eröffnung des Reichstags am 13.10.1930 und bei den antisemitischen Übergriffen der SA während des Kurfürstendamm-Krawalls im September 1931 sogar pogromartige Züge an. Huberman vermerkte in dem bereits zitierten Artikel in der Neuen Leipziger Zeitung im Oktober 1932 mit Sorge, dass man neuerdings in Deutschland „schwärmerisch die Enge verehrt, in engen Grenzen zusammengepfercht bleiben will, das ist die neue Religion eines Adolf Hitler, der, obwohl er bis vor kurzem Ausländer war, von ‚nichts als Deutschsein‘ überschäumt, und Klassenhass und Völkerhass auf seine Fahne geschrieben hat.“[27]
Dass Huberman mit seinen Befürchtungen Recht hatte, zeigte sich bald nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten, als diese erstmals am 1. April 1933 in ganz Deutschland zum Boykott jüdischer Geschäfte, Warenhäuser, Banken, Arztpraxen, Rechtsanwälte und Notare aufriefen und wenige Tage später mit dem Erlass des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums begannen, jüdische Beamte aus dem Staatsdienst zu entfernen. Furtwängler, so berichtet Geissmar, die selbst Jüdin war, habe stets öffentlich und „unzweideutig erklärt, dass das deutsche Musikleben bei einer Regelung nach Rassegesichtspunkten bald völlig gelähmt sein würde“.[28] Nicht nur unter den großen Solisten und Dirigenten, sondern auch unter den herausragenden Orchestermusikern befanden sich zahlreiche Juden. Jüdische Juristen, Ärzte, Gelehrte und Finanzleute, die selbst musizierten und die Musikwelt unterstützten, bildeten einen wichtigen Teil des Publikums. Während der ersten Konzertreise der Berliner Philharmoniker nach Hitlers Machtübernahme im Frühjahr 1933 traten in verschiedenen deutschen Städten wie Mannheim oder Baden-Baden offene Konflikte mit Nazis unter ortsansässigen Musikern, im Publikum und bei Empfängen zutage. In Paris, Marseille und Lyon hingegen sah sich das Orchester Anfeindungen und Boykottandrohungen wegen der deutschen Judenpolitik ausgesetzt, obwohl Furtwängler immer wieder glaubhaft machen konnte, dass in seinem Orchester eine Ausgrenzung von Juden nicht stattfände. Zahlreiche Gespräche zwischen Furtwängler, Hitler, Reichspropagandaminister Goebbels und „kleineren Parteigrößen“, in denen der Orchesterleiter „vor den fatalen Folgen ihrer Rassen- und Parteipolitik für Deutschlands kulturelles Leben warnte“,[29] blieben jedoch ohne nachhaltige Wirkung.
[25] Geissmar 1985 (siehe Literatur), Seite 113
[26] Fred. K. Prieberg: Berta Geissmar – Versuch einer Vergegenwärtigung (1985), in: Berta Geissmar 1985 (siehe Literatur), Seite II
[27] Huberman in der Neuen Leipziger Zeitung vom 23.10.1932 (siehe Anmerkung 2), zitiert nach von der Lühe 2004 (siehe Literatur), Seite 70
[28] Geissmar 1985 (siehe Literatur), Seite 77
[29] Ebenda, Seite 84
Die Berliner Philharmoniker reisten im Mai 1933 nach Konzerten in Genf, Zürich und Basel und einer kleineren Tournee durch deutsche Städte nach Wien, wo die Deutsche Brahms-Gesellschaft zusammen mit der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde das 8. Johannes-Brahms-Fest anlässlich des einhundertsten Geburtstags des Komponisten veranstaltete. Furtwängler dirigierte das Doppelkonzert für Violine und Violoncello mit Huberman und Pablo Casals als Solisten. Während Schnabel das 2. Klavierkonzert als Solist bestritt, gestalteten Huberman, Hindemith und Schnabel den Kammermusikteil. Da Furtwängler seine Programme für die kommende Berliner Konzertsaison im Winter 1933/34 vorbereiten musste, plante er, bei der Hitler-Regierung vorstellig zu werden um eine Sondererlaubnis für den Auftritt internationaler Musikgrößen zu erreichen. Dabei forderte er Hubermans Zusage und aktives Mitwirken ein. Dieser berichtete in einem Brief: „Schon in Wien gelegentlich des Brahmsfestes gab es stundenlange Einwirkungsversuche seitens Furtwänglers auf mich, um von mir eine zusagende Stellungnahme zu erreichen für den Fall, als ihm gelingen würde, die ihm damals schon vorschwebende regierungsseitige Erklärung neuer Richtlinien zu erreichen. Ich lehnte diese Zumutung als unter meiner Würde […] ab.“[30] Schon zu diesem Zeitpunkt kündigte Huberman auch eine öffentliche Stellungnahme an.
