Aus dem „Pütt“ in die Profiliga: Polen und Masuren im Ruhrgebietsfußball
Die „Ruhrpolen“
Die Arbeitsmigration aus den polnischsprachigen Provinzen des Deutschen Reiches hatte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet vor dem Ersten Weltkrieg zum Entstehen einer polnischsprachigen Minderheit von geschätzt ca. 300.000-400.000 Menschen geführt. Dazu kamen noch einmal etwa halb so viele Migranten aus Ostpreußen, insbesondere den Masuren, deren Wanderungszentrum Gelsenkirchen war und die häufig mit den „Polen“ verwechselt wurden: Die Masuren sprachen einen altpolnischen Dialekt, waren aber im Gegensatz zu den „Polen“ evangelisch und traditionell preußenfreundlich eingestellt und sonderten sich bewusst von den übrigen polnischsprachigen Migranten im Ruhrgebiet ab. Von der zeitgenössischen Mehrheitsbevölkerung wurden die Masuren dennoch mit den „polnischen“ Zuwanderern verwechselt und unterlagen denselben Diskriminierungserfahrungen. Auch in der Forschung lässt sich die Unterscheidung häufig nicht bestimmen und lassen sich die unterschiedlichen Ethnien nicht klar identifizieren.
Die Ruhrpolen, die überwiegend im rheinisch-westfälischen Bergbau beschäftigt waren, organisierten bald zur Pflege der heimatlichen Kultur und Sprache ihre eigenen Zivilgesellschaften in einem weit differenzierten Vereinswesen: Frauenvereine, Jugendvereine und Turnvereine (die sogenannten Sokołvereine), in denen sich insbesondere die männlichen polnischen Zuwanderer im Geiste des polnischen Nationalismus vereinten.
Weimarer Republik: Der Aufstieg des Fußballsports
Nach dem Ersten Krieg schrumpfte die polnische Minderheit im Ruhrgebiet durch Abwanderung in den wieder errichteten polnischen Staat und weitere Abwanderungen nach Frankreich, Belgien und in die Niederlande auf geschätzt 150.000 Menschen, also auf unter 40% ihres ursprünglichen Umfangs. Hatte es vor 1914 durchaus separatistische, nationalpolnische Tendenzen in der Minderheit gegeben, samt eines blühenden Vereinswesens, so war für die Verbliebenen jetzt die Assimilation eine rationale Wahl für die Zukunft – und die Karriere im Fußball, als Weg aus dem „Pütt“ oder heraus aus einer anderen körperlich schweren und gesundheitsschädlichen Arbeit. Eine Option, die attraktiv war.
Während zuvor – im Gegensatz zu einer lange tradierten sozialromantischen Legende – der Fußball in seinen Anfängen in Deutschland kein Arbeitersport war, sondern ein Feld, in dem Angestellte und bürgerliche Berufe dominierten, änderte sich dies im Ruhrgebiet nach dem Ersten Weltkrieg: Der Fußballsport hatte durch seine Bedeutung als Militärsport während des Krieges eine große Verbreitung unter den Soldaten gefunden, die auch nach der Demobilisierung an dem Kampfsport festhielten. Und jetzt gewannen in der Zuwanderungsgesellschaft des Reviers die multiethnischen und proletarischen Dimensionen des Fußballsports an Bedeutung. Gerade in der unmittelbaren Nähe zu den großen Zechen entstanden Mannschaften mit überwiegend proletarischen Mitgliedern und proletarischem Anhang. Der Fußballverein Westfalia Schalke (später FC Schalke 04) wurde durch die Nähe zur Zeche Consolidation, mit welcher der Klub personell und materiell eng verbunden war, zum Prototyp eines Ruhrgebietsvereins, der die soziale Wirklichkeit der Einwanderergesellschaft spiegelte. Andere Vereine, die zu den klassischen Klubs des Ruhrgebiets zählen, wie die Spielvereinigung Herten oder Hamborn 07, erlebten jetzt als Vereine aus den Zechenkolonien ihren Aufstieg. Polnische bzw. masurische Namen – das lässt sich in dieser Zeit nicht mehr glaubwürdig trennen – sind nun gang und gäbe in den Vereinen des Reviers.
