Schiefer, Heinrich
Schiefer, Heinrich, deutsch-israelischer Posaunist jüdisch-polnischer Abstammung. Geboren und aufgewachsen in Berlin-Kreuzberg als Sohn von Eltern mit polnischer Staatsangehörigkeit. Privatunterricht bei einem Posaunisten der Berliner Staatsoper. Unterhaltungsmusiker in Stummfilmkinos, im UFA-Orchester und in einer Caféhauskapelle. 1929 Erhalt der deutschen Staatsangehörigkeit. 1934 Mitglied im Orchester des Jüdischen Kulturbunds in Berlin. *16.10.1906 Berlin, †10.2.2006 Ramat Gan/Israel. Geboren und aufgewachsen in Berlin-Kreuzberg in der Gneisenaustraße 8. Die Eltern, die die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, betreiben ein Eier-Engrosgeschäft. Abitur am Luisenstädtischen Realgymnasium. Entgegen dem Wunsch seiner Eltern Medizin zu studieren schlägt er eine Musikerlaufbahn ein. Privatunterricht bekommt er zunächst im Geigenspiel, dann an der Posaune bei einem Posaunisten der Berliner Staatsoper. 1929 erhält er die deutsche Staatsangehörigkeit. In Berlin arbeitet er als Musiker in Stummfilmkinos, im UFA-Orchester und in einer Caféhauskapelle, zuletzt 1933/34 im Ausland in großen Jazzorchestern in der Schweiz, in Spanien und in den Niederlanden. Das Angebot eines Unterhaltungsorchesters in Hilversum kann er wegen einer nicht erteilten Arbeitserlaubnis nicht annehmen. 1933 heiratet er eine Jugendfreundin, die als Christin zum Judentum konvertiert. Als die Schikanen an der deutschen Reichsgrenze zunehmen, bleibt er in Berlin und arbeitet ab 1934 beim Orchester des Kulturbunds Deutscher Juden. Außerdem erteilt er Privatunterricht an der Posaune. Am 14.2.1935 wird ihm mit Schreiben des Berliner Polizeipräsidenten die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt und er damit für staatenlos erklärt. Nach vorübergehender Schließung des Berliner Kulturbunds (nach dem Attentat auf den NSDAP-Landesgruppenleiter Wilhelm Gustloff in der Schweiz) beschließt er auszuwandern. Angebote des Sinfonieorchesters in Baku und eines Jazzorchesters in Argentinien schlägt er aus. Auf Anraten des Dirigenten Hans-Wilhelm (William) Steinberg (1899-1978), der in Berlin das Vorspielen künftiger Musiker für das von dem Violinisten Bronisław Huberman (1882-1947) gegründete Palestine Orchestra organisiert, entscheidet er sich schließlich 1936 zusammen mit seiner Ehefrau für die Ausreise nach Palästina. 1938 kann er den Sohn seiner Schwester, die als Zwangsarbeiterin bei der Firma Siemens an der Tuberkulose gestorben ist, nach Palästina holen. 1939 gelingt seinen Eltern die Übersiedlung nach Palästina mithilfe von Einreisezertifikaten des Orchesters. Im selben Jahr werden Schiefer und seine Frau Bürger des Mandatsgebiets Palästina. Als Erster Posaunist des Palestine Orchestra, das 1948 in Israel Philharmonic Orchestra umbenannt wird, arbeitet er bis 1972. Nach einem Unfall muss er seinen Beruf aufgeben, ist aber weiterhin im Management des Orchesters tätig. Zuletzt lebt er mit seiner Familie in Tel Aviv. – Das FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum in Berlin zeigt in seiner Dauerausstellung „Juden in Kreuzberg“ Familienfotos und schriftliche Erinnerungen von Heinrich Schiefer. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Schiefer die deutsche Staatsangehörigkeit wieder erlangt, den Kontakt zur Familie seines Schwagers in Berlin gepflegt, die weiterhin in der Wohnung der Familie Schiefer in Kreuzberg lebte, und hat Deutschland mehrfach bereist.
Antisemitische Publikationen:
Brückner-Rock. Judentum und Musik mit dem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener, begründet von H. Brückner und C.M. Rock, bearbeitet und erweitert von Hans Brückner, 3. Auflage, München 1938
Lexikon der Juden in der Musik. Mit einem Titelverzeichnis jüdischer Werke. Zusammengestellt im Auftrag der Reichsleitung der NSDAP auf Grund behördlicher, parteiamtlich geprüfter Unterlagen, bearbeitet von Theo Stengel und Herbert Gerigk = Veröffentlichungen des Instituts der NSDAP zur Erforschung der Judenfrage, Band 2, Berlin 1940
Literatur:
Barbara von der Lühe: Die Musik war unsere Rettung. Die deutschsprachigen Gründungsmitglieder des Palestine Orchestra = Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts, Band 58, Tübingen 1998
Barbara von der Lühe: Die Emigration deutschsprachiger Musikschaffender in das britische Mandatsgebiet Palästina. Ihr Beitrag zur Entwicklung des israelischen Rundfunks, der Oper und Musikpädagogik seit 1933, Frankfurt am Main und andere 1999
Online:
Erinnerungen von Heinrich Schiefer in der Ausstellung des FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museums, https://berlin.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=9572
Kurzbiografie im Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, Universität Hamburg, 2007 (https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00002207)
Vergleiche auf diesem Portal den Beitrag von Axel Feuß über Bronisław Huberman, Seite 11, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/bronislaw-huberman-und-deutschland?page=11#body-top
Alle Links wurden zuletzt im September 2020 aufgerufen.
Axel Feuß, September 2020