Hatte Furtwängler sich schon im April in einem öffentlichen Brief an Goebbels um ein Verbleiben herausragender Künstler in der deutschen Kultur wie „Walter, Klemperer, Reinhard[t] usw.“ ausgesprochen,[31] ein Brief, den Huberman sehr wohl kannte, unterbreitete Furtwängler seinen Standpunkt erneut „einer gemäßigten, der Reichskanzlei nahestehenden Instanz […] und seine Vorschläge waren gebilligt worden.“[32] Daraufhin richtete Furtwängler im Juni persönliche Einladungen an Casals, Cortot, den polnischen Pianisten Józef Hofmann, Huberman, Kreisler, Menuhin, Schnabel, den Cellisten Gregor Piatigorsky und den Violinvirtuosen Jacques Thibaud, die jedoch alle ablehnten. Die Solisten, so erinnerte sich Geissmar, „vertraten in ihren Antworten einstimmig die Ansicht, dass, ungeachtet Furtwänglers persönlicher Bemühungen, das deutsche Musikleben eben doch politisiert worden sei – und sie alle, Arier und Nichtarier, weigerten sich von Vorrechten Gebrauch zu machen, die ihnen lediglich auf Grund ihres internationalen Ansehens gewährt wurden. Sie erklärten kategorisch, dass sie nicht in Deutschland auftreten würden, bevor nicht wieder gleiches Recht für alle gelte.“[33]
[30] Brief Huberman an „Bn.“ vom 18.10.1933, Nachlass Huberman (siehe Anmerkung 1), zitiert nach von der Lühe 2004 (siehe Literatur), Seite 71
[31] Goebbels über die Kunst. Ein Briefwechsel mit Furtwängler, in: Vossische Zeitung, Nr. 171, vom 11.4.1933, Morgen-Ausgabe, Seite 3, Online-Ressource: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/index.php?id=dfg-viewer&set%5Bimage%5D=3&set%5Bzoom%5D=min&set%5Bdebug%5D=0&set%5Bdouble%5D=0&set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fcontent.staatsbibliothek-berlin.de%2Fzefys%2FSNP27112366-19330411-0-0-0-0.xml
[32] Geissmar 1985 (siehe Literatur), Seite 85. – Bei dieser „Instanz“ handelte es sich offenbar um den preußischen Kultusminister Bernhard Rust, Mitglied der NSDAP, des preußischen Landtags und des Reichstags, der von 1934 bis 1945 das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung leitete. Rust hatte eine Kommission zur künftigen Regelung des deutschen Musiklebens einberufen, die aus Furtwängler, Max von Schillings, Wilhelm Backhaus und Georg Kulenkampff bestand und die künftig „die Programme sämtlicher öffentlicher Konzertvereine“ zu prüfen hatte. In einem hierzu herausgegebenen Exposé hieß es, „dass in erster Linie deutsche Künstler herangezogen werden müssen, die berufen sind, ein deutsches Musikleben zu tragen und zu erhalten. Indessen muss hervorgehoben werden, dass in der Musik, gleich wie in jeder Kunst die Leistung stets der ausschlaggebende Faktor bleiben muss, dem Leistungsprinzip gegenüber müssen, wenn erforderlich, andere Gesichtspunkte zurücktreten.“ (Prager Tagblatt vom 13.9.1938, Abb. 8). Der letzte Satz galt Furtwängler offenbar als Gewähr, nach dem „Leistungsprinzip“ auch prominente ausländische (beziehungsweise nichtarische) Künstler verpflichten zu können.
[33] Ebenda
Huberman antwortete dem „lieben Freund“ Furtwängler in einem ausführlichen Brief vom 10. Juli 1933 und bat ihn am Folgetag, diesen Antwortbrief auch in der internationalen Presse veröffentlichen zu dürfen. Obwohl Furtwängler widersprach („es hätte nur mit Sicherheit zur Folge, dass Sie […] vielleicht überhaupt nicht mehr in Deutschland auftreten könnten“[34]) schickte Huberman Kopien seines Briefes an Louis P. Lochner (1887-1975), den Leiter des Berliner Büros der Associated Press, in der Hoffnung, dass das Schreiben in der New York Times veröffentlicht werden würde. Lochner, der sich zehn Tage später in Marienbad aufhielt, gelang es, die öffentliche Fassung des Briefs am 13. September 1933 im Prager Tagblatt zu platzieren (Abb. 8). Am Tag darauf erschien eine englische Übersetzung im Rahmen eines Artikels des US-amerikanischen Journalisten Frederick T. Birchall (1871-1955) mit der Schlagzeile „Huberman Bars German Concerts“ (Huberman schließt deutsche Konzerte aus) in der New York Times.[35]