In der Gauligasaison 1937/38 spielten 15 Vereine aus dem Ruhrgebiet um die Gaumeisterschaft, dabei setzte jeder Verein mindestens einmal einen Spieler mit polnischer Namenswurzel ein: Rodzinski, Pawlowski, Sobczak, Lukasiewicz, Tomaszik, Piontek … Während der Gesamtsaison werden 68 Spieler dieser Kategorie erwähnt. Neben den Spielern fanden sich nun vielfach auch Menschen mit polnischen Namen in verschiedensten Funktionen bei den Vereinen des Reviers. Wie z. B. beim Traditionsverein Rot-Weiß Essen, dem seit 1919 zahlreiche Mitglieder mit polnischen Namen beitraten – auch als Funktionsträger bzw. als Angestellte. Bis 1939 stellten Menschen mit polnischen Namenswurzeln ca. 10% der Mitgliedschaft bei Rot-Weiß Essen. Gleichzeitig machten sich aber mitunter auch Namensänderungen als ein deutliches Zeichen für die Assimilationstendenzen der im rheinisch-westfälischen Ruhrrevier verbliebenen Ruhrpolen und ihrer Nachfahren bemerkbar: Seit 1931 wirkte für Rot-Weiß Essen der Platzwart Hermann Greszick, der seinen Namen 1932 in Kress änderte. Andere Spieler änderten ihre Namen von Regelski zu Reckmann, von Czerwinski zu Rothardt und von Zembrzyki zu Zeidler … Auch im sozialistischen Arbeitersport des Ruhrgebiets fanden sich Mitglieder mit polnischen Namen, wie z. B. im Essener Arbeiter-Turn- und Sportverein Schonnebeck durchgehend im Vorstand. Gerade der höherklassige Fußball im Revier wurde jetzt stark von Spielern mit einer polnischen Migrationsbiografie geprägt. Auch die zeitgenössische deutsche Fußballnationalmannschaft führte mit Szepan, Kuzorra, Gellesch, Urban, Kobierski, Zielinski und Rodzinski solche Spieler im Tableau.
Modellfall Schalke: Spiegel der Migrationsgeschichte des Reviers
Mit dem Blick auf den FC Schalke 04, dem Gelsenkirchener Prototypen des „Polacken- und Proletenklubs“, dem die ersten vier der zuvor genannten Nationalspieler angehörten, wird die Komplexität und Unübersichtlichkeit, zu der die Einwanderergesellschaft im Revier sich inzwischen entwickelt hatte, besonders deutlich: Zwischen 1934 und 1942 gewann Schalke sechsmal die deutsche Meisterschaft. Die Mannschaft war gespickt mit Spielern, die polnisch klingende Namen trugen, am bekanntesten die Nationalspieler Ernst Kuzorra und Fritz Szepan. Als Schalke 1934 die Meisterschaft zum ersten Mal gewann und vor der Kamera mit Hitlergruß posierte, höhnte die polnische Presse „Polen Deutsche Fußballmeister“ – und die Vereinsführung beeilte sich, das Gegenteil zu beweisen, in dem sie darauf hinwies, die Spieler seien keine „Emigranten“ und schon die Eltern in Deutschland geboren. Die Eltern der Schalker Spieler stammten indes in der Mehrheit aus dem südlichen Ostpreußen, gehörten also per se nicht zu den polnischen Zuwanderern, sondern zum evangelischen, preußentreuen Kreis der Masuren. Zwischen 1920 und 1940 sind 30 Spieler der Schalker Mannschaft als Masuren zu identifizieren, drei noch in Masuren geboren. Die Gelsenkirchener Meistermannschaft spiegelte so die Migrationsgeschichte des Reviers und den sozialen Hintergrund des masurischen Wanderungszentrums Gelsenkirchen. Spieler mit polnischer oder masurischer Familienbiographie bürgten auf diese Weise in der Zeit des Dritten Reiches für die Spielstärke des Ruhrgebietsfußballs, besonders Schalkes, aber auch der deutschen Nationalmannschaft. Die nationalsozialistische „Volkstumsforschung“, die antipolnische, rassistische und biologistische Forschung betrieb, löste dieses Dilemma dadurch, dass ihre Vertreter im Revier nur noch Masuren vorfanden und diese in ihrer Kultur und Mentalität als „deutsch“ erklärten. Sie sahen hier bereits Anzeichen für die „Umvolkung“ bzw. Eindeutschung der „minderwertigen“, fremden Zuwanderer. Die masurischen Schalker Stars Kuzorra und Szepan ließen sich dann auch vor den Propagandakarren des Regimes spannen und traten in die NSDAP ein. Szepan profitierte von der „Arisierung“ und übernahm das jüdische Kaufhaus Julius Rhode am Schalker Markt.
