Aus dem „Pütt“ in die Profiliga: Polen und Masuren im Ruhrgebietsfußball
Modellfall Schalke: Spiegel der Migrationsgeschichte des Reviers
Mit dem Blick auf den FC Schalke 04, dem Gelsenkirchener Prototypen des „Polacken- und Proletenklubs“, dem die ersten vier der zuvor genannten Nationalspieler angehörten, wird die Komplexität und Unübersichtlichkeit, zu der die Einwanderergesellschaft im Revier sich inzwischen entwickelt hatte, besonders deutlich: Zwischen 1934 und 1942 gewann Schalke sechsmal die deutsche Meisterschaft. Die Mannschaft war gespickt mit Spielern, die polnisch klingende Namen trugen, am bekanntesten die Nationalspieler Ernst Kuzorra und Fritz Szepan. Als Schalke 1934 die Meisterschaft zum ersten Mal gewann und vor der Kamera mit Hitlergruß posierte, höhnte die polnische Presse „Polen Deutsche Fußballmeister“ – und die Vereinsführung beeilte sich, das Gegenteil zu beweisen, in dem sie darauf hinwies, die Spieler seien keine „Emigranten“ und schon die Eltern in Deutschland geboren. Die Eltern der Schalker Spieler stammten indes in der Mehrheit aus dem südlichen Ostpreußen, gehörten also per se nicht zu den polnischen Zuwanderern, sondern zum evangelischen, preußentreuen Kreis der Masuren. Zwischen 1920 und 1940 sind 30 Spieler der Schalker Mannschaft als Masuren zu identifizieren, drei noch in Masuren geboren. Die Gelsenkirchener Meistermannschaft spiegelte so die Migrationsgeschichte des Reviers und den sozialen Hintergrund des masurischen Wanderungszentrums Gelsenkirchen. Spieler mit polnischer oder masurischer Familienbiographie bürgten auf diese Weise in der Zeit des Dritten Reiches für die Spielstärke des Ruhrgebietsfußballs, besonders Schalkes, aber auch der deutschen Nationalmannschaft. Die nationalsozialistische „Volkstumsforschung“, die antipolnische, rassistische und biologistische Forschung betrieb, löste dieses Dilemma dadurch, dass ihre Vertreter im Revier nur noch Masuren vorfanden und diese in ihrer Kultur und Mentalität als „deutsch“ erklärten. Sie sahen hier bereits Anzeichen für die „Umvolkung“ bzw. Eindeutschung der „minderwertigen“, fremden Zuwanderer. Die masurischen Schalker Stars Kuzorra und Szepan ließen sich dann auch vor den Propagandakarren des Regimes spannen und traten in die NSDAP ein. Szepan profitierte von der „Arisierung“ und übernahm das jüdische Kaufhaus Julius Rhode am Schalker Markt.
Nachkriegszeit: Die dritte Generation
Der Zivilisationsbruch zwischen 1933 und 1945 führte nach dem Zweiten Weltkrieg lange zur Verdrängung der Erinnerung auch an die ethnisch-heterogene Sozialgeschichte des Reviers. Im Fußballsport waren die Kinder und Enkel der „polnischen“ und masurischen Migranten aber weiter präsent. Bei den Sportfreunden Katernberg in Essen hießen die Spieler der Mannschaft zwischen 1945 und 1950 Jerosch, Kosinski, Pisarski, Majewski, Mieloszyk, Radziejewski und Rynkowski. Als sich der SV Sodingen 1955 für die Endrunde der Deutschen Meisterschaft qualifizierte, hatte die Hälfte der Mannschaft polnisch bzw. masurisch klingende Namen: Sawitzki, Kropla, Lika, Nowak, Adamik, Dembski und Konopczinski. Die Geschichte der dritten Generation der Zuwanderung war immer noch im Fußball sichtbar. Der Großvater des bereits genannten Stars von Borussia Dortmund Hans Tilkowski war aus Westpreußen in den Bergbau des Reviers eingewandert, sein Vater noch Bergmann gewesen. Der Torwart wuchs in der Zechenkolonie der Zeche Kurl auf. Dem tragischen, früh verstorbenen Star des Ruhrgebietsfußballs Reinhard „Stan“ Libuda (1943-1996), der für Schalke, Dortmund und die Nationalmannschaft auflief, war selber noch die Ähnlichkeit seiner Laufbahn und seiner Herkunft mit dem Leben des großen französischen Nationalspielers Raymond Kopa(szewski) aus dem polnischen Bergarbeitermilieu in Frankreich bewusst. Aber nicht der Öffentlichkeit.
Transnationale Wirkungsgeschichte: Nordfrankreich
Im polnischen Milieu der nordfranzösischen Kohlengruben setzte sich die Geschichte des Ruhrgebiets und des Engagements von polnischen Zuwanderern im Fußball tatsächlich fort bzw. fand ihre Entsprechung. Als im Jahre 1948 der RC Lens beim Endspiel um den französischen Landespokal auf den OSC Lille traf, verlor Lens dieses Spiel 2:3, bäumte sich aber zweimal gegen die Führungstreffer des Gegners auf. Beide Tore für Lens erzielte „Stanis“ Stefan Dembicki. Der äußerst beliebte Stürmer mit dem polnisch klingenden Namen war allerdings weder in Polen noch in Frankreich zur Welt gekommen. Dembicki wurde 1913 in Dortmund-Marten im deutschen Kohlerevier geboren, er stammte von der ersten Generation polnisch sprechender Migranten im deutschen Ruhrgebiet ab. Nach dem Ersten Weltkrieg zog Dembicki mit seiner Familie nach Frankreich, heuerte bereits im Alter von 13 Jahren auf einer Zeche an und war bis zur Rente 1968 in einer solchen in Lens angestellt. Im Alter betrieb er eine Tabakbar, die Vorverkaufsstelle für Tickets bei Matches und Treffpunkt des Fanklubs von „Racing“ war und „Sang-et–or“ nach den Vereinsfarben hieß. Reminiszenzen an den Tabakladen des Schalker Stars Ernst Kuzorra, der dann an „Stan“ Libuda überging, sind naheliegend.