Huberman berief sich in seinem Brief nicht nur auf den Dirigenten Arturo Toscanini (1867-1957), der kurz zuvor seine Teilnahme an den Bayreuther Festspielen aufgrund der juden- und ausländerfeindlichen Stimmung in Deutschland abgesagt hatte, sondern er drückte auch Furtwängler seine Bewunderung „für die Unerschrockenheit, Zielbewusstheit, das Verantwortlichkeitsgefühl und die Zähigkeit“ aus, mit der dieser seine „im April begonnene Kampagne um die Rettung des Konzertwesens vor der drohenden Vernichtung durch die Rassenreiniger geführt“ habe. Die mit Reichsminister Rust ausgehandelten Zusicherungen über eine Teilnahme ausgesuchter Künstler am deutschen Musikleben nach dem „Leistungsprinzip“, die das Prager Tagblatt ausführlich zitierte, konnte er, Huberman, jedoch „nicht als eine genügende Grundlage“ für seine „Wiederbeteiligung am deutschen Musikleben ansehen“. Aus dem „Selektionsprinzip“ spräche der Wille, „auf allen übrigen Kulturgebieten eben das Nichtverständliche, nämlich die Rassenauslese, weiter gelten zu lassen.“ Sollte es eine Ausnahmeregelung für die Musik geben, so seien doch Museumsdirektoren, Forscher und Lehrer weiterhin von der Ausgrenzung betroffen. Die „wenigen zur Mitwirkung herangezogenen ausländischen bzw. jüdischen Musiker“ sollten lediglich „vor aller Welt zum Beweise dafür angeführt werden, dass es in Deutschland um die Kultur gut bestellt sei. In Wahrheit aber würde die deutsche Gründlichkeit immer neue Definitionen über Rassereinheit gegenüber dem noch ungereiften Kunstjünger, an Schulen, Laboratorien usw. anwenden.“
[34] Furtwängler an Huberman vom 27.7.1933, Nachlass Huberman (siehe Anmerkung 1), zitiert nach von der Lühe 2004 (siehe Literatur), Seite 72
[35] Vollständige Bibliografie beider Zeitungsartikel siehe unter Quellen.
Empfand Huberman, wie er an Furtwängler schrieb, in der Trennung von Deutschland einen tiefen „Schmerz als Freund meiner deutschen Freunde, als Interpret der deutschen Musik, der den Widerhall seines deutschen Publikums sehr entbehrt“, so urteilte er über Furtwängler in einem im Oktober 1933 verfassten Brief: „Diese Mischung von Idealismus, Opportunismus, Eitelkeit und Kulturgebahren […], von der Platzierung seiner Handvoll jüdischer Orchestermitglieder an den ersten Pulten des Pariser Konzertsaales bis zur Annahme der Würde eines preußischen Staatsrates, das geht mir über die Hutschnur!“[36] Deutschen Boden hat Huberman nie wieder betreten. Ab 1934 leitete er für zwei Jahre eine Meisterklasse an der staatlichen Wiener Musikakademie. Im Juli/August 1935 wurde der Pianist Siegfried Schultze von der Berliner Reichsmusikkammer aufgefordert, seine Verbindung mit Huberman zu lösen, wie die Wiener Zeitung berichtete. Als Grund wurde Hubermans „deutschfeindliches“ Verhalten angeführt.[37]
Im März 1936 verfasste Huberman einen „Offenen Brief an die deutschen Intellektuellen“, der in englischer Sprache in der Zeitung The Manchester Guardian veröffentlicht wurde.[38] Huberman bezog sich darin erneut auf sein Schreiben an Furtwängler und schrieb: „Inzwischen sind zweieinhalb Jahre verstrichen, unzählige Menschen sind ins Konzentrationslager, ins Zuchthaus geworfen, aus dem Lande gejagt, in den Tod durch Mord und Selbstmord getrieben […] Vor aller Welt klage ich Euch, deutsche Intellektuelle, Euch Nicht-Nazis, als die wahren Schuldigen an allen nazistischen Verbrechen an, an diesem jammervollen, unsere ganze weiße Rasse beschämenden und gefährdenden Niedergang eines hochstehenden Volkes. […] deutsche Geistesführer von der internationalen Bedeutung und Bewegungsfreiheit eines Richard Strauss, Furtwängler, Gerhart Hauptmann, Werner Krauß, Kolbe, Sauerbruch, Eugen Fischer, Planck u.a., noch bis gestern das deutsche Gewissen, den deutschen Genius, darstellend […] finden von allem Anfang an keine andere Reaktion auf diesen Anschlag auf die heiligsten Güter der Menschheit als Kokettieren, Paktieren, Kooperieren. Deutschland, Volk der Dichter und Philosophen, die Welt, nicht nur die feindliche, Eure Freunde warten in Bestürzung auf ein Wort der Befreiung!“[39]
[36] Brief Huberman an „Bn.“ vom 18.10.1933, Nachlass Huberman (siehe Anmerkung 1), zitiert nach von der Lühe 2004 (siehe Literatur), Seite 74
[37] Theater und Kunst. Die Reichsmusikkammer gegen Huberman, in: Wiener Zeitung, herausgegeben von der Bundesverwaltung, 232. Jahrgang, Nr. 211 vom 2.8.1935, Seite 8, Online-Ressource: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=wrz&datum=19350802&seite=8&zoom=25
[38] Maschinenschriftliches Manuskript in deutscher Sprache im Nachlass Huberman (siehe Anmerkung 1). Die deutsche Fassung wurde 1944 anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Huberman durch das Jewish Institute of Religion in New York erneut publiziert in der deutsch-jüdischen Exilzeitung Aufbau des in New York ansässigen New World Club (bibliografische Angaben und Online-Ressource siehe Quellen).