Nachkriegszeit: Die dritte Generation
Der Zivilisationsbruch zwischen 1933 und 1945 führte nach dem Zweiten Weltkrieg lange zur Verdrängung der Erinnerung auch an die ethnisch-heterogene Sozialgeschichte des Reviers. Im Fußballsport waren die Kinder und Enkel der „polnischen“ und masurischen Migranten aber weiter präsent. Bei den Sportfreunden Katernberg in Essen hießen die Spieler der Mannschaft zwischen 1945 und 1950 Jerosch, Kosinski, Pisarski, Majewski, Mieloszyk, Radziejewski und Rynkowski. Als sich der SV Sodingen 1955 für die Endrunde der Deutschen Meisterschaft qualifizierte, hatte die Hälfte der Mannschaft polnisch bzw. masurisch klingende Namen: Sawitzki, Kropla, Lika, Nowak, Adamik, Dembski und Konopczinski. Die Geschichte der dritten Generation der Zuwanderung war immer noch im Fußball sichtbar. Der Großvater des bereits genannten Stars von Borussia Dortmund Hans Tilkowski war aus Westpreußen in den Bergbau des Reviers eingewandert, sein Vater noch Bergmann gewesen. Der Torwart wuchs in der Zechenkolonie der Zeche Kurl auf. Dem tragischen, früh verstorbenen Star des Ruhrgebietsfußballs Reinhard „Stan“ Libuda (1943-1996), der für Schalke, Dortmund und die Nationalmannschaft auflief, war selber noch die Ähnlichkeit seiner Laufbahn und seiner Herkunft mit dem Leben des großen französischen Nationalspielers Raymond Kopa(szewski) aus dem polnischen Bergarbeitermilieu in Frankreich bewusst. Aber nicht der Öffentlichkeit.
Transnationale Wirkungsgeschichte: Nordfrankreich
Im polnischen Milieu der nordfranzösischen Kohlengruben setzte sich die Geschichte des Ruhrgebiets und des Engagements von polnischen Zuwanderern im Fußball tatsächlich fort bzw. fand ihre Entsprechung. Als im Jahre 1948 der RC Lens beim Endspiel um den französischen Landespokal auf den OSC Lille traf, verlor Lens dieses Spiel 2:3, bäumte sich aber zweimal gegen die Führungstreffer des Gegners auf. Beide Tore für Lens erzielte „Stanis“ Stefan Dembicki. Der äußerst beliebte Stürmer mit dem polnisch klingenden Namen war allerdings weder in Polen noch in Frankreich zur Welt gekommen. Dembicki wurde 1913 in Dortmund-Marten im deutschen Kohlerevier geboren, er stammte von der ersten Generation polnisch sprechender Migranten im deutschen Ruhrgebiet ab. Nach dem Ersten Weltkrieg zog Dembicki mit seiner Familie nach Frankreich, heuerte bereits im Alter von 13 Jahren auf einer Zeche an und war bis zur Rente 1968 in einer solchen in Lens angestellt. Im Alter betrieb er eine Tabakbar, die Vorverkaufsstelle für Tickets bei Matches und Treffpunkt des Fanklubs von „Racing“ war und „Sang-et–or“ nach den Vereinsfarben hieß. Reminiszenzen an den Tabakladen des Schalker Stars Ernst Kuzorra, der dann an „Stan“ Libuda überging, sind naheliegend.
Fußballerinnen mit masurischer bzw. polnischer Migrationsbiografie
Auch im Ruhrgebiet entwickelte sich schon in den fünfziger Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg – trotz des Verbotes durch den Deutschen Fußball-Bund (DFB) – Frauenfußballmannschaften, die die Spielerinnenbasis für eine inoffizielle Nationalmannschaft bildeten. Zwei wichtige Persönlichkeiten unter diesen frühen Pionierinnen des Zugangs für Frauen zum Fußballsport und im Kampf gegen die Diskriminierung durch den DFB, die bis 1970 andauerte, waren Brunhilde Zawatzky von Fortuna Dortmund und Lore Karlowski von Kickers Essen. Beide Frauen stammten aus Familien mit einer Zuwandererbiografie. Der Vater von Lore Karlowski hatte eine masurische Familienbiografie und arbeitete als Bergmann auf der Zeche Nordstern. Als Sechzehnjährige schrieb sie Fußballgeschichte, als sie beim ersten Länder-Spiel einer inoffiziellen deutschen Fußballnationalmannschaft der Frauen am 23. September 1956 im Essener Mathias Stinnes Stadion vor 18.000 Zuschauern beim 2:1 gegen Holland auflief.