[39] Zitiert nach der Fassung von 1944 (siehe Anmerkung 38)
Etwa zur selben Zeit entwickelte Huberman das von ihm ins Leben gerufene Palestine Orchestra als wirksame Waffe gegen das Naziregime. Die Vorgeschichte dazu setzte jedoch zwei Jahre früher ein. Zu Beginn des Jahres 1934 befand Huberman sich auf einer Tournee durch Palästina, wo er erstmals 1929 gastiert hatte. Die neuerliche Konzertreihe umfasste insgesamt zwölf ausverkaufte Aufführungen, der mehrere „Arbeiter-Konzerte“, also Vorstellungen mit reduziertem Eintritt für ärmere Bevölkerungsschichten, folgten. In Tel Aviv trat er mit einem Orchester auf, das 1933 gegründet worden war. Dessen Mitglieder lebten schon seit den Zwanzigerjahren in Palästina und nahmen neuerdings auch aus Europa emigrierte Tonkünstler auf.[40] Huberman bemerkte, dass dieses Orchester im Bereich der Holz- und Blechbläser neu organisiert werden musste und stellte Konzerteinnahmen zur Verfügung, um neue Bläser aus Europa zu verpflichten. Als sich seine Pläne nicht mit den Zielen der bisherigen Initiatoren in Einklang bringen ließen, entwickelte er 1935 Pläne für eigenes Orchester, das mithilfe jüdischer Mäzene in Europa und den USA über einen international zusammengesetzten Orchester-Trust finanziert werden sollte. Ende 1935 betraute er den aus Köln emigrierten Ökonomen Salo B. Lewertoff (1901-1965), ehemals Leiter der Kölner Ortsgruppe der Internationalen Gesellschaft für zeitgenössische Musik,[41] mit der Geschäftsführung und der Position des Generalsekretärs.
Von Februar bis April 1936 unternahm Huberman eine Konzerttournee durch die USA. Bereits am 9. Februar berichtete die New York Times unter der Überschrift „Orchestra of Exiles“: „Bronislaw Huberman, der polnische Violinist, ist die Quelle für die Nachricht, dass das erste Sinfonieorchester in Palästina aufgebaut werden soll. Das Orchester soll 65 Musiker umfassen. Es soll sich aus herausragenden deutschen Musikern zusammensetzen, denen das Recht in ihrem eigenen Land zu spielen aberkannt wurde, außerdem aus weiteren prominenten europäischen Tonkünstlern.“[42] Mit zweiundvierzig Benefizkonzerten, die Huberman an sechzig Tagen quer durch die Vereinigten Staaten absolvierte, trug er das Grundkapital für die Orchestergründung zusammen. In Interviews und Ansprachen hob er hervor, dass die Rettung jüdischer Musiker und ihrer Familien vor den Nationalsozialisten sein hauptsächliches Anliegen wäre. Außerdem gelang es ihm, Künstler, Wissenschaftler und finanzkräftige Kreise für die Orchestergründung zu interessieren. Der Physiker Albert Einstein (1879-1955, Abb. 9) veranstaltete am 30. März 1936 im New Yorker Waldorf-Astoria ein Diner zugunsten von Hubermans Projekt und unterstützte die Kampagne mit Briefen an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.[43] Toscanini erklärte sich spontan bereit, die Eröffnungskonzerte des neuen Orchesters in Tel Aviv, Haifa und Jerusalem sowie einige Konzerte in Ägypten zu leiten. Diese Zusage, die ebenfalls von der New York Times verbreitet wurde, führte zu finanziellen Zusagen zahlreicher jüdischer Persönlichkeiten, sodass der Bestand des künftigen Orchesters schließlich für drei Jahre gesichert war.
[40] Von der Lühe 1993 (siehe Literatur), Seite 1046 ff.
[41] Zur Biografie des 1901 in Höxter als Sohn eines Kaufmanns geborenen Salo(mon, Shlomo) Bernhard Lewertoff vergleiche von der Lühe 1998 (siehe Literatur), Seite 72
[42] The Week’s News and Comment Concerning Music. Orchestra of Exiles, in: The New York Times vom 9.2.1936, Abschnitt X, Seite 7, Vorschau siehe online: https://www.nytimes.com/1936/02/09/archives/orchestra-of-exiles.html?searchResultPosition=2
[43] Von der Lühe 1998 (siehe Literatur), Seite 78 f.
Anschließend wählte Huberman auf Konzertreisen in Europa die ersten Musiker für das Orchester aus, indem er in verschiedenen Städten wie Warschau, Wien und Basel Probespiele, also das Vorspielen einzelner Musiker, veranstaltete. Dabei war für Huberman die herausragende Qualität der Instrumentalisten das wichtigste Kriterium, zumal die Messlatte für das künftige Orchester durch das angekündigte Dirigat von Toscanini nicht hoch genug angesetzt werden konnte. Bei der Auswahl und dem Organisieren der Vorspiele wurde er von befreundeten Kollegen und Dirigenten unterstützt, unter anderem von dem österreichisch-ungarischen Dirigenten Georg Szell (1897-1970), zu dieser Zeit Leiter des Scottish National Orchestra. In Berlin hielt der Dirigent Hans-Wilhelm (William) Steinberg (1899-1978), bis 1933 Generalmusikdirektor und anschließend Orchesterdirigent des Kulturbundes deutscher Juden in Frankfurt am Main, die Vorspiele im Berliner Hotel Fürstenhof, einem traditionsreichen Luxushotel am Potsdamer Platz, ab. Steinberg emigrierte noch im selben Jahr nach Palästina und wurde erster Chefdirigent des Palestine Orchestra.
Nicht immer ließen sich die Gehaltswünsche und Zukunftsvorstellungen der in Deutschland lebenden Musiker mit den Möglichkeiten in Palästina und den dortigen Lebensbedingungen vereinbaren, sodass viele von Hubermans Wunschkandidaten absagten.[44] Die meisten der aus Deutschland ausreisenden Tonkünstler kamen von den Orchestern des Jüdischen Kulturbunds in Frankfurt und Berlin. Zu ihnen gehörte beispielsweise der in Berlin-Kreuzberg als Sohn polnischer Eltern geborene Posaunist Heinrich Schiefer (1906-2006), der in Berlin als Jazzmusiker und mit verschiedenen Engagements in den Niederlanden und der Schweiz gearbeitet hatte und 1935 in Deutschland für staatenlos erklärt worden war. Aus Berlin stammte auch der Hornist Horst Salomon (*1913), leidenschaftlicher Amateurringer und Mitglied des zionistischen Sportvereins Bar Kochba, dessen musikalische Fähigkeiten bei verschiedenen Berliner Orchestern und Theatern so bekannt waren, dass Steinberg und Huberman auf das Vorspielen verzichteten. Schiefer und Salomon, gute Bekannte, wanderten gemeinsam nach Palästina aus.[45]
In den Nachbarländern fanden sich aufgrund des dort ebenfalls wachsenden Antisemitismus, schwieriger wirtschaftlicher Verhältnisse und einer zunehmenden von Deutschland ausgehenden Bedrohung und Kriegsgefahr mehr jüdische Musiker zur Ausreise bereit. In Warschau hatte Huberman die Vorspiele für Mitglieder der dortigen Philharmonie mithilfe des Führers der zweiten Geigen, Jacob Surowicz, vorbereitet. Er engagierte schließlich den Violinisten Mieczysław Fliederbaum, der mit Frau und Sohn nach Palästina ausreiste, den Cellisten Chaim Bodenstein mit seiner Frau, die Brüder Alfred, Bolesław und Bronisław Ginsberg, die Violinie, Cello und Pauke spielten, mit ihren Familien, deren Vater, den Bratschisten Pesach Ginsberg (Ginzburg) und dessen Frau, den Posaunisten Michał Podemski mit seiner Familie, den Bratschisten Marek Rak und Frau, den in Belgien lebenden Violinisten Moszek Styglitz mit seiner Ehefrau sowie den Fagottisten Leon Szulc und dessen Vetter, den Hornisten Bronisław Szulc,[46] sowie Surowicz selbst mit seiner Familie.[47] Musikern, die Hubermans Qualitätsansprüche nicht erfüllten, und solchen, die sich in nicht geringer Zahl hilfesuchend an ihn wandten, konnte er aufgrund seiner internationalen Verbindungen die Ausreise in andere Staaten, beispielsweise nach England, vermitteln.
Bis zum Sommer 1936 gelang es Huberman, über fünfzig Musiker aus Polen, Österreich, Deutschland, den Niederlanden, der Tschechoslowakei, Ungarn, dem Baltikum und Italien zu engagieren und mit ihren Familien nach Palästina ausreisen zu lassen. Britische und jüdische Persönlichkeiten in Tel Aviv kümmerten sich um die schwierige Erteilung der Einwanderungszertifikate, was durch den Beginn des arabischen Aufstands im April 1936 und die damit verbundene Abschottung Palästinas durch die britische Mandatsmacht zusätzlich erschwert wurde. Auch die öffentliche Vertretung der Juden in Palästina, die Jewish Agency, die für die Erlaubnis zur Einwanderung zuständig war, sowie die zionistische Administration in Jerusalem äußerten vielfach Bedenken, da die „Huberman-Musiker“ den in Palästina ansässigen Kollegen die Arbeitsplätze wegnahmen. Außerdem waren die Einwanderungszertifikate grundsätzlich Landarbeitern und Handwerkern vorbehalten, die zum Aufbau eines jüdischen Palästina beitragen sollten.[48] Schließlich nahm Huberman auch Musiker des vorher in Tel Aviv bestehenden Orchesters in das neue, schließlich aus dreiundsiebzig Mitgliedern bestehende Palestine Orchestra auf.