Zeit der Profis: Aussiedler und „Legionäre“
Nach der Einführung der Bundesliga und des Professionalismus im deutschen Fußball seit der Saison 1963/64 wurde der deutsche Markt auch für polnische Spieler attraktiv. Der erste Pole, der bei einem deutschen Klub im Revier spielte, war Waldemar Piotr Słomiany, der zwischen 1967-1970 für Schalke spielte und aus dem oberschlesischen Bergbaugebiet von Górnik Zabrze in den „Pott“ wechselte. Von einem Klub, der seine bergmännische Herkunft stolz im Namen trägt.
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90 ist die Nähe zwischen dem deutschen und dem polnischen Fußball noch größer geworden, spätestens mit der Europameisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine rückte diese enge Verknüpfung in das Bewusstsein in die breite Öffentlichkeit: Beim deutschen Meister der Jahre 2011 und 2012, Borussia Dortmund, spielte das polnische Trio Łukasz Piszczek, Jakub Błaszczykowski und Robert Lewandowski eine überragende Rolle. Die wohlwollende Bezeichnung „Polonia Dortmund“ in Polen für den Klub schließt dabei an die beschriebenen großen Zeiten des Ruhrgebietsklubs Schalke 04 mit seinen vielen Spielern aus dem Bergarbeitermilieu mit polnischen und masurischen Namen an. Im Frühjahr 2014 waren 23 polnische Spieler in den drei Profiligen des deutschen Fußballs unter Vertrag. Spieler aus dem Milieu der Aussiedler aus Polen, wie Miroslav Klose und Lukas Podolski, beide noch in Polen geboren, waren im Übrigen unter den Leistungsträgern der deutschen Nationalmannschaft während der erfolgreichen Weltmeisterschaft in Brasilien 2014.
Und das Spiel geht weiter. Nicht nur angesichts von aktuell zwei Millionen Deutschen mit polnischen Familiengeschichten bleibt die Hoffnung, dass der Fußball eine weitere Brücke zwischen den Nachbarn Deutschland und Polen schlagen wird.
Diethelm Blecking, August 2019
Literatur:
Blecking, Diethelm, Von Willimowski zu Lewandowski: Die Rolle polnischer Spieler im deutschen Elitefußball, in: Dossier, Bundesliga Spielfeld der Gesellschaft, Bundesanstalt für politische Bildung 2014 (http://www.bpb.de/gesellschaft/medien-und-sport/bundesliga/192009/polnische-spieler-im-deutschen-elitefussball).
Blecking, Diethelm, Die Nummer 10 mit Migrationshintergrund, Fußball und Zuwanderung im Ruhrgebiet, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1-3/2019, S. 24-29 (http://www.bpb.de/apuz/283266/fussball-und-zuwanderung-im-ruhrgebiet).
Huhn, Daniel/ Metzger, Stefan, Eingewandert, ausgewandert und weitergespielt, in: Dietmar Osses (Hg.), Von Kuzorra bis Özil. Die Geschichte von Fussball und Migration im Ruhrgebiet, Essen 2015, S. 49-57.
Lenz, Britta, Vereint im Verein? Städtische Freizeitkultur und die Integration von polnischen und masurischen Zuwanderern im Ruhrgebiet zwischen 1900 und 1939, in: Archiv für Sozialgeschichte 2006, S. 183-203.
Lenz, Britta, „Gebürtige Polen“ und „deutsche Jungen“, Polnischsprachige Zuwanderer im Ruhrgebietsfußball im Spiegel von deutscher und polnischer Presse der Zwischenkriegszeit, in: Diethelm Blecking et al. (Hg.), Vom Konflikt zur Konkurrenz: Deutsch-polnisch-ukrainische Fußballgeschichte, Göttingen 2014, S. 100-113.
Mandic, Vanja, Lore Barnhusen, geborene Karlowski, Nationalspielerin trotz Verbots, in: Dietmar Osses (Hg.), Von Kuzorra bis Özil. Die Geschichte von Fußball und Migration im Ruhrgebiet, Essen 2015, S. 154-155.