[46] Vergleiche die Biografie von Bronisław Szulc auf diesem Portal, https://www.porta-polonica.de/de/lexikon/szulc-bronislaw
[47] Von der Lühe 1998 (siehe Literatur), Seite 100
[48] Von der Lühe 1993 (siehe Literatur), Seite 1048
Die endgültige Aufstellung änderte sich jedoch ständig, da Huberman die verschiedenen Orchesterpositionen im Hinblick auf künftige Dirigenten mehrfach besetzte, einige Musiker wegen des Klimas und der problematischen Wohnverhältnisse in Palästina wieder zurück nach Europa gingen oder auf andere Kontinente, beispielsweise nach Nord- und Südamerika, weiterzogen. Mitunter änderte sich auch die Lebensplanung der Musiker.[49] Huberman selbst gab im Spätsommer 1936 seinen Wohnsitz in Wien vermutlich wegen der dortigen politischen Entwicklung und des bedrohlicher werdenden Antisemitismus auf, ging zunächst nach Italien und ließ sich 1938 in der Schweiz nieder. Der für den Herbst 1936 geplante Beginn der Konzertsaison in Palästina verzögerte sich wegen des arabischen Aufstands. Erst im November trafen die vorerst letzten Musiker und ihre Familien einzeln oder in Gruppen in Palästina ein. Die Proben übernahm Steinberg, der die Arbeit daran zuvor in Italien mit Toscanini abgesprochen hatte. Toscanini, der bei den Orchestermusikern als der am meisten gefürchtete Dirigent seiner Zeit galt, traf am 20. Dezember 1936 nach einer Bahn- und Flugreise von Mailand über Brindisi, Athen und Alexandria in Tel Aviv ein. Er war im Wesentlichen mit der Probenarbeit zufrieden, kritisierte jedoch die typisch „deutsche“ Spielweise: „Spielen Sie mir ja keine preußischen Märsche. […] Spielen Sie leicht, wie die Franzosen oder die Italiener“, forderte er das Orchester auf (Abb. 10).[50]
Das Eröffnungskonzert am 26. Dezember 1936 war mit über zweitausendfünfhundert Besuchern völlig überfüllt. Auf dem Programm standen eine Ouvertüre von Rossini, die 2. Sinfonie von Brahms, Schuberts „Unvollendete“, Nocturne und Scherzo aus Mendelssohns „Sommernachtstraum“ sowie die Ouvertüre zum „Oberon“ von Carl Maria von Weber. Das Konzert wurde mehrfach in Tel Aviv, Haifa und Jerusalem wiederholt und vom Jerusalemer Rundfunk über Kairo und London bis in die USA übertragen. Bis zum 5. Januar hörten fünfzehntausend Besucher die zehn Konzerte, Arbeiter-Aufführungen und öffentlichen Proben. Vom 7. bis 12. Januar 1937 gingen Toscanini und das Orchester auf eine Tournee nach Kairo und Alexandria. Huberman hatte sich absichtlich an diesen Konzerten nicht beteiligt um das Orchester im Vordergrund stehen zu lassen.[51]
[49] Vergleiche hierzu auf diesem Portal (https://www.porta-polonica.de/de/lexikon/broches-raphael) die Biografie des polnisch-jüdischen Violinisten Raphael Broches (1906-1941?), der im Dezember 1936 aus Hamburg nach Palästina kam, um seine Orchesterstelle anzutreten, jedoch im Januar nach Deutschland zurückging, um seine musikwissenschaftliche Promotion abzuschließen. Broches wurde vermutlich 1941 aus dem Warschauer Getto in das KZ Treblinka deportiert und dort ermordet.
[50] Erinnerungen von Heinrich Schiefer, in: 40 Years. The Israel Philharmonic Orchestra, Tel Aviv 1976
[51] Zu den Toscanini-Konzerten und der ersten Konzertsaison vergleiche von der Lühe 1993 (siehe Literatur), Seite 1046, und von der Lühe 1998 (siehe Literatur), Seite 156-160
Huberman plante aber, in der folgenden Konzertsaison, im Herbst 1937, mit dem Palestine Orchestra aufzutreten. Während einer Tournee durch Australien und Asien erlitt er jedoch bei der Bruchlandung seines Flugzeugs auf der Insel Sumatra Anfang Oktober 1937 so schwere Verletzungen an beiden Armen, dass daraus nichts wurde. Erst im Dezember 1938 konnte er unter der Leitung des ungarischen Dirigenten Eugen Szenkar (1891-1977) mit dem von ihm gegründeten Orchester musizieren. Auch Szenkar war Opfer der politischen Umstände in Europa. Seit 1924 Chefdirigent der Kölner Oper, war er 1933 von den Nationalsozialisten aus dem Amt entfernt worden und nach Wien geflüchtet. 1934 nach Moskau eingeladen, wo er seitdem das Staatliche Philharmonische Orchester leitete, wurde er 1937 während der Stalinschen Säuberungen aus Russland ausgewiesen. 1938/39 leitete er die vierten Abonnements-Konzerte des Palestine Orchestra sowie vier Konzerte der zweiten Ägyptentournee des Orchesters in Kairo und Alexandria.
Huberman absolvierte unterdessen Gastspiele in zahlreichen europäischen Städten. Im Februar und März 1940 reiste er zum letzten Mal zu „seinem“ Orchester und gab mit ihm Konzerte in Palästina und Ägypten. Von einer Konzertreise nach Südafrika konnte er wegen des Kriegsverlaufs nicht in die Schweiz zurückkehren und schiffte sich stattdessen im August 1940 in die USA ein. Dort setzte er bis zum Sommer 1945 seine Konzerttätigkeit fort. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfüllte er Konzertverpflichtungen und absolvierte Tourneen in Europa, den USA und Kuba und erkrankte nach seinem letzten öffentlichen Konzert in Zürich im April 1946 so schwer, dass er nicht mehr auftreten konnte. Er starb am 16. Juni 1947 in seinem Haus in Corsier im Schweizer Kanton Waadt. Durch seine Orchestergründung konnten zwischen 1936 und 1939 schätzungsweise sechshundert Menschen aus Europa vor Verfolgung und Tod gerettet werden.[52]
Das Palestine Orchestra erfreute sich nach seinem furiosen Auftakt großer Popularität in Palästina und unternahm jährlich eine Tournee nach Ägypten. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geriet es jedoch in finanzielle Schwierigkeiten, da ausländische Dirigenten fernblieben und die einheimischen Orchesterleiter weder die Musiker noch das Publikum für sich gewinnen konnten. Die finanziellen Zuwendungen aus Europa blieben zwangsläufig aus. Aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Lage mussten die meisten Orchestermitglieder zusätzlich in Cafés und Hotels spielen. Gleichwohl fanden 1942 und 1943 noch über zweihundert Konzerte pro Saison statt. Gleichzeitig löste sich das Orchester von Hubermans Einfluss, der sich aufgrund seiner Abwesenheit und seiner späteren Erkrankung ohnehin nicht mehr kümmern konnte. Das Finanzierungssystem des internationalen Trusts brach durch den Rückzug der europäischen und amerikanischen Mäzene allmählich zusammen. 1946 entschied sich das von den Musikern gewählte Orchesterkomitee für eine neue, von kommunalen und staatlichen Institutionen in Palästina finanzierte Organisationsform. Nach der Staatsgründung Israels im Mai 1948 präsentierte sich das Orchester mit Beginn der Konzertsaison 1948/49 endgültig als Israel Philharmonic Orchestra[53] und gilt heute als eines der führenden Ensembles der Welt.
Axel Feuß, September 2020
[52] Von der Lühe 2017 (siehe Online). Der Dokumentarfilm „Orchestra of Exiles“ (2012, siehe Medien) nennt eine Zahl von rund 1000 geretteten Juden (min 1:21:05).
[53] Von der Lühe 1993 (siehe Literatur), Seite 1051 f.
Eigene Schriften von Bronisław Huberman:
Aus der Werkstatt des Virtuosen = Aus der eigenen Werkstatt – Vortragszyklus im Wiener Volksbildungsverein, Leipzig, Wien 1912
Mein Weg zu Paneuropa, in: Paneuropa, herausgegeben von R.N. Coudenhove-Kalergi, 2. Jahrgang, Heft 5, Wien, Leipzig 1925, Seite 7-34 (offenbar auch als Sonderdruck: Wien 1925)
Vaterland Europa, Berlin 1932
Quellen:
Die Kunst im Dritten Reich. Hubermans Verzicht. Ein Briefwechsel mit Wilhelm Furtwängler, in: Prager Tagblatt, 58. Jahrgang, Nr. 214, vom 13.9.1933, Seite 3, Online-Ressource: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=ptb&datum=19330913&seite=3&zoom=33
Frederick T. Birchall: Huberman Bars German Concerts. Violinist Rejects an Appeal by Furtwaengler to Play With Berlin Philharmonic Again. Stresses Nazi Race Bias. Declares That the Elementary Preconditions of European Culture Are at Stake, in: New York Times vom 14.9.1933, Seite 11
Offener Brief an die deutschen Intellektuellen. Von Bronislaw Huberman [Open Letter to German Intellectuals, in: The Manchester Guardian vom 7.3.1936], in: Aufbau / Reconstruction, published weekly by The New World Club, New York City, Band 10, Nr. 4 vom 28.1.1944, Seite 17, Online-Ressource: https://archive.org/stream/aufbau101944germ#page/n57/mode/1up
32 Zeitungsausschnitte (vor allem Rezensionen und Interviews) zu Bronislaw Huberman von 1933-1947, Walter A. Berendsohn-Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, Hamburg, Signatur PWJ I 1405
Antisemitische Publikationen:
Brückner-Rock. Judentum und Musik mit dem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener, begründet von H. Brückner und C.M. Rock, bearbeitet und erweitert von Hans Brückner, 3. Auflage, München 1938, Seite 129
Lexikon der Juden in der Musik. Mit einem Titelverzeichnis jüdischer Werke. Zusammengestellt im Auftrag der Reichsleitung der NSDAP auf Grund behördlicher, parteiamtlich geprüfter Unterlagen, bearbeitet von Theo Stengel und Herbert Gerigk = Veröffentlichungen des Instituts der NSDAP zur Erforschung der Judenfrage, Band 2, Berlin 1940, Spalte 117
Literatur:
Huberman, Bronislav (sic!), in: Österreichisches biographisches Lexikon 1815-1950, Band 2, Lieferung 10, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1959, Seite 445 f.
Riemann Musik-Lexikon, Personenteil A-K, Mainz 1959, Seite 833
Władysław Hordyński: Huberman (Hubermann) Bronisław, in: Polski słownik biograficzny, Band 10, Seite 77 f., Wrocław und andere 1962-64
Huberman, Bronislaw, in: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 / International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933-1945, München und andere 1983, Seite 544 f., Digitalisat: https://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/53124
Berta Geissmar: Musik im Schatten der Politik (1945). Vorwort und Anmerkungen von Fred K. Prieberg, 4. Auflage, Zürich 1985
Barbara von der Lühe: Vom Orchester der Einwanderer zu einer nationalen Musikinstitution Israels. Die ersten Jahre des Israel Philharmonic Orchestra, in: Das Orchester. Zeitschrift für Orchesterkultur und Rundfunk-Chorwesen, 41. Jahrgang, Mainz, Oktober 1993, Seite 1046-1053
Barbara von der Lühe: „Ich bin Pole, Jude, freier Künstler und Paneuropäer.“ Der Violinist Bronislaw Huberman, in: Das Orchester. Zeitschrift für Orchesterkultur und Rundfunk-Chorwesen, 45. Jahrgang, Heft 10, Mainz 1997, S. 8-13
Barbara von der Lühe: Die Musik war unsere Rettung. Die deutschsprachigen Gründungsmitglieder des Palestine Orchestra. Mit einem Geleitwort von Ignatz Bubis = Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, Bd. 58, Tübingen 1998
Piotr Szalsza: Bronisław Huberman. Czyli Pasje i namiętności zapomnianego geniusza. Monografia muzyczna skrzypka-wirtuoza, Częstochowa: Muzeum Częstochowskie, 2001
Friedemann Eichhorn: Huberman, Bronisław, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Personenteil, Bd. 9, Kassel 2002, Spalte 452 f.
Marian Fuks: Doskonałość i uduchowienie. Bronisław Huberman (1882-1947), in: Księga sławnych muzyków pochodzenia żydowskiego, Poznań 2003, Seite 152-154
Barbara von der Lühe: „Lieber Freund …“ Zur Kontroverse zwischen Bronislaw Huberman und Wilhelm Furtwängler um das nationalsozialistische Deutschland, in: Exil 1933-1945 = Exil. Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse, 24. Jahrgang, Nr. 1, Frankfurt am Main 2004, Seite 70-75; Die Kunst im Dritten Reich. Hubermans Verzicht. – Ein Briefwechsel mit Wilhelm Furtwängler (= Abschrift des Artikels aus dem Prager Tagblatt vom 13.9.1933), Seite 76-78
Hans-Wolfgang Platzer: Bronislaw Huberman und das Vaterland Europa. Ein Violinvirtuose als Vordenker der europäischen Einigungsbewegung in den 1920er und 1930er Jahren = Cinteus. An Interdisciplinary Series of the Centre for Intercultural and European Studies. Fulda University of Applied Sciences, Vol. 17, Stuttgart 2019
Piotr Szalsza: Bronisław Huberman. Leben und Leidenschaften eines vergessenen Genies, aus dem Polnischen von Joanna Ziemska und Team, Wien 2020
Medien:
Orchestra of Exiles, 2012, ein Film von Josh Aronson, Aronson Film Associates, DVD, 85 min.
Online:
Piotr Szalsza/Monika Kornberger: Huberman, Bronisław, auf: Oesterreichisches Musiklexikon online, https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_H/Huberman_Bronislaw.xml
Barbara von der Lühe: Bronislaw Huberman, auf: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, herausgegeben von Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen, Sophie Fetthauer, Universität Hamburg, 2017 https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002015
Natalia Aleksiun: Huberman, Bronisław, auf: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, https://yivoencyclopedia.org/article.aspx/Huberman_Bronis%C5%82aw
Familienseite Bronislaw Huberman unter anderem mit zeitgenössischen Fotos, Schallplatten-Covern, Konzertprogrammen und Autografen, http://bronislawhuberman.com/
Alle hier und in den Anmerkungen verzeichneten Links wurden zuletzt im September 2020 aufgerufen.